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Aufnahme eines Kindes mit seelischer Behinderung
Im August vor 8 Jahren kreuzte die Lebensgeschichte von Sven in Gestalt von Frau Zottmann-Neumeister von der Diakonie Düsseldorf unser Leben.
Als erstes lasen wir seine Lebensgeschichte. Er war zu diesem Zeitpunkt 5 Jahre alt. Noch heute läuft mir eine Gänsehaut über. Er wurde 3 Jahre von Mutter und Großmutter auf das Grausamste misshandelt. Er kam dann über viele Monate ins Krankenhaus, da er auch noch Bluter ist; von da aus wieder in seine Herkunftsfamilie, um dann nach einem halben Jahr wieder ins Krankenhaus zu kommen. Danach kam er in eine Pflegefamilie, die nach 10 Monaten das Handtuch warf. Sven randalierte, warf mir dem Essen, tobte, war aggressiv und konnte in keinen Kindergarten oder ähnliches.
Dann landete er in einem Kinderheim und suchte verzweifelt ein Zuhause – beziehungsweise die Mitarbeiter der Einrichtung taten das für ihn.
Zur selben Zeit wurde ein Gutachten von der Psychiatrie erstellt. Dies sagte, dass er nicht ‚familiengeeignet’ sei und besser in einer geschlossenen Einrichtung untergebracht werden sollte. Das zu seiner Vorgeschichte.
Also es kam der Tag der Tage und wir durften Sven das erste Mal besuchen. Die Anbahnung war für ein halbes Jahr angedacht. Doch alle hatten die Rechnung ohne Sven gemacht. Ganz gegen alle Erfahrungen benahm sich Sven vom ersten Kontakt an unmöglich. Er hörte kein Schlag, machte was er wollte, beschimpfte uns sobald wir ihm etwas verboten. Regeln? - was sind das denn. Diskussionen um ganz kleine Dinge, denn er war ein Meister der Sprache. Das Schrecklichste an diesem Tag war, ihn wieder zurück zu bringen. Er glaubte uns kein Wort als wir ihm sagten, dass wir am nächsten Wochenende wieder kommen. Da war allerdings kein Wutausbruch sondern nur Verzweiflung und Angst.
Das nächste Mal sah nicht viel anders aus. An der Autobahnraststätte ist er uns abgehauen als er angeblich dringend auf die Toilette musste. Aber auch wir waren lernfähig. Alleine aufs Klo ging ab dann nicht mehr.
Während der Anbahnung richteten wir sein Zimmer ein. Es musste ein Umzug innerhalb unseres Hauses stattfinden, da er auf unserer Etage sein Zimmer haben sollte. Die Trennungen waren an jedem Wochenende gleich schlimm. Eltern und Kind fast einem Zusammenbruch nahe.
Dann nach 6 Wochen war sein Zimmer fertig. Er bekam große Augen und stand in seinem neuen Zimmer in weiß mit einem dunkelblauen Teppichboden. Sven stand in der Tür, sagte nichts und „kotzte“ sein neues Zimmer voll. Anschließend lag er das ganze Wochenende im Bett.
Danach haben wir gesagt ‚jetzt ist Schluss mit der Anbahnung’. Also zog Sven am 2 August bei uns ein. Das normale Leben hatte erst einmal damit ein Ende.
Sven schlief in keinem Bett, zerstörte am ersten Tag alles in seinem neuen Zimmer. Die Sachen, die er aus dem Heim mitgebracht hatte, machte er total kaputt. Er schlief in seinem Schrank und wir räumten erstmal sein Zimmer wieder leer.
Er aß keine warme Mahlzeit wenn vorher der Herd in Betrieb war und dampfte. Er duschte nicht, denn auch da dampfte es. Sein Leben bestand aus Toben und Schreien. Ein Wutausbruch jagte den anderen. Seinen Wortschatz möchte ich hier nicht aufschreiben. Ich bin mit Sven 8 Monate nicht vor die Tür gegangen, weil das Anderen nicht zuzumuten war. In winzigen Schritten näherten wir uns einem normalen Leben - aber in ganz winzigen Schritten. Wir gingen auf den Spielplatz und ich sagte ihm vor, was man zu anderen Kindern sagt z.B. „Ich bin der Sven, kann ich mit dir spielen?“. Das gleiche übten wir auch im Schwimmbad. denn seine Kontaktaufnahme bestand nur aus Schlagen und Boxen. Als er nach Wochen das erste Mal im Schwimmbad auf der Rutsche stand und rief „Mama, der Junge war nett zu mir“. liefen mir die Tränen. Da muss dieses Kind 6 Jahre alt werden um zum ersten Mal die Erfahrung zu machen, dass andere nett zum ihm sind. Das macht einen demütig.
Das Essen mit den Händen war die einzige Möglichkeit, dass er warme Nahrung zu sich nahm. Dies hielt allerdings 2 Jahre an, ebenso das Duschen - was auch heute nach 8 Jahren immer noch von der Tagesform abhängt.
Wir sind dann 5 Jahre zur Tomatis-Musiktherapie nach Belgien gefahren. Dies hat unsere persönliche Nähe zueinander besonderes gefördert und gestärkt. Reittherapie, Ergo, Spieltherapie - alles haben wir gemacht.
