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26.10.2014
Erfahrungsbericht

Erstbegegnung

Erfahrungsbericht über die Aufnahme von Geschwisterkindern. Auszug aus dem Buch von Ralph Gehrke "Ab jetzt vertraue ich niemanden"

Themen:

Das erste Mal

Heute ist es soweit. Das erste Mal, dass wir sie sehen, unsere beiden Mädchen. Wir waren beim Jugendamt, haben uns Informationen geholt, uns vorgestellt. Nun sollen wir sie kennen lernen.

Das Heim ist evangelisch, wir werden von einer jungen Diakonisse in Tracht begrüßt. Sie macht einen netten, kompetenten Eindruck.
Es ist wie im Film. Die beiden Geschwister stehen uns gegenüber, Hand in Hand. Es fehlen nur noch die großen Schleifen im Haar. Sie heißen Susann und Jeannett, sechs und acht Jahre alt. Die junge Frau sagt: “Das sind eure Pflegeeltern.”
Hoppla! So schnell geht das wieder? Wir stellen uns mit Ruth und Nico vor.
„Wollen wir was unternehmen?“, fragen wir. „Au ja“, antworten beide voller Freude und wie aus einem Munde.
Wir machen einen Spaziergang, die beiden tollen um uns herum. Sie sind locker und gelöst, aber sie halten zusammen. Wir beobachten auch, dass die Ältere die Jüngere beschützt und auch etwas beherrscht.
Inzwischen sind wir gebrannte Kinder. Wir freuen uns zwar, aber wir sind
vorsichtig, um nicht wieder enttäuscht zu werden. Wir vereinbaren einen weiteren Besuchstermin zum Geburtstag von Susann. Und wir sind vorsichtig optimistisch.
Kinder in der Anbahnugsphase als “süß” zu bezeichnen, liegt uns fern. Wir wissen, dass die beiden vernachlässigt worden sind, dass Jeannett Susann oft hat beaufsichtigen müssen und für sie verantwortlich war. In ihrer Gegenwart ist während eines Besuchskontakts in ihrem Elternhaus eine Straftat geschehen. Sie haben bestimmt beide ihr Päckchen zu tragen. Die Auswirkungen sollten sich noch zeigen.

Susanns Geburtstag

Geburtstage sind für Kinder sehr wichtig. Da stehen sie allein im Mittelpunkt, bekommen Geschenke, alles dreht sich um sie. Alle zeigen ihnen Aufmerksamkeit und wie willkommen und wertvoll sie auf dieser Erde sind. Das ist bei Heimkindern nicht anders, eher wichtiger. Schließlich haben es ihre leiblichen Eltern nicht hingekriegt, ihnen zu zeigen, wie wichtig sie ihnen sind.
Das kommt manchmal erst dann, wenn die Kinder in einer Pflegefamilie
angekommen sind und sich zeigt, dass sie sich hier wohler fühlen als im eigenen Elternhaus. Also nutzen wir die Gelegenheit und besuchen die beiden Mädchen, die vielleicht einmal bei uns aufgenommen werden sollen.

Susann ist heftig erregt und freut sich über unseren Besuch. Sie hat vom Heim ein paar Geschenke bekommen, nur ihr Vater scheint das Datum vergessen zu haben. Den Kuschelteddy, den wir ihr mitgebracht haben, schließt sie sofort in ihre Arme und lässt ihn nicht los, während wir mit den beiden spielen.

Das Kennenlernen

Schließlich macht die junge Diakonisse uns den Vorschlag, doch etwas spazieren zu gehen. Beide Kinder werden für das winterliche Wetter eingepackt und wir suchen uns einen schönen Weg am Ufer des in der Nähe liegenden Flusses. Susann weicht Ruth nicht von der Seite und erzählt vom Alltag im Heim. Jeannett tobt um mich herum. Susann aber wird immer stiller.
„Ich habe Kopfschmerzen und mir ist ganz heiß.”, sagt sie mit leiser Stimme. Also treten wir den Rückweg an. Im Heim angekommen, stellen die Erzieher fest, dass sie fiebrig ist und beginnt, asthmatisch zu husten. Sie muss sofort ins Bett und wir verabschieden uns.

