Sie sind hier

01.12.2011
Erfahrungsbericht

Erfahrungsberichte von Pflegeeltern zur Aufnahme von Geschwistern

Hier finden Sie zwei Erfahrungsberichte aus der Sicht von Pflegeeltern, die Geschwisterkinder aufgenommen haben.

Geschwisterliebe

„Ist es möglich, dass ich ihnen in einer Stunde die Schwester von ihrem Pflegesohn in Obhut geben kann? Ich hole sie gerade aus dem Kindergarten ab.“
Da wir das Kind schon von Besuchen und Übernachtungen kannten, mussten wir nicht lange überlegen.
Ganz zuversichtlich haben wir die Aufnahme abgewickelt und den Willen geäußert, das Kind auch auf Dauer bei uns zu lassen.
Unser Pflegesohn war total glücklich, dass er seine Schwester hatte.
Dieses Glück hielt aber nicht so lange an. Als die Anpassungsphase für das Mädchen vorbei war (ging durch den vertrauten Bruder relativ schnell), entstanden immer mehr Differenzen zwischen den Kindern.
Zur Erklärung muss man wissen, dass der Junge von seiner Mutter schwer misshandelt wurde, er war der „Sündenbock“ der gesamten Familie und entwickelte dadurch eine Aggressivität, die er bis zu diesem Moment nicht ablegen konnte.
Seine Schwester dagegen wurde von der Mutter wie eine Prinzessin behandelt, aber der damalige Lebensgefährte übte körperliche Gewalt auf das Mädchen aus.
Nach und nach fielen Sätze wie: „Die Mutti hat ja immer gesagt, du hast kein Hirn im Kopf“ oder „Schade, dass sie dich nicht tot geschlagen haben“. Die Schwester hat unseren Pflegesohn täglich so unter Druck gesetzt und ihn verbal so stark attackiert, dass er sich total in die Enge getrieben fühlte.
Wir als Pflegeeltern waren total erschrocken, überfordert und natürlich ängstlich. Wir haben ständig versucht beide Kinder zum gemeinsamen Spielen zu bewegen, wir haben ganz viel unternommen, um Ablenkung zu schaffen, aber nichts half.
Unser Pflegesohn hatte durch die massive Traumatisierung der leiblichen Mutter und die Trennung von zu Hause, extreme Probleme. Es hat lange gedauert, dass er überhaupt ein gewisses Vertrauen aufbauen konnte. Er fiel in das alte Muster zurück und entwickelte eine extreme Abneigung der Schwester gegenüber.

Man konnte sagen – sie konnten nicht miteinander – aber auch nicht ohne

Nach und nach kamen auch Handlungen der Kinder hinzu, bei denen sie sich, in Folge von Streitereien, in extreme Gefahr gebracht haben.
Wir konnten diese Verantwortung nicht mehr übernehmen und entschlossen uns, schweren Herzens, das Pflegeverhältnis mit der Schwester zu beenden.
Es vergingen einige Jahre. Der Wunsch nach einem weiteren Pflegekind war da, aber die Angst und die Erlebnisse noch sehr präsent.
Unser Sohn vereinnahmte uns sehr und wir hatten immer das Gefühl, dass er mit anderen Kindern aufwachsen sollte.
Nach und nach sprach auch unser Pflegesohn von Kindern, mit denen er spielen konnte. Wir bewarben uns in unserem Jugendamt, aber waren erfolglos, wurden hingehalten.
Wir denken, die Abgabe eines Kindes schwingt immer bei so einer Entscheidung mit.
Nach einiger Zeit, unser Sohn hatte sich in die Schule eingewöhnt
(Ende der 2. Klasse) haben wir nochmals einen Versuch in einem anderen Jugendamt gestartet.

