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01.03.2011
Erfahrungsbericht

«Wer hat hier eigentlich das Sagen?»

Erfahrungsbericht eines Pflegevaters zu Kontinuität und Diskontinuität in Pflegeverhältnissen im komplexen Helfersystem

Hintergrund: Ich gehe bei meinen Überlegungen von einem systemischen Ansatz aus.
Ziel: Aus der Sicht eines Pflegevaters aufzeigen, wie Pflegekinder Kontinuität wünschen und dabei oft Diskontinuität erfahren und sie auch selber produzieren.

Thesen:

  • Pädagogisch: Das Pflegekind ist hin- und hergerissen: es wünscht sich so sehr Kontinuität, erträgt sie aber kaum und zerstört sie deshalb oft selber.
  • Systemisch: Im komplexen Pflegekindersystem ist Kontinuität gar nicht möglich. Da sind zu viele Köche, die den Brei verderben. Vorsicht vor zu hohen Erwartungen.
  • Politisch: Die Entscheidungswege sind zu lang, um Kontinuität zu gewährleisten. Ein handlungsfähiges Projektmanagement wäre hilfreich.

Ich möchte meine Thesen im Folgenden kurz begründen anhand unserer konkreten Erfahrungen. Eingebettet sind diese Erfahrungen in die Situation der Schweiz und in die politischen und rechtlichen Grundlagen im Kanton Aargau. In der Schweiz ist es halt von Kanton zu Kanton verschieden.

Entstehung von Pflegeverhältnissen

Pflegeverhältnisse entstehen aus Diskontinuität. Am Anfang steht die Diskontinuität, die oft nicht umkehrbar ist. Das Herkunftssystem kann nicht wieder hergestellt werden. Oft ist Diskontinuität das prägende Muster, dass das Pflegekinder mit sich bringen. Sie fühlen sich oft mitverantwortlich für den Zusammenbruch des Herkunftssystems.

Die Eltern unserer Pflegekinder sind schwer drogenkrank. Das führte zu Vernachlässigungen und zum Wohnungsverlust. Rahel meinte dazu: „Wäre ich damals (mit 10 Jahren) nicht in die Schule gegangen und zu Hause geblieben, hätten meine Eltern den Entzug geschafft, und wir wären noch eine Familie.“

Pflegekinder schaffen oft Tatsachen, die nicht unbedingt Kontinuität ermöglichen. Das beginnt schon bei der Platzierung:

Rahel geb. 1982, also 12 jährig, bestimmt im Juli 1994, wohin sie kommen will: „Wenn ich nicht mehr zu Hause wohnen kann, dann will ich nur bei Catherine (Pflegemutter) leben.“ Im September 1994 zieht sie bei uns ein.
Die Behörden folgten hinten nach und legalisierten im Nachhinein.
Die Geschwister (Zwillinge, geb. 1989) folgen im Schlepptau im Juli 1995.

Im März 1997 kommt es nach einem Streit zwischen den Pflegeeltern und Rahel zum Abbruch des Pflegeverhältnisses. Rahel läuft weg und geht zu den Grosseltern. Die Mutter rät ihr, sie solle bei der Sozialarbeiterin mit Suizid drohen, dann müsse sie sicher nicht zurückkehren. Das macht sie dann.

Sie verbraucht in der Folge fünf Plätze in einem Jahr und bestimmt immer selber den Wegzugszeit­punkt und auch, wohin sie geht:

  • März 1997 weg von uns zu den Grosseltern
  • April 1997 weiter zur Schulfreundin
  • Juni 1997 weiter zum Freund
  • Juli 1997 weiter in neue Pflegefamilie zur Schulkollegin
  • November 1997 zurück zu uns.

Sie wollte schon im Juni wieder zu uns zurück kommen, was wir abgelehnt haben, wegen der behördlichen Diskontinuität. Ohne Behörden hätte Rahel mindestens zwei Stationen weniger gehabt. Warum, das kommt gleich.

