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Franks Weg in die Volljährigkeit
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Das magische Datum der Vollendung des 18. Lebensjahres von Frank rückte in absehbare Reichweite– hinter unserer Familie lagen 12 Jahre, die uns immer wieder bis an die Grenze unserer Belastbarkeit geführt hatten. Zweifel von außen, ob wir der Aufgabe wirklich gewachsen sind. Vier Schulwechsel in zwei Schuljahren, bis er als nicht mehr beschulbar galt. Sieben Jahre lang liefen wir von Beratungsstelle zu Beratungsstelle, von Arzt zu Arzt, bis die Diagnose „Fetales Alkoholsyndrom“ festgestellt wurde. Erst mit Hilfe einer medikamentösen Behandlung wurde ein Schulabschluss möglich, Ein sicheres Umfeld, unterstützt von der leiblichen Mutter, in dem sie frühzeitig einer Sorgerechtsübertragung und einer Namensänderung zustimmte– bot trotz aller Schwierigkeiten den notwendigen Halt. Dennoch gab es für ihn mit Erreichen der Volljährigkeit einen gravierenden Einschnitt, der ihn für einige Zeit erheblich aus der Bahn warf.
Nach erfolgreicher Beendigung der Realschule hatte er das große Glück, eine Lehrstelle in seinem Wunschberuf „Kfz-Mechatroniker“ zu finden, allerdings ca. 400 km von uns entfernt. Mit einiger Skepsis nahmen wir seine Euphorie wahr – und noch bevor er die Ausbildung begann, suchte ihn Panik heim.
Diese äußerte sich natürlich u.a. in verbalen Attacken gegen uns – aber die Wogen glätteten sich etwas, nachdem die therapeutische Betreuung im Hinblick auf die bevorstehenden Veränderungen intensiviert wurde und er zusätzlich ein Antiaggressionstraining absolvierte, sowie mit der Gewissheit, dass er jedes Wochenende nach Hause kommen kann, auch wenn das Jugendamt dafür kein Verständnis zeigte. Schließlich steuerte er auf die Volljährigkeit zu und sollte sich langsam von uns abnabeln.
Am 31.12. vollendete er das 18. Lebensjahr. Bereits Ende November hatte er nach einem Gespräch im Jugendamt einen eigenständigen Antrag auf Weiterführung der Hilfe in der Pflegefamilie gestellt und auf die Frage, ob er sich einen Betreuer vor Ort vorstellen könne, diese Variante kategorisch abgelehnt, hatte er doch auch in der Vergangenheit diese Form der Hilfe für sich nicht annehmen können.
Genau zum Heiligabend erhielt er dann ein Schreiben, dass er ab sofort am Ausbildungsort Hilfe gem. §34 SGB VIII in Form des betreuten Einzelwohnens durch einen freien Träger erhalten wird.
Wer je mit einem FASD-Kind gelebt hat, kann erahnen, wie dieses Weihnachtsfest für uns ablief. Abgesehen davon, dass auch wir selbst schockiert über diese unverständliche Entscheidung des Jugendamtes waren, mussten wir seine Wut, seine Hilflosigkeit und sein Unvermögen, sich in schwierigen Situationen zu steuern, ausgerechnet am Heiligabend wieder mal aushalten.
Seinen Geburtstag feierte er – nachdem ihn seine Mutter wieder einmal versetzt hatte – mit Freunden und reichlich Alkohol, obwohl er diesen bis dahin immer strikt abgelehnt hatte.
Er fuhr einige Tage vorfristig zum Ausbildungsort zurück, nahm keine Medikamente mehr und kam am Wochenende nicht nach Hause. Binnen weniger Wochen war sein Konto leer geräumt, er besuchte keine Fahrschule mehr, auch, weil er sie nicht bezahlen konnte. Die Betreuung, die er ab 01.01.XX erhalten sollte, lief erst Mitte Februar an, nachdem nacheinander vier verschiedene Personen des beauftragten Trägers zu ihm Kontakt aufgenommen hatten.
