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06.06.2013
Bericht zur Veranstaltung

Forschung zum Übergang junger Menschen aus der Erziehungshilfe ins Erwachsenenleben

Tagungsbericht der internationalen und nationalen Expertenworkshops im Projekt „Was kommt nach der stationären Erziehungshilfe? – Gelungene Unterstützungsmodelle für Care Leaver“ (IGfH, Universität Hildesheim)

Die Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH e.V.) und die Universität Hildesheim widmen sich in einem zweijährigen Projekt der Frage, wie Jugendliche und junge Erwachsene, die in stationären Erziehungshilfen leben, bei ihrem Übergang ins Erwachsenenleben unterstützt werden können. Ziel des Projekts ist, einen Überblick über bereits existierende Modelle guter Praxis im In- und Ausland zu gewinnen und einen Transfer in die Erziehungshilfen in Deutschland anzuregen. Es wurden dafür bundesweit Expert_inneninterviews zur Übergangsbegleitung in deutschen Einrichtungen der Erziehungshilfen geführt und ausgewertet. Außerdem wurden Recherchen und Interviews zur Praxis der Übergangsbegleitung in anderen Ländern durchgeführt und verglichen. Im Rahmen dieser Arbeit sind national und international zahlreiche Kontakte zu Praxisinstitutionen, Fachverbänden, Behörden, Lobbyorganisationen und Wissenschaft entstanden. Aus dem Kreis dieser Kontakte hat das Projektteam Gäste zu einem nationalen und internationalen Workshop eingeladen, um unterschiedliche Praxismodelle, aber auch zentrale Problemlagen der Übergangsbegleitung zu diskutieren.

Am internationalen Expertenworkshop im Februar nahmen insgesamt 25 Teilnehmer_innen aus 12 Ländern teil (England, Finnland, Irland, Israel, Kroatien, den Niederlanden, Norwegen, Rumänien, Schweiz, Ungarn, USA und Deutschland). Es wurde sehr angeregt über Problemlagen von Care Leavers sowie über Erfahrungen und Modelle der Übergangsbegleitung diskutiert. Dabei zeigte sich, dass im internationalen Vergleich die Übergangsbegleitung von Care Leavers in einigen Ländern programmatisch und gesetzlich in dem bestehenden Sozialleistungssystem verankert ist, die Care Leavers somit als eigenständige Gruppe mit einem gesonderten Unterstützungsbedarf wahrgenommen werden.

Trotz national sehr unterschiedlicher Ausgangssituationen für Care Leavers in den verschiedenen Ländern konnte sehr schnell eine gemeinsame Verstehensbasis geschaffen werden. Dies hängt auch damit zusammen, dass die betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen in allen Länder vor den gleichen oder ähnlichen Herausforderungen stehen. Alle werden als benachteiligte Gruppe gesehen und vergleichbar der Situation in Deutschland sind viele sehr viel früher als die meisten ihrer Altersgenossen gezwungen auf eigenen Beinen zu stehen.

Am ersten Tag des internationalen Workshops wurden die Aktivitäten und Projekte in den verschiedenen Ländern kurz portraitiert. Am zweiten Tag hat das deutsche Projektteam die Ausgangssituation und Probleme in Deutschland dargestellt. Anschließend ließ sich das deutsche Projektteam von den internationalen Gästen in einzelnen Themengruppen zur Weiterentwicklung der deutschen Übergangspraxis beraten. Exemplarisch illustrieren folgende Beispiele aus einer Fülle von Praxismodellen und gesetzlich verankerten Hilfeansprüchen, dass es vielfältige Anregungen für die deutsche Übergangspraxis aus stationären Erziehungshilfen geben kann:

  • In Irland und Großbritannien gibt es große Lobbyorganisationen speziell für Care Leavers. Sie setzen sich für die Interessen der Care Leavers ein, stellen Informationen zur Verfügung, bieten Beratung an und führen auch eigene Kampagnen durch. Entsprechend ist die Zielgruppe auch öffentlich viel präsenter.
  • Auffallend ist der höhere Grad der Selbstorganisation von Care Leavers in einigen Ländern (siehe auch unter Internationales in diesem Heft). Großbritannien und Irland setzen dabei insbesondere auf die Qualifizierung der Care Leavers, damit sie ihre Vernetzung und Interessenvertretung selbst organisieren können.
  • In anderen Ländern wie z. B. Norwegen wird jugendtypisches Verhalten bei der Hilfegewährung stärker berücksichtigt. Grundsätzlich besteht hier ein Hilfeanspruch bis zum 23. Lebensjahr. Diese Praxis trägt der längeren Jugendphase Rechnung und interpretiert Brüche und Neustarts im Entwicklungsverlauf sowie auch Konflikte innerhalb der Hilfe nicht als mangelnde Mitwirkung. Junge Erwachsene müssen bei einer früheren Beendigung ein Jahr nach Hilfeende kontaktiert und nach etwaigem Hilfebedarf gefragt werden. In Großbritannien müssen Care Leavers zwischen ihrem 18. und 21. Lebensjahr sogar einmal pro Jahr kontaktiert und nach eventuellen Hilfeanliegen gefragt werden.
  • Einzelbeispiele aus den vertretenen Ländern tragen dem Wunsch nach Beziehungskontinuität Rechnung sowie der hohen Bedeutung eines verlässlichen Ortes, an den Care Leavers zurückkehren können: So werden in einer Einrichtung in der Schweiz über den Hilfeprozess hinaus verfügbare Paten (person of reference) gesucht oder z. B. in Israel und Kroatien vertraute Orte für die jungen Erwachsenen geschaffen, an die sie immer kommen können, z.B. um andere zu treffen, den PC zu nutzen, Wäsche zu waschen oder gemeinsam Kaffee zu trinken oder zu essen – meistens verknüpft mit niedrigschwelligen Beratungsangeboten.