Rahel schafft Tatsachen weit schneller als die Behörden irgendetwas zu entscheiden vermögen. Die Behörden legalisieren dauernd im Nachhinein geschaffene Tatsachen. Sie werden nie gestaltend. Die Diskontinuität ist das einzig Konstante.

Diese Diskontinuität eines (Pflege)Kindes wirkt sich auf das System der Pflegefamilie aus, die beiden Geschwister sind mitbetroffen. Der Bruder reagiert zeitgleich mit dem Abbruch bei uns mit heftigen epileptischen Anfällen.

Und nun bringt das Behördensystem die Kontinuität in der Pflegefamilie ins Wanken. Auch die Behördensysteme haben zu wenig Kontinuität.

Im Juni 1997 bekommen die Pflegekinder einen neuen Beistand, den vierten innerhalb von drei Jahren,es folgten später noch zwei andere. Soviel mal zur mangelnden Kontinuität auf Behördenseite. Der neue Beistand ist ein Onkel der Kinder. Mit der abtretenden Beiständin kommt er im Juni zu einem halbstündigen Vorstellungsgespräch. Dabei sagt er, er sähe, dass da einige Probleme bestünden, die werde er jetzt lösen. Dann hören wir nichts mehr von ihm. Im August schreibe ich ihm einen Brief und frage nach.

Am folgenden Abend ruft er an. Am nächsten Tag bekomme ich einen Brief: (Achten Sie darauf, wie oft er sich auf professionelle Fachpersonen beruft und auf Integration, also Kontinuität pocht.)

Sehr geehrter Herr Niederberger
Es ist richtig, dass ich für die Pflegekinder einen anderen Pflegeplatz suche. Die Gründe dafür liegen in den Gesprächen, welche ich mit der Lehrerin und dem Hausarzt der beiden sowie mit einer Mitarbeiterin der Jugend- und Familienberatung geführt habe. Es herrscht die Meinung vor, dass ein Kind mit der Erkrankung und der familiären Vorgeschichte wie Luca unbedingt in eine Familie integriert sein sollte. Eine therapeutische Ausbildung der Pflegeeltern wäre von Vorteil. Aus diesem Grunde bin ich auf der Suche nach einer therapeutischen Großfamilie.

Er trifft diesen Entscheid, ohne auch nur einmal mit uns darüber gesprochen zu haben. Ich schrei­be ihm darauf einen Brief, der unbeantwortet bleibt. Es kommt zu keinem Gespräch. Zweieinhalb Monate später, Ende Oktober, ruft der Beistand an und teilt uns mit, die Kinder blieben jetzt doch bei uns. Er sei zur Überzeugung gekommen, dass die Kinder bei uns am richtigen Ort seien. Wie er zu dieser Überzeugung gekommen ist, sagt er uns nicht

Er fordert nun schriftlich Kontinuität ein:

  • Er habe mit dem sozialpsychiatrischen Dienst Kontakt aufgenommen. „Denn ich denke, dass Sie vielleicht ein paar Erziehungshilfen gebrauchen könnten.“ (Die Pflegemutter ist Kindergärtnerin und Reittherapeutin, ich bin Theologe und war damals in der Jugendarbeit tätig.)
  • „Meine Schwiegereltern (das sind die Grosseltern der Pflegekinder) sind ja mit den Pflegekindern oft in die Sonntagsschule gegangen und ihnen liegt es schon am Herzen, dass die Kinder religiös erzogen werden.“ (Die leiblichen Eltern hatten uns schriftlich eine religiöse Erziehung der Kinder verboten.)
  • Abschliessend schreibt er: „Die Kinder sind da platziert, und da bleiben sie auch platziert, solange nichts Aussergewöhnliches geschieht.“

Es ist dann allerdings noch sehr, sehr viel Aussergewöhnliches passiert und die Kinder wurden nie umplatziert. Ausgewechselt wurde dann einmal mehr der Beistand. Also auch die Behörden tragen viel zur Diskontinuität bei.

