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Berufliche Bildung in den Hilfen zur Erziehung lohnt sich
Außerbetriebliche Ausbildungsverhältnisse für junge Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe
Beteiligte:
Arbeitspapier der Verbände
Problemaufriss
Der Übergang von der Schule in eine Ausbildung und/oder den Beruf ist eine der wichtigsten Veränderungen im Leben von jungen Menschen – und gleichzeitig eine Phase, die aber dann besonders krisenanfällig ist, wenn es nicht gelingt, beruflich und finanziell auf eigenen Beinen zu stehen. Junge Menschen, die in Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung (§ 27ff. SGB VIII) aufwachsen, stehen in dieser Phase besonders unter Druck: Sie haben einen spezifischen Förderbedarf aufgrund sozialer und/oder individueller Benachteiligungen und müssen gleichzeitig den Übergang ins Erwachsenenleben ohne elterliche Unterstützung und ohne ein tragfähiges familiäres Netz bewältigen.
Zum Leistungsspektrum der Hilfen zur Erziehung zählen auch die Leistungen der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche (§ 35a Abs. 3 SGB VIII) sowie die Hilfen für junge Volljährige (§ 41 Abs. 2). Kennzeichnend für die Förder- und Unterstützungsangebote nach SGB VIII ist, dass sie grundsätzlich auf dem Prinzip der Freiwilligkeit basieren, es gilt das Wunsch- und Wahlrecht des jungen Menschen beziehungsweise der Personensorgeberechtigten. Maßnahmen werden mit den Betroffenen im Hilfeplanverfahren vereinbart. Neben diesen individualpädagogischen Ansätzen unterliegen auch die Rahmenbedingungen wie Qualifikation des Personals und Stellenschlüssel den hohen Standards der Jugendhilfe. Die Leistungserbringer sehen sich vermehrt der Diskussion ausgesetzt, dass ihre Hilfen zur Erziehung nach § 27 in Verbindung mit §§ 34, 35a und 41 SGB VIII in Kombination mit § 13 Abs. 2 SGB VIII vom Kostenträger Jugendamt infrage gestellt werden. Als Grund wird unter anderem von Jugendämtern angeführt, dass vorberufliche und berufliche Bildungsmaßnahmen als primäres Handlungsfeld der Bundesagentur für Arbeit und nicht als zur Kinder- und Jugendhilfe gehörend angesehen werden. Die Bundesagentur für Arbeit dagegen erklärt, dass sie durch die Rechtsnormierung für diese Klientel keine Zuständigkeit besitze.
Praxisbeispiel I
Michel ist 17 Jahre. Diagnosen: Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) mit Bindungsstörung. Seit dem achten Lebensjahr lebt er in einer Wohngruppe der stationären Jugendhilfe und erhält Hilfen zur Erziehung. Die allgemeine Schulpflicht ist erfüllt (Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung). Beim Übergang in die berufliche Bildung weist das Jugendamt seinen Antrag auf Übernahme der Ausbildungskosten zurück und begründet dies damit, dass die Agentur für Arbeit nach dem SGB III zuständig sei. Die Agentur für Arbeit begründet die Absage der Kostenübernahme mit: „Der Bedarf von Michel ist so hoch, wir können ihn mit unseren Maßnahmen nicht fördern. Dafür ist das SGB VIII prädestiniert, da war er ja vorher!“ Bei erneuter Beantragung der Kosten weist das Jugendamt wieder ab: „Wir sind immer noch nicht verpflichtet oder zuständig.“ Michel erhält keine Unterstützung für seine berufliche Integration, die inhaltlich nicht abgeschlossene Jugendhilfemaßnahme wird mit dem 18. Lebensjahr beendet. Im Ergebnis verlässt Michel die Hilfen zur Erziehung ohne Perspektive.
Diesem Vorgehen von Jugendämtern stehen die Regelungen im neuen Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) entgegen. Es können sehr wohl im Leistungsbereich der Kinder- und Jugendhilfe nach § 1ff. SGB VIII Hilfen zur Erziehung mit gekoppelten Berufsorientierungs-, Praxisbeispiel I Michel ist 17 Jahre. Diagnosen: Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD) mit Bindungsstörung. Seit dem achten Lebensjahr lebt er in einer Wohngruppe der stationären Jugendhilfe und erhält Hilfen zur Erziehung. Die allgemeine Schulpflicht ist erfüllt (Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung). Beim Übergang in die berufliche Bildung weist das Jugendamt seinen Antrag auf Übernahme der Ausbildungskosten zurück und begründet dies damit, dass die Agentur für Arbeit nach dem SGB III zuständig sei. Die Agentur für Arbeit begründet die Absage der Kostenübernahme mit: „Der Bedarf von Michel ist so hoch, wir können ihn mit unseren Maßnahmen nicht fördern. Dafür ist das SGB VIII prädestiniert, da war er ja vorher!“ Bei erneuter Beantragung der Kosten weist das Jugendamt wieder ab: „Wir sind immer noch nicht verpflichtet oder zuständig.“ Michel erhält keine Unterstützung für seine berufliche Integration, die inhaltlich nicht abgeschlossene Jugendhilfemaßnahme wird mit dem 18. Lebensjahr beendet. Im Ergebnis verlässt Michel die Hilfen zur Erziehung ohne Perspektive. 2 Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen gewährt und durchgeführt werden. Art und Umfang dieser Hilfen richten sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall, und diese ist rechtlich im § 27 Abs. 3 SGB VIII geregelt. Wir verweisen an dieser Stelle auf § 36 Abs. 3, 2 SGB VIII, der die Steuerungsverantwortung eindeutig dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe zuschreibt. Wir geben zu bedenken, dass junge Menschen mit einem hohen erzieherischen Hilfebedarf gerade in der Berufsorientierung, Qualifizierung und Berufsausbildung intensiv begleitete sozialpädagogische Unterstützungsleistungen durch geschulte Ausbilder*innen und pädagogische Fachkräfte in einem konsistenten Hilfesetting benötigen, um berufliche Grundqualifikationen zu erwerben oder möglichst zu einem regulären Ausbildungsabschluss zu gelangen.
