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Spracherwerb und Sprachstörungen
Themen:
Wenn Kinder sich nicht richtig ausdrücken können, von anderen nicht verstanden werden oder andere nicht gut verstehen, haben sie es schwer. Dadurch sind nicht nur Schwierigkeiten in der Schule vorprogrammiert, es ist auch mühsamer, unter Gleichaltrigen anerkannt zu werden und seinen eigenen Weg zu finden.
Zuwendung ist der Nährboden der Sprache
Ein Kind benötigt viel Aufmerksamkeit und Zuwendung damit es sprechen lernt. Bei Pflege- und Adoptivkindern finden sich häufig Verzögerungen in der Sprachentwicklung, die durch die schwierigen Lebenserfahrungen des Kindes und den Mangel an sicheren Bindungen verursacht wurden. Viele Pflegeeltern berichten, dass die Sprache der Kinder geradezu explodiert, wenn sie sich eingelebt haben und wohl fühlen.
Der Austausch mit anderen Menschen ist die Basis für jede Entwicklung.
Das Kind kann keine Sprache entwickeln
- ohne Zuwendung
- ohne Ansprache
- ohne Wahrnehmung
- ohne Erfahrungen
- ohne Denken
Sprache ist Beziehung. Aus dem frühen Beziehungsverhalten entwickelt sich die gesprochene Sprache. Schon der Blickkontakt und das Lächeln sind eine Form der Sprache, die schon Säuglinge ohne Worte zeigen. Die nonverbale Ebene der Kommunikation ist für Kinder bis zum fünften Lebensjahr am wichtigsten. Bis dahin orientieren sie sich vor allem an Körpersprache, Mimik und Körperausdruck und sind verwirrt, wenn Worte und Körpersprache des Gesprächspartners nicht übereinstimmen.
Spracherwerb als frühes Erfahrungslernen
Wir möchten auf ein überaus interessantes Referat von Prof. Dr. Gerd E. Schäfer hinweisen: Thesen aus kognitionswissenschaftlicher und pädagogischer Sicht
Daraus zwei kurze erklärende Auszüge:
Was bedeutet Sprechen?
Sprechen bedeutet Bilder und Szenen, die man „im Kopf“ hat, zur Sprache bringen – im wörtlichen Sinn. Man verwendet dafür Wörter, die für andere das Gleiche bedeuten. Wir müssen unter den Wörtern ungefähr das Gleiche verstehen, sonst können wir uns nicht über Sprache verständigen. Das schließt ein, dass ich das worüber ich spreche, gleichzeitig mit meinen Augen und mit den Augen derer sehe, zu denen ich spreche. D. h., wenn ich spreche muss ich über mein Erleben sprechen. Aber indem ich Wörter gebrauche, die für uns alle gelten, muss ich die allgemeine Perspektive, die Perspektive der Zuhörenden, mit aufnehmen. Ich kann meine Sprache nicht völlig privatistisch gebrauchen. Das heißt: Ich muss, während ich spreche, zwei Perspektiven berücksichtigen, nämlich meine eigene und die der Zuhörer. In den meisten Fällen bin ich mir dessen jedoch nicht bewusst.
Sprechenlernen ist deshalb ein komplexer Prozess. Zum besseren Verständnis dieser Komplexität gliedere ich den Prozess des Sprechenlernens in sechs Systeme, nämlich:
• Ein Ereignissystem,
• Ein sensorisches System,
• Ein kommunikatives System,
• Ein emotionales System,
• Ein System von Symbolen,
• Ein soziokulturelles System.Dieser komplexe Prozess muss darüber hinaus individuell so beherrscht werden, dass er gleichsam automatisch und unbewusst abläuft.
Die Sprache als emotionales System
Kinder müssen auch ein emotionales System entwickelt haben. Wir sind alle mit primären Emotionen geboren werden. Diese sind zunächst einmal ziemlich primitiv und grob.
Halbjährige Babys reagieren (schon) mit unterschiedlichen Schreiformen. Wir haben – zum Teil wenigstens – verstanden, was diese bedeuten könnten und müssen nicht mehr in jeder dieser Situationen alarmiert loslaufen, sondern können unterscheiden, jetzt ist dringender Handlungsbedarf, oder jetzt habe ich noch ein wenig Zeit, kann das Baby noch beruhigen, oder signalisieren, ich komme gleich. Ähnlich ist es mit dem Lächeln und der Freude. Unmittelbare, ungebremste Freudenausdrücke haben einer ganzen Skala von Möglichkeiten des Ausdrucks der Freude Platz gemacht. Wodurch? Dadurch, dass die Emotionen in die soziale Interaktion zwischen den intimen Beziehungspersonen und dem Baby eingebettet sind. Sie werden dadurch – auf der einen Seite – sozial eingebettet und abgestimmt. Auf der anderen Seite werden sie dadurch ausdifferenziert.
Einbetten heißt, das Kind muss die Sicherheit haben, dass jemand auf diese emotionalen Signale reagiert, und zwar adäquat reagiert. Wenn es diese Sicherheit hat, dann ist es auch in der Lage Differenzierungen in diesen Signalen vorzunehmen und differenzierte emotionale Äußerungen zu verstehen
Bevor man also sprechen kann, muss man ein derart entwickeltes emotionales System haben. Emotionen, Denken und Gedächtnis hängen eng zusammen. Es ist aus der Neurobiologie bekannt, dass nur das im Langzeitgedächtnis bleibt, was emotional codiert ist. Wir müssen zwar kein Bewusstsein unserer Emotionen haben, aber alles, was wir tun, ist gleichzeitig emotional grundiert.
Über die soziale Regulierung kommen kulturelle Muster ins Spiel, die die Kinder benutzen, um ihre Emotionen zu steuern. Ein Kind bekommt beispielsweise einen Tuchzipfel in die Hand gedrückt, damit es besser einschläft.[….] Für alle unsere Emotionen gibt es kulturelle Muster. Manche sind vielfältig ausdifferenziert, das sind vor allem Nähe, Freude und dergleichen. […. ]
Damit ich über etwas sprechen kann muss eine gewisse Balance zwischen emotionaler Beteiligung und Distanz möglich sein. Ein Kind, das voller emotionaler Erregung ist, wird in diesem Augenblick kein Wort über die Lippen kriegen. D. h. damit das Kind „Wauwau“ sagen kann, darf das Kind nicht zitternd vor einem Hund stehen und Angst haben, dass es gebissen wird. Es muss eine emotionale Regulierung haben, die einerseits positiv getönt ist und trotzdem nicht zu einer Übererregung führt, die es unmöglich machen würde, die Distanz einzunehmen, die es braucht, um die kognitive Leistung, ein Wort hervorzubringen, zu erreichen.
All diese Systeme erlernt ein Kind, das sprechen lernt, ohne dass sie ihm jemand erklärt. Es lernt dies allein durch den Gebrauch in dem Alltagszusammenhang, in dem Wörter, Sätze oder Geschichten dazu benutzt werden, sich zu verständigen. Das heißt aber auch, in einem sprachlichen Alltag, in dem wenig gesprochen, die Begriffe wenig differenziert, Ereignisse eher unkommentiert bleiben und es wenige Bereiche gibt, über die gesprochen wird, wird auch die Sprache des Sprechen lernenden Kindes sich in diesem schmalen Horizont eines sprachlichen Universums bewegen. Gerade die konventionelle-kulturelle Seite der Sprache und des Sprechens ruft Unterschiede der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit hervor und macht deutlich, dass sprachliche Bildung in einen soziokulturellen Alltag eingebettet ist und nicht auf ein paar Fördermaßnahmen eingeschränkt werden kann.