Ein weiterer Versuch

Es dauerte überhaupt nicht lange und wir erhielten einen Anruf zu einem Gespräch.
Mit gemischten Gefühlen reisten wir an. Wir waren über die Offenheit, die fachliche Kompetenz und die Herzlichkeit der beteiligten Sachbearbeiter sehr überrascht und auch freudig angetan.
Nach einem Besuch der Sachbearbeiter bei uns zu Hause und mehreren gemeinsamen Gesprächen hatten wir uns entschlossen den kleinen Jungen (damals 2,5 Jahre) im Kinderheim zu besuchen.
Das einzige Problem, was uns sehr bewegte, war, dass er noch einen Bruder (1,5 Jahre) hatte. Sie wollten die Kinder eigentlich gemeinsam vermitteln, wir sollten aber selbst entscheiden.
Wir fuhren mit gemischten Gefühlen in das Heim und beobachteten die Kinder sehr genau.
Viele Pflegeeltern können sich jetzt denken, wie man von Gefühlen übermannt wird, wenn noch so ein kleiner Knirps da ist und dem Bruder hinterher robbt. Wenn beide Kinder schon nach dem zweiten Besuch Mama und Papa sagen und die Ärmchen ausstrecken, wenn man nur das Zimmer betritt.
Wir versuchten die Situation realistisch einzuschätzen und wollten den Verstand sprechen lassen. Nach vielen zusätzlichen Gesprächen mit dem abgebenden Jugendamt, besuchten wir die Kinder in immer geringer werdenden Abständen. Wir nahmen sie auch über Nacht mit nach Hause. Das ist keine reale Einschätzung, dass wussten wir auch, aber man konnte die Kinder mal außerhalb des Heimes beobachten.
Sich irgendwie freier bewegen.
Schnell haben wir erkannt, dass man diese Geschwister nicht auseinander nehmen konnte. Wenn sie sich fürchteten umarmten sie sich sehr intensiv, gingen nie alleine, der „Große“ versorgte den „Kleinen“ und sie hatten eine ganz eigene Sprache entwickelt. Man merkte deutlich, dass sie das Erlebte unheimlich zusammengeschweißt hat.

Wir nehmen die zwei Brüder auf

Nach einiger Zeit der Besuche im Heim und nach endlosen Diskussionen in der Familie, entschlossen wir uns, beiden Kindern bei uns ein Zuhause zu geben.
Wir können nicht sagen was es war.
Es war einfach eine Bauchentscheidung. Wir hatten bei dem Umgang der Beiden ein ganz positives Gefühl ihrer Zusammengehörigkeit. Wir hatten auch ein sehr gutes Gefühl für die Betreuung durch das vermittelnde Jugendamt. Sie hatten uns jegliche Hilfe zugesagt und auch im Nachhinein gehalten.
Am Anfang war bei uns der Ausnahmezustand ausgebrochen.
Beide Kinder waren sehr in der Entwicklung zurück, beide Kinder waren noch nicht sauber und durch ihre eigene Sprache, konnten wir schlecht erkennen, was sie wollten.
Sie haben immer wieder gegenseitig Schutz gesucht, haben sich gegenseitig getröstet und man konnte ganz deutlich erkennen, dass sie froh waren nicht getrennt zu leben.
Sie haben nur langsam gelernt sich auf uns zu verlassen, der „Kleine“ will jetzt nicht mehr vom „Großen“ versorgt werden und sie sagen uns täglich, dass sie uns sehr lieben. Das Vertrauen zu uns, musste sich der „Große“ sehr hart erarbeiten und testet uns immer noch in jeder Lebenslage.

Heute sind wir froh, dass wir uns so durchgebissen haben.

Unsere 3 Jungs sind tolle (Pflege-) Geschwister geworden. Sie streiten sich, lernen voneinander, geben sich gegenseitig Halt,
Unser „Ganz Großer“, jetzt 14 Jahre, (Entwicklungsstand ca. 9 – 10 Jahre) lässt nichts auf seine kleinen (Pflege-) Geschwister, jetzt 7 und 8 Jahre, kommen. Er hat kein Konkurrenzdenken, weil der Altersunterschied doch sehr groß ist. Er hat sein Sozialverhalten positiv verändern können und hat gelernt, dass er auch Verantwortung übernehmen muss und auch möchte.

Die Aufnahme der Kinder ist für alle Beteiligten ein großer Gewinn. Das hat aber liebevolle, konsequente und Grenzen setzende Arbeit bedeutet. Wir haben alle gegenseitigen Respekt und gegenseitige Akzeptanz lernen müssen.
Unsere Erfahrungen sind, dass man nicht pauschal sagen kann, ob man Geschwister in eine Familie aufnehmen kann oder nicht.
Hier spielt auf jeden Fall die Vergangenheit der Kinder eine große Rolle. Welche Erlebnisse teilen sie, welches Verhältnis haben sie untereinander und ganz wichtig – kann man das als aufnehmende Familie leisten?

WO SIND MEINE GRENZEN ???

Die leibliche Schwester unseres Pflegesohnes fragt zwar immer noch, warum sie damals nicht bleiben konnte, aber wir denken, sie ist in dem Alter (jetzt 13 Jahre) in dem wir ihr das sehr gut erklären konnten.
Sie fühlt sich in ihrer jetzigen Pflegefamilie, die damals in Ruhe gesucht wurde, wohl.
Ein großes Problem wäre aus heutiger Sicht auf uns zugekommen, denn die Schwester will die leibliche Mutter sehen. Unser Sohn lehnt aber jeglichen Kontakt ohne Kompromisse ab. Er wird schon wütend, wenn man nur den Namen erwähnt.
Wie hätten wir das geregelt? Wie hätte unser Sohn nach der Besuchszeit auf Erzählungen reagiert?
Diese Fragen gehen uns immer mal wieder durch den Kopf.
Wir haben jetzt ein gutes Verhältnis aufgebaut und durch die räumliche Trennung ist auch das Schwester – Bruder - Verhältnis wieder besser geworden.
Unser Sohn sagt immer: „Jetzt hat jeder seinen Schutzbereich und wir können uns aus dem Weg gehen“. Das tun sie auch leider im Moment wieder.
E.M. Pflegemutter

