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Ein ganz normales Leben ... oder mein Leben mit Kindern!
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,Neiiiin!" Völlig verschwitzt schrecke ich aus meinem Traum auf. Ich weiß nicht mehr, was mich so erschüttert hat, da fällt mein Blick auf den leeren Stuhl. ,Um Himmels Willen,wo ist meine Tasche, wo ist mein Schlüssel?" Suchend schaue ich mich um und versuche mich zu erinnern. Nun fällt mir ein, dass die Kinder ja alle - zum ersten Mal seit Jahren - verreist sind und ich deshalb meine Tasche mit dem Portemonnaie und den Schlüssel für mein Büro und für den Vorratsraum einfach habe liegen lassen können.
Ein ganz normales Leben - ja das führen wir wohl, weil wir uns vor vielen Jahren auf all die mühseligen, schwierigen Phasen mit den ,fremden" Kindern eingestellt haben. Meinen Beruf als Lehrerin habe ich damals aufgegeben, denn ich musste ausschließlich für die Kinder da sein, um ihnen mit ihren Störungen und Problemen wirklich helfen zu können. Welche Einschränkungen wir tatsächlich in Kauf nehmen, merke ich erst in den Tagen, an denen die Kinder nicht da sind.
Sie kamen irgendwann vor vielen Jahren - alle mit schweren Schicksalen belastet, mehr oder weniger davon beeinträchtigt: Bis zum dritten Lebensjahr bei 15 verschiedenen Menschen, vier Jahre in einem dunklen Zimmer eingesperrt, drei Jahre mit Beruhigungszäpfchen im Bett, nach der Entbindung einfach abgeschoben usw. Die Störungen zeigten sich manchmal erst nach einigen Wochen, manchmal war gerade der Anfang sehr problematisch.
Wir sind stolz - die Symptome der Störungen werden schwächer, die Verletzungen bleiben. Die Rückschritte sind immer besonders schmerzlich, weil man doch schon hoffte, viel mehr bereits überwunden zu haben.
Die Beziehungsstörungen der Kinder aufgrund ihrer Vergangenheit machen den Alltag so mühsam. Die Distanzlosigkeit bei dem einen führt dazu, dass es ständig bei wildfremden Menschen am Arm, auf dem Schoss oder am Hals hängt. Die Angst vor der Nähe macht es bei dem anderen unmöglich, es in den Arm zu nehmen, zu trösten, Zuneigung spüren zu lassen. Aber alle sind sie gleichermaßen auf der Suche nach dem Gefühl von Zugehörigkeit, Bindung, Geborgenheit und weil sie es nicht empfinden können, werden sie zu ,Dieben und Lügnern" - immer in der Hoffnung, das zu finden, was ihnen dieses fehlende Gefühl ersetzt.
Selbstwertgefühl entwickelt sich in den ersten Lebensmonaten/-jahren durch Bedürfnisbefriedigung wie Liebe, Zärtlichkeit, Bindung usw. Es dauert sehr lange oder ist gar unmöglich, dies nachträglich aufzubauen. Die Kinder fühlen sich nicht nur minderwertig, sondern schlecht und nicht liebenswert. Ihre Stärken zu stärken und ihre Schwächen zu akzeptieren ist ein langer Prozess, der nur dann gelingt, wenn es kontinuierliche Bezugspersonen gibt, denen es gelingt, den Kindern das Gefühl zu geben, liebenswert zu sein.
Da fällt mir sofort meine Tochter, heute 21 Jahre alt, ein - eine Geschichte, die sehr schmerzhaft und mühsam begann, über Jahre so blieb und dennoch ein glückliches Ende fand - nach 18 Jahren!! Jahre des Schmerzes, der Trauer, der Verzweiflung, der Verletzungen und dennoch - ich bin so froh und stolz. Sie kam mit 3 1⁄2 Jahren als ,Kurzpflegekind" und wurde angekündigt als ,ganz pflegeleicht", denn sie kam zu jedem sofort auf den Arm und küsste alle. Damals läuteten bei mir noch nicht alle Alarmglocken bei dieser Beschreibung.
Die ersten Wochen vergingen damit, dass ich auf alle Fragen nach Hunger, Durst oder sonstigen Bedürfnissen sehr ängstlich zur Antwort bekam: ,Ich hab Dich lieb!" Ich hätte vorher nie geglaubt, dass ein solcher Satz mich so in Rage bringen könnte. Andererseits hätte ich ihn speichern sollen, denn ich hörte ihn erst nach 18 Jahren wieder. Ansonsten war der Wortschatz sehr gering, wenn man von Schimpfwörtern in Fäkaliensprache und sonstigen sexualisierten, unschönen Bezeichnungen für intime Körperteile absieht. Alltägliche Zärtlichkeiten kannte sie nicht und ließ sie auch nicht zu. Dagegen griff sie Frauen in die Bluse oder zwischen die Beine und Männern in die Hose, was zu manch unangenehmen Situationen führte.