Kontinuität als belastende Erfahrung für Pflegekinder

Kontinuität wird nicht per se einfach als positiv erfahren, wenn die Ansprüche an die Beziehung zu gross sind. Sie kann auch als Belastung empfunden werden und Schuldgefühle auslösen. Für einzelne Kinder mag eine Betreuung in einer Familie zu viel an emotionalen Erwartungen sein. Die Pflegefamilie wird dann als emotionale Konkurrenz zur Herkunftsfamilie interpretiert, die nur im Wege steht für die eigentlich ersehnte Kontinuität in der Familie. (Loyalitätskonflikte)

Luca hatte den Drang, alle Erfahrungen von Familie und Harmonie zu zerstören: „Ich will schon Familie, aber sicher nicht hier, sondern bei Mami und Papi. Ich will nicht, dass es mir hier gut geht.“

Da liegt für die Pflegefamilie eine grosse emotionale Herausforderung. Da bräuchte sie Unterstützung, die sie in der Regel zu spät holt, kaum bekommt oder nicht in der richtigen Form bekommt.

Das System

[diskontinuität.jpg]Ursachen der Diskontinuität

Herkunftssystem

Eine Familie bildet ein geschlossenes, vom Staat geschütztes und mit hoher Privatheit versehenes System. Die prägenden Beziehungen bleiben überschaubar und von aussen respektiert. Das kennen wir alle. Da ist Kontinuität in einem hohen Masse möglich. Wenige Personen mit hoher Präsenz verfügen unmittelbar über grosse Kompetenz des Gestaltens. Das Kind weiss, woran es ist.

Pflegebeginn

Pflegebeziehungen beginnen oft schleichend in der Verwandtschaft, Bekanntschaft oder durch an­dere Verknüpfungen, ohne dass dabei an Platzierung gedacht wird. Unsere Pflegekinder besuchten Reitstunden bei meiner Frau. Bereits vor der Platzierung bestehen also oft Beziehungen. Die prägenden Beziehungen werden zahlreicher für das Pflegekind und die Pflegeeltern.

Platzierung

Die Behörde errichtet die Beistandschaft. Die Systeme werden nun von aussen mitgestaltet. Entschieden wird dabei oft aufgrund schon bestehender Beziehungen und mit Blick auf die Finanzen. Bei uns gab es weder eine Pflegeplatzabklärung, noch eine Indikation, schon gar nicht eine Perspektivenklärung.

Pflegesystem

Im gesamten System sind zu viele Stellen involviert. Die Entscheidungsprozesse werden nicht professionell koordiniert und sind sehr langsam.
Die Pflegetochter Rahel fragte mal verzweifelt: „Wer hat hier eigentlich das Sagen? Ich komme mir vor wie ein Tier, das von rundherum analysiert und verwaltet wird.“

Forderungen

Wenn ich zum Schluss Wünsche eines Pflegevaters für die Steigerung der Kontinuität anbringen kann, dann folgende zu den eingangs erwähnten Thesen:

Pädagogisch:

Das Pflegekind ist hin- und hergerissen: es wünscht sich so sehr Kontinuität, erträgt sie aber kaum und zerstört sie deshalb oft selber.

  • Pflegekinder sollen mit realistischen Kontinuitätserwartungen konfrontiert werden.

Ihre prägende Erfahrung der Diskontinuität ist ernst zu nehmen.

Systemisch:

Im komplexen Pflegekindersystem ist Kontinuität gar nicht möglich. Da sind zu viele zu oft wechselnde KöchInnen, die den Brei verderben. Vorsicht vor zu hohen Erwartungen.

  • Die Kommunikation zwischen den Fachstellen und den Entscheidungsträgern muss verbessert werden.
  • Die Komplexität des Pflegekindsystems erfordert eine klare Koordination der Entscheidungen.

Politisch:

Die Entscheidungswege sind zu lang, um Kontinuität zu gewährleisten. Ein handlungsfähiges Projektmanagement wäre hilfreich.

  • Beistandschaften / Vormundschaften im Pflegekinderwesen sind dauerhaft zu besetzen und mit Entscheidungskompetenz auszustatten.
  • Die Entscheidungswege müssen vereinfacht werden.