Praxisbeispiel II
Paul, 17,5 Jahre alt, lebt in einer heilpädagogischen Wohngruppe nach SGB VIII, hat erfolgreich eine Berufsvorbereitung (SGB III, BVB-Reha) absolviert. Er beginnt eine Ausbildung zum Maler/Lackierer (SGB III, Reha-Status). Zum Ende des ersten Lehrjahres bricht er die Ausbildung ab. Die Agentur für Arbeit sieht eine mangelnde Mitwirkung und keine Aussicht auf Erfolg. Es erfolgt keine weitere Überprüfung beruflicher Entwicklungsmöglichkeiten, wie beispielsweise die Teilnahme an Maßnahmen der Jugendberufshilfe mit besonderer pädagogischer Unterstützung. In der Folge wurden die Hilfen zur Erziehung durch das Jugendamt und den jungen Menschen beendet, und es folgten die Rückkehr ins Elternhaus, spätere Obdachlosigkeit und Bezug von ALG II. Einzige Option ist die Arbeit in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM).
Praxisbeispiel III
Nico, 18 Jahre. Kein Schulbesuch seit drei Jahren. Sein zugewiesenes Geschlecht ist weiblich. Er lebt in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung, hat mehrere Aufenthalte in der Psychiatrie hinter sich, ist Opfer einer Vergewaltigung. Eine Teilnahme an Gruppenangeboten ist nur begrenzt möglich, er benötigt Einzelunterricht. Es müsste eine Absprache und Abstimmung zwischen der Jugendhilfe und der Arbeitsagentur über die weiteren notwendigen Unterstützungsmöglichkeiten geben, wenn Nico eine Ausbildung machen will und dabei sozialpädagogische Unterstützung bräuchte. Die Arbeitsagentur ist aber in der Regel bei der Hilfeplanung nicht mit dabei. Hat Nico einen Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (berufliche Reha)? Dann läge die Zuständigkeit bei der Arbeitsagentur. Hat Nico jedoch keinen Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, dann müsste geklärt werden, ob es andere passende unterstützende Leistungen der Arbeitsagentur oder ergänzende erzieherische Unterstützung zum Beispiel im Wohnen gibt. Existiert ein Angebot der Jugendberufshilfe? Wie findet man ein für ihn passendes Angebot oder eine Ausbildung? Diese Fragen müssten gemeinsam mit allen Kostenträgern geklärt werden. Problem: Jugendhilfe beteiligt die berufliche Bildung nach § 13 SGB VIII / § 16 SGB II in Verbindung mit § 45 SGB III nicht an der Hilfeplanung. Es finden somit zwei separate Planungsprozesse ohne gemeinsame Zielsetzung statt.
Die unterzeichnenden Fachverbände machen sich deshalb dafür stark, dass Kommunen und Sozialleistungsträger insbesondere der Rechtskreise SGB II, III und VIII die berufliche Qualifizierung in Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung nach § 27 SGB VIII als einen bedarfsgerechten Baustein im Gesamtsystem der Jugendberufshilfe anerkennen und finanzieren.
Es sollte in der gesellschaftlichen Verantwortung für junge bildungsferne Menschen liegen, die Teilhabechancen von Kindern und Jugendlichen durch verlässliche (Berufs-)Bildungsangebote dauerhaft zu verbessern. Auch mit Blick auf potenzielle Fach- und Arbeitskräfte dürfen junge Menschen nicht verloren gehen.
Wir fordern, dass die öffentlichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe diesen Auftrag annehmen und jungen Menschen zur Erhöhung vonTeilhabechancen weiterhin Zugang zu diesen spezialisierten Angeboten der beruflichen Bildung ermöglichen.
Handlungsbedarf und Gelingensfaktoren für den Übergang Schule – Beruf
• Einen Anspruch auf Ausbildung gesetzlich verankern – dieser Anspruch fehlt im Gegensatz zum Rechtsanspruch auf ein bedarfsgerechtes Betreuungsangebot in der Kindertagespflege oder einer Kindertagesstätte oder zu dem Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung.