Wir kennen das schon von Sigrids Anbahnung. Sigrid ist vor acht Jahren zu uns gekommen und wird in Kürze eine Ausbildungsstelle weit weg von uns antreten. Heimkinder reagieren sehr feinfühlig auf solche Veränderungen und zeigen das auch körperlich. Fieber ist der normale Ausdruck für die spannungsgeladene Situation und ihr Aufgewühltsein. Wir wissen: Es hat nichts mit uns zu tun.

Es war dennoch ein schöner Tag. Wir haben einem Menschlein zeigen können, wie wertvoll es ist, vielleicht das erste Mal, dass Susann so etwas erfahren hat. Wir sind erfüllt von diesem Gefühl.

Hintergründe

Heute sind wir zum Jugendamt eingeladen. Es geht um die Biografie der beiden Mädel und um die Hintergründe der Vermittlung. Wir sitzen in einem weiß getünchten Raum mit zwei Schreibtischen und einem Besprechungstisch. Mit uns sind Frau Wehrmann, die für Susann und Jeannett zuständige Sachbearbeiterin und die für den Kindesvater zuständige Frau Süßberg.
„Wie war der erste Kontakt?”, will Frau Wehrmann wissen. Wir berichten unsere ersten Eindrücke. Und wir sind gespannt, was uns die beiden zu berichten haben. Beide Mädel sind schon seit längerem beim Jugendamt bekannt. Sie sind offensichtlich von ihrer Familie häufig allein gelassen worden, so dass Jeannett, die Lieblingstochter des Kindesvaters, auf ihre Schwester aufpassen und öfter Nahrung besorgen musste. Sehr zeitig schon trennte sich die Kindesmutter von der Familie. Der Vater war häufig auf Sauftouren unterwegs. Ab und zu tauchte auch die Mutter auf, um mit zu trinken. Die Kinder spielten für sie keine Rolle.
Auch wurden die Kinder eines Morgens um zwei Uhr in Frankfurt, mitten im Vergnügungsviertel in Begleitung zweier Männer von der Polizei aufgegriffen und zum Kindesvater zurück gebracht. Der beteuerte, es sei alles in Ordnung und er habe davon gewusst.

Letztes Weihnachten, als die Familie für wenige Monate wieder vereint war, geschah das Ungeheure. Der Vater versucht, die Mutter in Anwesenheit der Kinder umzubringen. Die Kinder, die auf Besuchskontakt in der Familie sind, werden von der Polizei zurück ins Heim gebracht.

Von nun an ist klar, dass eine Stabilisierung der Familie mit der Option der Rückführung nicht mehr in Frage kam. Der Kindesvater ist zu einer
Gefängnisstrafe verurteilt, die er zu verbüßen hat. Dies führte nun dazu, dass Pflegeeltern für eine Dauerpflege gesucht wurden. Wir haben die Möglichkeit, Einblick in die Hilfepläne zu bekommen. Es ist die Rede von Alpträumen und Einnässen bei Susann und tiefer Verschlossenheit bei Jeannett. Auch wurde Susann dabei beobachtet, dass sie sich ganz ungeniert sexuell stimuliert. Polizeiberichte jedoch liegen nicht vor. Zu diesem Zeitpunkt können wir noch nicht ahnen, was auf uns zu kommt. Wie viel Energie wir aufwenden müssten, wie viel Wissen wir uns aneignen müssten. Trauma, Dissoziation, Vernachlässigung, Lolita-Syndrom sollten Worte werden, die uns ständig begleiteten. Wir waren absolut blauäugig und niemand hat uns gewarnt.