Sven ist unser siebtes Kind und der sechste Sohn und ich wollte das ganz abgeklärt machen. Da ich Heilerzieherin bin habe ich mir vorgenommen, wie ein Profi an die Sache heran zu gehen. Aber wie so oft im Leben kommt es ganz anders. Sven hat mich von rechts überholt und - ohne dass es geplant war - habe ich mich in dieses Kind verliebt. Dabei blieb allerdings mein Profigehabe auf der Strecke. Ich war verletzlich und angreifbar, was Sven dann auch reichlich ausprobiert hat. Es sind viele Tränen auf beiden Seiten geflossen. Sven fragte dann immer „ Mama, kannst Du mich noch aushalten? “ Ja Sven, ich bin Deine Mutter, ich halte das aus.
Dann fingen die Kämpfe mit den Schulen an und die haben mich zehn Jahre meines Lebens gekostet. Die Kinder mit einer seelischen Behinderung passen nicht in unser Schulsystem. Wenn man dann wie Max auch noch ADHS hat, Bluter, traumatisiert und seelisch behindert ist - grauenvoll!!!! Ich musste mir so Sachen anhören wie ‚Was regen Sie sich denn so auf, es ist doch nicht Ihrer’. Da habe die Schulbesprechung verlassen. Ich muss mich doch nicht dafür rechtfertigen, dass ich dieses Kind liebe!
Jetzt nach 6 Jahren Kampf und Quälerei für Sven haben wir die Schule bekommen, die wir uns wünschen. Er geht seit den Ferien in eine KB Schule in unserer Nähe. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass die Lehrer uns so nehmen wie wir sind. Sven sagte die Woche zu der Rektorin und Konrektor „Ich bin der Sven und bin gut in der Schule angekommen“. Mutter glücklich - Kind glücklich. Also es lohnt sich zu kämpfen wenn es auch was länger dauert.
Heute nach über 8 Jahren sind wir stolz auf unseren Sohn, der inzwischen unseren Namen angenommen hat, was ihm ganz wichtig war. Er war stolz und zum ersten Mal ganz sicher, dass er bleibt als er persönlich seinen neuen Ausweis abholen konnte.
Er geht alleine in den DLRG, er geht fast jeden Nachmittag angeln und will jetzt in den Angelverein. Die Angler am Rhein mögen ihn weil er 2-3 Stunden geduldig auf seinen Fisch wartet. Er geht alleine zu Freunden, ohne das Beschwerden kommen. Er ist höflich, nett, hat ein gutes Sozialverhalten und ist bindungs- und beziehungsfähig. Damit haben wir den Fachleuten von damals gezeigt, dass sich auch für ‚hoffnungslose’ Fälle das Blatt nochmals wenden kann.
Was er erreicht hat ist Klasse, doch man darf den Fehler nicht machen und ihn mit gleichaltrigen Jungen messen, die einen besseren Start ins Leben hatten. Da ist er noch nicht soweit. Die ersten 5 Jahre seines Lebens fehlen ihm einfach.
Eine kleine Geschichte aus neuester Zeit. Sven war wie immer draußen unterwegs, Mutter wie immer unruhig, aber das muss ich mit mir selbst ausmachen. Da kam ein Anruf aus dem hiesigen Krankenhaus „Ihr Sohn Sven ist hier eingeliefert worden“. Mein Herz stand still, er ist Bluter! Die Schwester sagte „Das wissen wir schon, Ihr Sohn hat es uns mitgeteilt“.
Was war passiert? Sven hatte eine alte Mikrowelle gefunden. Er wollte sie auseinander bauen und hat sich dabei den Finger aufgeschlitzt. Er hat dann zwei alte Damen angesprochen, ob sie einen erste Hilfe- Koffer bei sich hätten. Die haben ihn dann mit Tempos versorgt und zur Feuerwehr gebracht, die in der Nähe eine Übung hatte. Die haben ihn dann versorgt und einen Rettungswagen geholt. Er hat alle über seine Krankheit informiert. Im Krankenwagen hatte er Sorge, ob das nicht zu teuer wird. Er würde dann sein Konto leer machen und es Ihnen geben. Dann wollte er noch von den Schwestern im Krankenhaus wissen ob seine Mutter am Telefon sauer oder besorgt war. Ich war nur stolz auf ihn, dass er das alles so ruhig und richtig ohne mich geschafft hat. Das habe ich ihm dann auch gesagt und wir sind dann erstmal ein Eis essen gegangen.
Damit hier nicht zu viel Ruhe einkehrt: Er hatte gerade sein Verband weg und die Fäden gezogen, kam er mit der nächsten Verletzung nach Hause. Er hatte unterwegs eine Ratte gesehen und die hatte so schöne Augen. Er hat sie dann eingefangen und circa ein Kilometer auf dem Arm getragen bis sie dann ordentlich zugebissen hat. Also wieder ab zum Arzt, das selbe noch einmal - nur an der anderen Hand. Unser Leben wird nicht langweilig. Jetzt ist er mit Uhr und Handy ausgerüstet, Muttern dadurch etwas ruhiger und er stolz.
Ich wollte hiermit eigentlich den Eltern, die Kind mit seelischer Behinderung aufnehmen wollen oder aufgenommen haben sagen: Verliert nicht den Mut und nicht die Geduld. Freut Euch über die ganz kleinen Schritte. Hört nicht soviel, was die Leute sagen. Ich hätte Sven früher auch gerne ein Schild umgehängt ‚Ich bin behindert’. Weil man es ihm nicht ansieht und deshalb sein Verhalten oft nicht sehr verständnisvoll hingenommen wird.
Redaktion:
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