• Die Leistungsgewährung aus einer Hand, die nicht nach Sozialgesetzbüchern getrennt betrachtet wird. Nichtzuständigkeitsprüfungen sind die Regel, und es braucht die Verfahrensanweisung, dass es um eine einheitliche Zuständigkeitsprüfung geht. Das Haftungsrisiko für gezahlte Leistungen, falls ein anderer Rechtskreis zuständig ist, ist groß und verhindert Leistungen. Es braucht die Umsetzung bestehender Verfahrensvorschriften und weniger Rechtsänderungen.
• Ausbildungs- und Beschäftigungsmaßnahmen im Sinne des § 13 Absatz 2 im Kontext einer Hilfe zur Erziehung müssen gemäß § 27 (3) SGB VIII bei nachgewiesenem Bedarf verbindlich gewährt werden. Öffentliche Träger der Kinder- und Jugendhilfe sind verpflichtet, diesen Auftrag anzunehmen und zur Erhöhung von Teilhabechancen junger Menschen weiterhin Zugang zu diesen spezialisierten Angeboten der beruflichen Bildung zu ermöglichen.
• Junge Menschen haben einen Anspruch auf eine bedarfsgerecht ausgebaute soziale Infrastruktur, die sie am Übergang von der Schule in Ausbildung und Arbeitsleben begleitet, unterstützt und fördert – niedrigschwellig und lebensweltorientiert. Im Sinne eines Übergangsmanagements sind alle notwendigen Hilfen so lange zu gewähren, wie Unterstützungsbedarf besteht. Die Angebote der Jugendsozialarbeit sind Teil dieser Infrastruktur und als objektive Rechtsverpflichtung vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe bedarfsgerecht vorzuhalten. Sie sind deshalb neben der Jugendarbeit als regelhafter Bestandteil der Jugendhilfeplanung in § 79 SGB VIII zu verankern.
• Die Zuständigkeit eines Kostenträgers kann nicht allein wegen Nichtmitwirkung beendet werden. Regelmäßige Unterstützungs- und Gesprächsgebote müssen weiter erfolgen, auch wenn diese regelmäßig nicht wahrgenommen werden. Eine Beendigung der Zuständigkeit wegen nicht mehr vorliegenden Unterstützungs- beziehungsweise Hilfebedarfs muss nachprüfbar begründet werden. Kriterien könnten eine feste Arbeitsstelle, feste Wohnmöglichkeit, gesundheitliche Versorgung, soziale Unterstützung, finanzielle Unabhängigkeit sein.
• Verbessertes Schnittstellenmanagement zwischen den Rechtskreisen: Trotz des bestehenden Kooperationsgebots für die Zusammenarbeit der verschiedenen Leistungsträger aus SGB II, III und VIII beschränkt sich die Zusammenarbeit oft darauf, dass einzelne Maßnahmen unterschiedlicher Träger aneinandergereiht werden, ohne dass es zu einem gemeinsamen, auf die individuellen Bedarfe abgestimmten Förderkonzept kommt. Genau dies wäre aber notwendig, um passgenaue und wirkungsvolle Hilfen für junge Menschen zu leisten. Mit der Einrichtung von Jugendberufsagenturen wurde ein Schritt in diese Richtung unternommen, allerdings fehlen hier nach Auffassung der Fachverbände die Expertise und Federführung durch die öffentliche Jugendhilfe.
• Umsetzung einer bundeseinheitlichen Handhabung der öffentlichen Jugendhilfeträger bei den Regelungen zur Mindestausbildungsvergütung. Seit dem 01.01.2020 haben Auszubildende, die ein Ausbildungsverhältnis beginnen, gemäß § 17 Berufsbildungsmodernisierungsgesetz (BBiMoG) Anspruch auf eine Mindestausbildungsvergütung. Dies gilt auch für Auszubildende, die im Rahmen der Hilfen zur Erziehung gemäß § 27 Absatz 3 in Jugendhilfeeinrichtungen betreut werden und eine überbetriebliche Ausbildung gemäß BBiG/HWO absolvieren. Diese gesetzliche Neuerung ist (berufs)pädagogisch durchaus sinnvoll, denn sie wertet die Ausbildung auf, stellt sie den regulären Ausbildungen gleich und kann die Akzeptanz sowie die Motivation der betroffenen jungen Menschen maßgeblich erhöhen und zudem dem Fachkräftemangel entgegenwirken.
Gemeinsam für einen Übergang von der Schule in eine Berufsorientierung als eine wichtige Veränderung im Leben von jungen Menschen!
Tragen wir dazu bei, dass dieser gelingen kann.
Mai 2023
- Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit (BAG EJSA), Christine Lohn, lohn@bagejsa.de
- Bundesverband Caritas Kinder- und Jugendhilfe e. V. (BVkE), Stephan Hiller, stephan.hiller@caritas.de
- Evangelischer Erziehungsverband e. V. (EREV), Dr. Björn Hagen, b.hagen@erev.de
- Fachverband für Arbeit und Integration (EFAS), Katrin Hogh, khogh@efas-web.de