Zwei Schwestern

Im .Juli 2002 kam Jennifer, 9 Jahre alt, zu uns. Sie war die älteste von 4 Kindern, die vom Jugendamt in Obhut genommen wurden. Jennifers Familie war seit Jahren nicht nur beim Jugendamt bestens bekannt.
Auch wir kannten Jennifer schon. Als Vierjährige war sie mit ihrer jüngeren Schwester bei einer Pflegefamilie untergebracht die Mitglied in unserem Verein war. Wir Familien kennen uns untereinander und lernten daher auch Jennifer kennen. Wir erfuhren auch, dass die Kinder schon mehrfach für eine begrenzte Zeit in einer Einrichtung untergebracht worden waren.
Diesmal wurden alle vier Geschwisterkinder nach relativ kurzem Heimaufenthalt in verschiedenen Pflegefamilien untergebracht.
Die Dauer des Aufenthaltes der Kinder in den Pflegefamilien war ungewiss. Uns wurde gesagt, dass die Mutter ihre Lebensumstände regeln muss, wozu auch der Einzug in eine neue Wohnung gehörte. Dann sollten die Kinder wieder zurückgeführt werden.
Jennifer war ein sehr lebhaftes Kind, das sehr gerne im Mittelpunkt stand und sehr dominant war. Das wurde besonders bei den Treffen mit ihren Geschwistern deutlich, die sich nicht trauten, ihr zu widersprechen. Uns fiel besonders auf, dass sie sich mit nichts längere Zeit beschäftigen konnte, da sie permanent darauf fixiert war sich um irgendjemanden oder irgend etwa kümmern. Dieses Verhalten betraf auch mich und meinen Alltag. Ständig versuchte sie mich zu kontrollieren und zu bevormunden.
Darüber hinaus hatte sie auch ein völlig distanzloses Verhalten. Nicht nur, dass sie bereits am ersten Tag Mama und Papa zu uns sagte, auch jeder anderen Erwachsenen der sie nett anlächelte wurde gefragt, ob er jetzt Mama oder Papa sei.
Jennifer erzählte fast nichts von dem was sie erlebt hatte. Bedingt dadurch, dass sie sich für ihre Mutter und die Geschwister verantwortlich fühlte, wusste sie, dass sie nichts schlechtes von zu Hause erzählen durfte. Sie war stets sehr bemüht ihre „heile Welt“ aufrecht zu erhalten. Das wenige was wir wussten, erfuhren wir durch Erzählungen der Geschwisterkinder.
Wir hatten das Gefühl, dass sie sich einerseits bei uns langsam einlebte und wohl fühlte; andererseits trug sie jedoch auch weiterhin die schwere Last der Verantwortung für ihre Mutter und Geschwister. Dieses zwiespältige Gefühl wurde besonders nach Besuchskontakten deutlich, bei denen ihr immer erzählt wurde, dass bald alle wieder zuhause sein würden.
Die Monate vergingen und wir hatten die Hoffnung, dass für die Kinder nach all dem hin und her in der Vergangenheit nun eine dauerhafte Entscheidung getroffen würde. Anfang November 2003 gab es eine Anhörung beim Gericht und wir hofften sehr, dass nun Klarheit geschaffen würde.
Stattdessen erfuhren wir bei einem Hilfeplangespräch nach dieser Anhörung, dass die Mutter in einem anderen Landkreis eine Wohnung hatte und die Kinder schnellst möglichst zu ihr zurückkehren würden.
Am letzten Novembertag brachten wir Jennifer zu ihrer Mutter und hatten dabei wirklich kein gutes Gefühl.
In den folgenden Wochen schrieb sie uns und zu Weihnachten rief sie uns an. Danach wurden die Briefe und Anrufe seltener und hörten schließlich ganz auf.
Vier Monate später, im April 2003 rief Jennifer uns an und erzählte, dass sie und ihre Schwester wieder im Heim seien und die beiden Kleinen in einer Pflegefamilie untergebracht worden sind. Jennifer fragte, ob wir sie bitte abholen könnten.
Ohne lange zu überlegen, fragten wir bei unserm Jugendamt nach ob die Möglichkeit bestehen würde, Jennifer wieder bei uns aufzunehmen.
Unser Jugendamt erklärte uns daraufhin, dass es nun wieder zuständig sei, da die Mutter inzwischen mal wieder umgezogen wäre. Das Jugendamt würde nun einen Antrag auf Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechtes bei Gericht stellen.