Grundsätzlich bleibt aber festzuhalten, dass der Übergang aus stationären Erziehungshilfen in ein selbstständiges Leben – meist ohne familiäre Unterstützung – auch unter sehr unterschiedlichen Voraussetzungen in den einzelnen Ländern ein komplexer Prozess ist. Diese Neuordnung der Lebenssituation benötigt eine differenzierte Infrastruktur für die verschiedensten Bedürfnisse von jungen Menschen in Care. Seitens der Übergangssysteme ist anzuerkennen, dass der Übergang nicht mit einem Ende der Hilfe gleichzusetzen ist. Der Übergang in eine neue Lebenssituation vollzieht sich an vielen Nahtstellen, die gut aufeinander bezogen sein müssen.

Basierend auf diesen Erkenntnissen wurde im April der ebenfalls zweitägige nationale Workshop in Hildesheim durchgeführt. Eingeladen waren Praxisvertreter aus dem Interviewsample, ergänzt um Gäste, die an unterschiedlichen Schnittstellen mit dem Thema des Leaving Care zu tun haben, so z. B. im Rahmen der Arbeitsförderung, Wohnungslosenhilfe, Sozial- und Jugendpolitik. Der Begriff der Care Leavers hatte sich in der Gruppe schnell als Arbeitsbegriff etabliert und eröffnete den Blick auf unterschiedlichste nationale Erfahrungen mit der Übergangsbegleitung. Allerdings wurde kritisch bemerkt, dass die Identifikation mit den Angeboten für junge Erwachsene durchaus schwierig sein kann, wenn diese mit „Jugendhilfe“ oder „Care“ etikettiert sind.

Der Einstieg mit einem Vortrag von Prof. Dr. Dirk Nüsken (EFH Bochum) zur Situation in und nach stationären Erziehungshilfen bot einen guten Auftakt für die Gäste, um eigene Erfahrungen im Plenum zu diskutieren. Es blieb festzuhalten, dass junge Menschen aus stationären Erziehungshilfen am Übergang ins Erwachsenenleben häufig mit komplexen Armutslagen konfrontiert sind. Das betrifft nicht nur wirtschaftliche Armut, sondern im Wesentlichen auch Beziehungs- und Bildungsarmut. Es gibt zudem regional große Unterschiede in der Bewilligungspraxis von Erziehungshilfen, aber auch in der Gestaltung der Hilfeangebote und nachgehender Unterstützung. Diese Situation stellt die einzelnen jungen Menschen vor die Herausforderung, ihre Rechte auf Hilfe sehr individuell vertreten und ggf. auch durchsetzen zu müssen.

Die Präsentationen von Britta Sievers (IGfH) und Dr. Severine Thomas (Universität Hildesheim) zu ersten nationalen Projektergebnissen sowie zur internationalen Perspektive waren Ausgangspunkt für den Austausch über best-practice Beispiele in Deutschland und eine Diskussion von Transfermöglichkeiten internationaler Modelle der Übergangsbegleitung in das deutsche Hilfesystem:

Es wurde deutlich, dass es sich als sehr hilfreich erweist, wenn nicht zu viele Übergänge parallel initiiert werden. Das Ende der stationären Erziehungshilfen sollte z. B. nicht zeitlich mit der Aufnahme einer Ausbildung zusammenfallen, weil dadurch zu viele neue Anforderungen entstehen. Ferner braucht es reversible Hilfeformen. Der Wechsel zwischen unterschiedlich intensiv begleiteten Wohn- und Lebensformen muss ermöglicht werden, d.h. auch die Rückkehr aus einer ambulant finanzierten Betreuungsform in eine stationäre, wenn sich z. B. Krisen abzeichnen.

Grundsätzlich wurde der Wechsel in andere Hilfesysteme übereinstimmend als eine schwierige Schnittstelle für junge Menschen im Anschluss an stationäre Erziehungshilfen bewertet. Dies betrifft insbesondere die finanzielle Absicherung, kann aber auch die Frage beinhalten, wo Care Leavers anschließend persönliche Ansprechpartner_innen im Hilfesystem finden können.

Kontrovers wurde die Bedeutung der Herkunftsfamilie für den Übergang eingeschätzt. Zusammenfassend lässt sich aber sagen, dass auch ohne ein Wiederanknüpfen an das Familiensystem am Ende der stationären Erziehungshilfe die Bearbeitung der biografisch relevanten Beziehungen eine wichtige Voraussetzung für einen gelingenden Übergang in ein eigenverantwortliches Erwachsenenleben ist.

Daneben zeigt sich, dass Gruppenarbeit an der Schwelle in ein selbstständiges Leben ein eher unübliches Setting in den Hilfen zur Erziehung ist. Allerdings zeichnet sich ab, dass es wichtig ist, sowohl unter peers als auch in der sozialen Lebenswelt Beziehungen zu signifikanten Bezugspersonen zu entwickeln und zu pflegen. So berichtete Benjamin Strahl (Uni Hildesheim), befasst mit dem Übergang aus der Perspektive der jungen Menschen selbst, dass z. B. für Care Leavers nicht selten die Eltern der Lebenspartner_innen zu wichtigen Akteuren in der Lebensbewältigung werden.

Kontakt:
britta.sievers@igfh.de
severine.thomas@uni-hildesheim.de

Sie finden weitere Informationen auf den Webseiten der Uni Hildesheim und der IGfH.