Der Chef dieses Vereins hatte ihm im Erstgespräch sogar versichert, dass er gar keine Alkoholschädigung habe, sondern dass seine Hyperaktivität daher komme, dass er nicht weiß, wer nun wirklich sein Vater ist. Dieses Gespräch verwirrte ihn vollends, hatten wir doch Jahre gebraucht, ihm die äußerst schwierige Situation seiner Herkunft zu erklären.
Das nächste Hilfeplangespräch wurde ohne seine Beteiligung zwischen Jugendamt und Träger geführt und im Nachhinein sollte er einen Hilfeplan unterschreiben, in dem die Verabschiedung von der Pflegefamilie festgeschrieben war.
Er musste aus finanziellen Gründen umziehen, der Wohnraum war bereits gekündigt, aber er fand nichts entsprechendes, da er die Kaution nicht zahlen konnte. Er konnte z. B. nicht verstehen, dass wir auf seinen Anruf hin nicht bis zum nächsten Tag 600,00 € Kaution bereitstellten und eine gesamtschuldnerische Bürgschaft unterschrieben, da er mit einem anderen betreuten Jugendlichen des Vereins, den er bis dahin gar nicht kannte, eine gemeinsame Wohnung beziehen sollte. Nicht einmal sein Lebensbedarf war ohne unsere Hilfe finanziell abgedeckt, geschweige denn die Bewältigung des Alltags.
Schließlich schätzten auch die Sozialarbeiter am Ausbildungsort ein, dass es sehr schwer ist, an ihn heran zu kommen, dass die Hilfeform wohl nicht die Richtige sei und er in der Pflegefamilie fest verwurzelt wäre.
Aber all das waren keine Argumente, die Hilfe für ihn in Form der Familienpflege weiter zu gewähren. Er kam dennoch in den ersten beiden Lehrjahren jedes Wochenende nach Hause, ab dem dritten Lehrjahr vereinbarten wir dann aller 14 Tage, weil es auch für uns eine nicht unerhebliche finanzielle Belastung war.
Zugeben, als er nach seinem Geburtstag wochenlang nicht mehr nach Hause kam, waren auch wir sehr enttäuscht und vermuteten, dass er nun seine Freiheit genießt und alles den Bach hinunter geht. Aber wir hatten einfach nicht erkannt, dass er dermaßen verunsichert war, dass er nicht von allein wusste, dass er nach wie vor jede Woche bei uns willkommen ist und er nach wie vor zu uns gehört.
Als großes Problem erwies sich auch das Ablegen des Führerscheins, denn das fehlende Medikament wirkte sich natürlich auf seine Wahrnehmung und Konzentrationsfähigkeit aus. Über ein Jahr lang nahm er nun schon Fahrstunden, ein Ende war nicht in Sicht. Immer wieder beglichen wir auf Zuruf offene Rechnungen, da ja der Erwerb des Führerscheines im Rahmen seiner Ausbildung Voraussetzung war.
Seine Leistungen in der Ausbildung sanken besorgniserregend. Auf dem Zeugnis im dritten Lehrjahr gab es neben einer fünf nur noch die Note vier. Solche Dinge überraschten ihn total. Er konnte es sich überhaupt nicht erklären, höchstens damit, „dass der blöde Lehrer wieder einmal gepennt hat“. Er fasste stets gute Vorsätze, sich ernsthaft anzustrengen, jedoch mangelte es offensichtlich immer wieder an der Konzentrationsfähigkeit und vor allem am Durchhaltevermögen.
Er kämpfte darum, trotz seines Handycaps ein geordnetes Leben zu führen und schickte uns über das Internet ein Foto seines Zimmers, wenn er es gerade einmal erfolgreich aufgeräumt hatte.
Endlich hatte er die Ausbildung geschafft. Das Unternehmen stellte ihn wenigstens für zwei Monate ein, um ihm Gelegenheit zu geben, sich um einen Job zu bewerben. Bis zum letzten Tag war er der festen Überzeugung, dass man ihn doch behalten würde. Er schrieb keine einzige Bewerbung. Den Antrag auf Arbeitslosengeld gab er erst ab, als er keinen Pfennig mehr besaß. Das war immerhin nach 6 Wochen.