Nachdem das Aufenthaltsbestimmungsrecht dem Jugendamt übertragen worden war, kamen die beiden jüngeren Kinder wieder in die Pflegefamilie in der sie bereits 2002 waren - die nun zehnjährige Jennifer und ihre neunjährige Schwester Yvonne kamen im August 2003 zu uns.
Für Jennifer war es, als wäre sie nie wirklich weg gewesen - nur mal kurz bei Mutti aber nun wieder bei uns.
Ihr Verhalten glich dem beim ersten Aufenthalt: massiv dominant, alles bestimmend und kontrollierend, keine Lust zu irgendetwas, keine Ausdauer bei dem was sie tat und extrem distanzlos.
Yvonne hingegen wirkte sehr eingeschüchtert, fällte keine Entscheidung ohne das Einverständnis ihrer Schwester, wies aber ebenfalls ein sehr distanzloses Verhalten auf.
Obwohl das Jugendamt ja nun das Aufenthaltsbestimmungsrecht hatte wurde den Kindern trotzdem erklärt: wenn eure Mutter eine neue Wohnung hat geht ihr wieder nach Hause.
Das Spiel begann also wieder von vorn. „Wenn Mutti eine Wohnung hat gehen die Kinder wieder nach Haus“. Wie lange der Aufenthalt der Kinder bei uns also dauern würde war völlig ungewiss.
Wir erlebten und sahen täglich, wie verwirrt und gestört die Mädchen schon waren. Wie sollten wir ihnen mit dieser völlig offenen Perspektive wirklich helfen können?
Nach reiflicher Überlegungen, denn die Kinder waren ja eigentlich erst zu kurz bei uns, stellten wir nach vier Monaten einen Antrag auf vorläufigen Verbleib in der Pflegefamilie.
Und nun geschah etwas, was wir wirklich nicht erwartet hatten. Unser Antrag wurde sehr ernst genommen. Das Familiengericht wandte sich an das Jugendamt, das Jugendamt stellte daraufhin einen Antrag, wie zogen unseren Antrag vorerst wieder zurück und die Richterin bestellte für die Kinder eine Verfahrenspflegerin.
Bei der Anhörung wurde beschlossen, dass die Kinder weiterhin in den Pflegefamilien leben können. Diese Entscheidung müsse jedoch alle 2 Jahre überprüft werden. Wir hofften im Interesse der Kinder, dass sie nach so vielen Herausnahmen und Rückführungen nun endlich in ihren jeweiligen Pflegefamilien dauerhaft ein Zuhause finden können.
Diese einigermaßen sichere Perspektive reichte jedoch nicht aus, zunehmend gestaltete sich alles schwieriger:
Bedingt durch häufige Besuchskontakte zur Mutter wurden die Kinder auch weiterhin massiv verunsichert und hin und her gerissen. Sowohl in Briefen als auch bei den Besuchskontakten benutzte die Mutter die Kinder als seelischen Mülleimer und setzte sie psychisch immer mehr unter Druck.
So wurd den Kindern bei jedem Kontakt erklärt, dass sie - die Mutter - ohne ihre Kinder nicht leben könne. Dass sie ihr Leben nicht geregelt bekomme weil die Kinder nicht bei ihr sind. Wie sehr sie doch auf ihre Kinder angewiesen ist und dass sie sich gegenseitig helfen müssten; und dass sie ohne die Kinder nicht leben kann.
Dazu kamen auch weiterhin häufige Wohnungswechsel der Mutter und wechselnde Lebenspartner.
Die Folgen dieser Besuchskontakte sind, dass beide Mädchen in ihre alten Rollen gedrängt wurden und besonders Jennifer sich schuldig und verantwortlich fühlte.
Die seelische Belastung für beide war so groß.
Das äußerte sich vor allem im zunehmend aggressiven Verhalten besonders gegenüber Erwachsenen aber auch Kindern, in absolutem Desinteresse für Schule und Freizeit und einem sehr provokanten Verhalten uns gegenüber.
Wir haben Angst, dass die Kinder an der Last zu zerbrechen drohen. Die kleinen Fortschritte die sie in ihre Entwicklung gemacht haben, die eventuelle Möglichkeiten sich neu zu binden, der Weg zu einem etwas normaleren Leben wird ihnen immer wieder zerstört.

Ergänzung:

2005 war das Pflegeverhältnis so nicht mehr haltbar. Erst verließ Jennifer die Pflegefamilie, einige Zeit später ging auch Yvonne. Erst lebten sie bei ihrer Mutter, dann wieder in einer Heimeinrichtung.
Die Pflegeeltern fühlten sich lange Zeit sehr erschöpft und schuldig.