Fahrt mit der Bahn

Kinder, die im Heim leben, sind gut behütet und werden professionell betreut. Aber meist sehen sie nur ihre Umgebung. Manchmal gibt es Urlaubsreisen, die sind allerdings eher selten. Eine Fahrt mit der Bahn ist da schon ein Erlebnis. Nachdem wir Jeannett und Susann nun schon einige Male besucht haben, setzt sich die Anbahnung auch mit Besuchen bei uns zuhause fort. Langsam zieht der Frühling ein und es ist mild. Das Heim ist dreißig Kilometer entfernt von unserem Wohnort und wir haben seit fast einem Jahrzehnt auf ein Auto verzichtet. Statt
dessen fahren wir eine Stunde lang mit der Bahn.

Beide Mädchen sind voller Erwartung. Wir ziehen sie an und laufen zum Bahnhof. Beide tollen um uns herum. Dann kommt die Bahn und wir steigen ein. Susann schmiegt sich an Ruth und Jeannett blickt interessiert und mit wachen Augen aus dem Fenster. Sie liest jedes Bahnhofsschild bei jedem Halt und versucht sich die Reihenfolge zu merken.
Am letzten Bahnhof liest Jeannett:
„Denkendorf! Ist das, wo ihr wohnt?”
„Wiee??? Deckeldorf???”, amüsiert sich Susann und alle lachen lauthals.
„Ja, hier wohnen wir”, bestätigt Ruth. Wir verlassen den Bahnhof und laufen durch das Wohngebiet, das aus großen Grundstücken mit gemütlichen, kleinen Häuschen besteht, durchsetzt von Wochenendgrundstücken. Der Weg vom Bahnhof ist besonders wichtig. Als wir vor unserem Haus angekommen sind, sehen wir die
Mädchen leise staunen. Sie kennen nur das Heim und von früher den schäbigen, problembelasteten Kietz, in dem sie damals ihre ersten Lebensjahre verbracht haben.

Ruth macht Spaghetti mit Tomatensoße und alle langen kräftig zu. Es gibt Saft, vermischt mit Wasser aus dem Wassersprudler. Danach gibt es ein leckeres Eis. Das Wetter ist schön. Die Terrassentür ist offen und während wir dort sitzen und einen Kaffee trinken, tollen die Mädchen im Garten herum und führen uns Tänze und kleine Theaterstückchen auf. Eine will die andere überbieten. Alles ist schön
und harmonisch. Als ob sie schon immer bei uns waren.

Das Kennenlernen

So kommt denn die Zeit überraschend, als wir uns wieder auf zum Bahnhof machen müssen. Beide sind müde aber glücklich. Wieder prägt sich Jeannett die einzelnen Stationen ein und viele hat sie schon in der Reihenfolge behalten. Nach einer Stunde Fahrt landen wir wieder im Heim und die alte Welt hat unsere beiden wieder. Aber sie sind um eine Erfahrung reicher.

Das Schönste daran, Pflegekinder zu haben und bis zur Volljährigkeit zu begleiten ist es, zu beobachten, wie sie mehr und mehr Interesse an der Welt finden. Wie sie ihren Horizont erweitern und mit den anderen Kindern mithalten können. Wie sie die Welt verstehen lernen. Wie sie lernen, sich in Familienstrukturen einzufügen und davon zu profitieren. Wie sie zu wertvollen und akzeptierten Mitgliedern in dieser Gesellschaft heranwachsen.

Noch zeigt sich aber nicht, dass es ein Risiko ist, Geschwisterkinder aufzunehmen. Zwar hätten wir jetzt schon die Konkurrenz zwischen den beiden beobachten können und wie sie um unsere Aufmerksamkeit kämpfen. Aber wir sind zu verliebt in die beiden, um diese Anzeichen als ein Problem akzeptieren zu können. Wir sind erst einmal nur glücklich.

Wir wollen in unregelmäßigen Abstanden weiter die Erfahrungen der Pflegeeltern aus dem Buch übernehmen und danken Ralph Gehrke für die Erlaubnis.

Auf dieser Internetseite informiert Ralph Gehrke über seine Arbeit, über traumatisierte Kinder und sein Buch

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