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25.07.2023
Erfahrungsbericht

Abschiedsschmerz inklusiv

oder - Was ist eine PfaZ-Familie? Seit sechs Jahren sind wir eine Pflegefamilie auf Zeit (PfaZ). Ein Erfahrungsbericht von Bereitschaftspflegeeltern.

Inzwischen haben sieben kleine Menschen bei uns gelebt, ein gemeinsames Leben mit vielen Höhen und Tiefen. Jedes dieser Kinder war eine einzigartige kleine Persönlichkeit.

Wer kommt da ins Haus?

Meistens kommt das Kind aus einer akuten Krisensituation und kann nicht mehr bei seinen Eltern bleiben. Bis geklärt ist, wo es dauerhaft leben und groß werden soll, lebt es in der PfaZ-Familie. Die Perspektive wird vom Jugendamt oder dem Familiengericht entschieden. Da gibt es drei Möglichkeiten:

- Rückkehr zu den Eltern oder zu einem Elternteil

- in eine Heimeinrichtung

- oder zu einer Dauerpflegefamilie bzw. Erziehungsstelle oder SPLG.

Dieser Prozess ist oft viel zu lang für ein Kind. Ein Mädchen war 18 „achtzehn“ Monate bei uns und das ist leider keine Ausnahme.

Die Kinder bringen natürlich einen Sack voller Probleme mit. Sie haben schon viel erlebt oder leider fast noch gar nichts.

Albträume, Angst vor Gewalt und Angst vor Männern sind uns begegnet, aber auch große Sehnsucht nach Mama oder Papa, Heimweh, riesige Trauer über den Verlust, Distanzlosigkeit, keine Grenzen und kein Nein akzeptieren und natürlich Entwicklungsverzögerungen.

Wir haben Worte auf Kurdisch und auf Polnisch gelernt und fast alles wieder vergessen.

„Mamki“ heißt Schnuller auf Kurdisch.

„Maimai“ heißt nochmal anschaukeln auf Deutsch.

Einige Leute bei unserem Träger wissen inzwischen, was „honibo“ heißt, ganz einfach Honigbrot.

Einem Kind haben wir beigebracht, was Nase, Ohren und ein Sandkasten ist. Ein kleines Mädchen hat sich auf den Popo gesetzt, weil es zum ersten Mal ein Fahrrad gesehen hat. Ein Kind war unterernährt und konnte nicht aufhören zu essen. Das klingt jetzt nach großen Schwierigkeiten, aber die schönen Zeiten überwiegen deutlich. Die Kinder fangen an zu sprechen, zu singen, zu spielen und sich zu entwickeln.

Zum Ablauf

Der beste Fachberater meldet sich telefonisch und das Herz schlägt schon etwas schneller und fragt z.B.: „Hast du heute Nachmittag schon etwas vor? Wir könnten da ein Kind abholen.“ Er erzählt, was er schon über das Kind weiß, manchmal kann er direkt Unterlagen oder die gesamte Anfrage per Mail schicken.

Je nach Alter des Kindes muss dann organisiert werden, z.B. Bett aufbauen, Treppengitter, passenden Kindersitz und Kinderwagen beim Träger abholen.

Im Übergabegespräch erfahren wir dann einiges vom Jugendamt über das Kind und die Familiensituation. Die Aufregung ist auf allen Seiten groß.

Mit dem Kind zu Hause angekommen, erst mal Ruhe reinbringen. Wir müssen nicht sofort alles einräumen, wenn das Kind Sachen mitbringt. Das Kind kann sich in Ruhe alles anschauen.

Die ersten Wochen, das gegenseitige Kennenlernen, sind immer spannend.

Was das Kind braucht

Das Kind hat komplett sein bisheriges Leben verloren. Es braucht tatsächlich Ruhe und Gelassenheit, feinfühliges Erspüren seine Bedürfnisse, Zuwendung und Aufmerksamkeit. Manche Kinder schlafen unheimlich viel in den ersten Wochen.

Jedes Kind braucht ein Bindungs- und Beziehungsangebot, auch wenn klar ist, dass es nicht bleiben wird, denn das Bedürfnis nach Bindung und Nähe kann bei einem Kind nicht „auf Eis gelegt“ werden. Als überholt gilt in der Forschung zum Pflegekinderwesen, dass sich Bereitschaftspflegeeltern „bindungsneutral“ verhalten sollen, weil die Kinder sich dann leichter wieder ablösen würden. Ohne Bindung kann keine Entwicklung stattfinden.