Dann eine SMS: „Habe ab 01.06. Arbeit in Schweden, über meinen alten Werkstattleiter! Mit dem Arbeitsamt ist auch alles geklärt!“ – Es handelte sich um eine kurzfristige Beschäftigung von 4 Wochen – und er hatte sich komplett beim Arbeitsamt abgemeldet. Unsere Vermutung, dass er noch nicht einmal einen Arbeitsvertrag in den Händen hat, stimmte nur in Ansätzen – er hatte von dem Arbeitsangebot lediglich von seinem Kumpel erfahren.
Nach seiner Rückkehr eine böse Überraschung: Der Vermieter setzte ihn mit sofortiger Wirkung vor die Tür. Er rief uns spät abends total fassungslos an, so dass sich das Familienoberhaupt am nächsten Morgen sofort auf den Weg gen Offenbach begab, um vor Ort im persönlichen Gespräch dem Vermieter die gängige Rechtslage zu verdeutlichen. Gegen Mittag dann erreichte mich ein Anruf: der Vermieter hatte meinem Mann Videoaufnahmen des Wohnraumes vorgeführt. Die Bilder deuteten darauf hin, dass Frank in den Wochen seiner Arbeitslosigkeit immer mehr abgedriftet war, auch Drogen mussten im Spiel gewesen sein. Hier war nur noch Zusammenpacken, was noch verwertbar war, angesagt.
Unterschlupf fand er vorerst bei seinem Kumpel. Ein paar Anstrengungen bedurfte es schon, um ihn zu überzeugen, dass er sich jetzt sofort wieder zum Arbeitsamt begeben musste, war er doch der Ansicht, er braucht erst eine neue Wohnung, und dann kann er arbeiten gehen.
Es tat schon ein bisschen weh, als die Vermittlerin bei der Arbeitsagentur nach den doch erreichten Erfolgen folgenden Eintrag verfasste: „Kunde meldet sich ohne festen Wohnsitz, Adresse von Teeküche und Erreichbarkeitsbogen ausgehändigt“.
Durch einen Zufall entdeckten wir ein Stellenangebot einer Zeitarbeitsfirma in seiner Nähe im Internet. Drei Tage später hatte er eine Festeinstellung in der Werkstatt eines Autohauses mit einem guten Stundenlohn. Zwar musste er täglich für eine Strecke 30 km fahren, aber er konnte in den ersten Wochen das Auto seines Freundes nutzen.
Die Freude über ein eigenes kleines Gebrauchtauto – wir hatten ihm das Geld geliehen – währte nur zwei Tage – dann war es ein „wirtschaftlicher Totalschaden“. Zum Glück war der Unfallgegner der Schuldige, auch wenn wir mehrere Variationen des Unfallhergangs zu hören bekamen und erst an seine Unschuld glauben konnten, als die Versicherung wirklich zahlte.
Inzwischen hatte er auch wieder eine eigene Wohnung, aber nur, weil ihn der Kumpel endgültig vor die Tür gesetzt hatte.
Unsere Ratschläge und unsere Hilfe waren weiterhin gefragt. Auch wenn es um Mitternacht war, weil er sich gerade sehr über die neue gesponserte Waschmaschine wunderte, auf die er sich beim Schleudern daraufsetzen musste.
Vor einiger Zeit ist er wieder in unsere Nähe gezogen, weil er immer noch die Unterstützung im Alltag benötigt. Schwierigkeiten bei der Einteilung seines Geldes treiben ihn immer wieder in die drohende Obdachlosigkeit, die Gläubiger sitzen ihm permanent im Nacken. Frank bemüht sich ernsthaft, ein eigenständiges Leben zu führen und seinen Lebensunterhalt selbst zu erarbeiten und ist froh, dass er seinen Platz in unserer Großfamilie nie verloren hat