Und die Kinder brauchen Struktur und Rituale, klare einfache Regeln und Grenzen. Außerdem brauchen die Pfaz-Kinder alles, was andere Kinder auch brauchen: matschen, spielen, singen, andere Kinder, einfach Normalität usw., Kuscheln, wenn sie es wollen.

Vielleicht brauchen sie auch Ergotherapie oder Physio. Einige Kinder haben wir beim SPZ vorgestellt.

Besuchskontakte

Besuchskontakte mit den leiblichen Eltern finden in der Regel einmal in der Woche in der Villa statt.

Unser bester Fachberater bespricht mit den Eltern vorher einige Spielregeln und ist bei mehreren Kontakten dabei. Wunderbar sind auch das Elterncafé und die Elternberatung unseres Trägers. 

Je lockerer und unverkrampfter unser Umgang mit den Eltern ist, desto leichter ist diese Situation für das Kind zu verarbeiten. Ein wertschätzender Umgang miteinander ist sowieso Pflicht.

Öffentliche Familie

Als PfaZ-Familie sind wir auch öffentliche Familie, vielleicht sogar mehr als bei einer Erziehungsstelle. Je nach Herkunftsort des Kindes sind Pflegekinderdienst und/oder ASD zuständig, manches Kind hatte eine Vormünderin. Dazu können noch eine Gutachterin, Verfahrenspfleger und das Familiengericht kommen, mit denen man zu tun hat.

Anbahnung und Nachkontakte

Wenn entschieden ist, dass das Kind zurück zu den Eltern oder in Dauerpflege geht, beginnt der schwierigste und anstrengendste Teil dieser Arbeit.

Wir müssen loslassen und versuchen, dem Kind den Übergang so sanft und schön zu machen wie es möglich ist, denn es soll ja nicht noch einen zweiten herben Bruch erleben.

Idealerweise müssen wir unsere Bindung zum Kind auf die neuen oder alten Bindungspersonen übertragen. Dabei müssen wir dem Kind den Rücken stärken, es ermutigen und versuchen, das Tempo des Kindes einzuschätzen. Die Zeit konnte für uns schon mal quälend lang sein und wir haben unzählige Kilometer verfahren.

Irgendwann gibt es dann ein schönes fröhliches Abschiedsfest und ein kleines Fotoalbum zum Mitnehmen.

Während wir diesen Text schreiben, hat die Gutachterin mitgeteilt, dass der kleine Zwerg, der seit einem Jahr bei uns lebt, zu seiner Mutter zurückkehren soll. Wir diskutieren tausend Gedanken und Ängste. Wird die junge Frau das schaffen?

Nachkontakte

Wenn ein Kind ausgezogen ist, sind auch danach Kontakte wichtig. Das Kind soll die Möglichkeit haben, nochmal zu schauen, wo es gelebt hat. Ein Beziehungsabbruch ist kein gutes Vorbild. Das Kind soll auch wissen, dass wir nicht böse sind und nicht aus der Welt sind, sondern uns freuen wenn es in seiner neuen Lebenswelt glücklich ist.

Brainstorming: unsere Motivation Warum machen wir das eigentlich?

- weil wir damit das Bungeespringen ersetzen

- weil wir nicht selbstlos sind

- weil das kein normaler Job ist, sondern wir es leben

- weil wir auch Wundertüten mögen

- damit wir weiter auf die Marienkäfer-Achterbahn dürfen

- damit wir Sandmännchen gucken (am liebsten Jan und Henry)

- weil wir ein bisschen verrückt sind

- weil es eine sinnvolle Aufgabe ist und eine Herausforderung

- weil wir gerne mit Kindern leben

- weil es unbeschreiblich ist, zu erleben, wie ein Kind aufblüht

Ute und Frank

Wenn Sie mit den Bereitschaftspflegeeltern Kontakt aufnehmen wollen, wenn Sie Kritik oder Feedback geben wollen, dann mailen Sie uns oder nutzen die Kommentarfunktion. 

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