Da sie sehr intelligent war (und ist), lernte sie schnell in ganzen Sätzen zu sprechen, ihr Wortschatz nahm kultiviertere Züge an. Sie benutzte ihre Sprache nunmehr dazu, sich grundsätzlich in den Vordergrund zu spielen, andere zu ärgern oder zu kränken - und das in einer Weise, die mich häufig sprachlos machte, was nicht viele Menschen oder Situationen schaffen. Es war z.T. sehr anstrengend bis unmöglich, die anderen Kinder vor den Intrigen zu schützen. Sie wurde nach einigen Monaten ein ,Dauerpflegekind" - im übrigen ohne erhöhten Pflegebedarf oder wie man bisher sagte: kein heilpädagogisches Kind. Inzwischen hatte ich auch erfahren - nach mehrmaligem, intensivem Nachfragen - dass das Kind "vor unseren Zeit" von 15 Menschen betreut und immer auch mal wieder zwischen Oma (damals 32-jährig) und Mutter (zur Geburt des Kindes 16-jährig) hin- und hergeschoben worden war.
Die Mutter hatte in dieser Zeit zwei weitere Kinder jeweils von anderen Männern bekommen, die aber bald nach der Geburt zur Adoption bzw. in Pflege gegeben wurden. Auch die Oma hatte zur gleichen Zeit wie ihre Tochter entbunden und danach noch zwei weitere Kinder bekommen. Die ersten Monate bei uns hatte Sara noch Kontakt zu der Familie, es wurde aber mit der Zeit immer weniger. Sie hatte in ihren ersten 3 1/2 Jahren gelernt, dass sie keiner liebt, denn sonst hätte man sie nicht immer wieder weggeschickt, dass es von Vorteil ist, dem anderen zu sagen, dass man ihn liebt, dass man alles tun muss, um überhaupt bemerkt zu werden, dass es nur sexualisierte Zärtlichkeiten gibt. An dieser Lehre hielt sie verzweifelt fest.
Wenn ihr Glaube daran erschüttert wurde, tat sie alles, um sich selbst zu bestätigen. Was das heißt? Wenn sie meine Nähe, meine Zuneigung, meinen festen Willen, ihr eine andere Grundlage zu vermitteln, spürte - im Klartext: wenn wir mehr als einen Tag in Harmonie verbrachten, stellte sie irgendetwas an, von dem sie wusste, dass es meinen Unmut erregte - stehlen, lügen, Mobiliar zerstören, die anderen Kinder gegeneinander ausspielen. Wenn ich ihr dann klar machte, dass ich mit diesem Verhalten nicht einverstanden bin, dann schloss sie daraus nur eins, was sie auch lauthals verkündete: Ich weiß ja, dass ihr mich alle nicht ausstehen könnt, dass mich keiner liebt.
Es gab nichts, das für sie irgendeinen Wert darstellte - etwa ihr Zimmer, ein Spielzeug, etwas zu unternehmen, ein Spiel, eine Sportart, Besuch bestimmter Personen, Freunde - nichts. Trotzdem oder gerade deshalb stahl sie von den Geschwistern immer genau das, was denen besonders wichtig war oder störte sie, wenn sie etwas machten - allein oder mit deren Freunden, was ihnen Spaß bereitete. In der Schule gab es leistungsmäßig keine Probleme. Ein Lehrer nannte sie ,klebriger Kaugummi", weil sie ihn ständig verfolgte, ihm das Bein streichelte, nicht von seiner Seite wich. Die Lehrerin fand sie ,süß", weil sie immer so hilfsbereit war und sich auf deren Schoß setzte. Sie glaubte, das Kind bekäme zu Hause zu wenig Zärtlichkeiten und suche bei ihr nun einen Ersatz. Ich war mehr als einmal fassungslos über so viel Unkenntnis bei den Pädagogen.
Meine Tochter hatte inzwischen eine unglaubliche Fähigkeit entwickelt: Wenn sie Menschen kennen lernte, wusste sie in ganz kurzer Zeit, was diese Leute gerne hören wollten und wo deren Schwachpunkte waren - und je nach Situation nutzte sie ihre Kenntnis aus.
Inzwischen wurde ich von ihrer Mutter gefragt, ob ich das Kind adoptieren möchte. Ich habe nicht lange überlegt, weil ich hoffte, dass Sara sich nun nicht mehr gezwungen sah, ständig die Grenzen neu zu testen um zu erfahren, wann ich sie denn nun weggeben würde. Außerdem wollte ich ganz sicher sein, dass die 16. Station in ihrem kurzen Leben auch wirklich die letzte und endgültige ist. Der erhoffte Erfolg blieb aus. Die Zeit der Pubertät war unerträglich für die gesamte Familie. Besonders meine ein Jahr jüngere Tochter litt unsäglich. So entschlossen wir uns, Sabrina wochentags in ein Internat (Gymnasium) zu geben. Wir freuten uns am Freitag sehr auf sie, bei ihrer Abfahrt am Montag früh atmeten wir alle auf.
Nach 1 1⁄2 Jahren holte ich sie zurück, aber in eine eigene kleine Wohnung 600 m von uns entfernt. Nun beginnt der schöne Teil der Geschichte: Sie absolvierte erfolgreich eine Schule, auf der sie einerseits ihr Fachabitur und gleichzeitig eine Berufsausbildung abgeschlossen hat. Nach sehr vielen Bewerbungen arbeitet sie nun außerhalb unseres Wohnortes und hat gerade ihren Führerschein gemacht.
Während der Zeit auf dieser Schule nahm sie Kontakt zu ihrer Herkunftsfamilie auf, zu dem ich sie stets ermuntert habe. Aber erst jetzt fand sie die Kraft und den Mut. Und jetzt geschieht das Unglaublichste, was ich mir bei diesem Kind vorstellen kann: Seither werde ich umarmt und geküsst, ich werde angerufen - nur, um mir zu sagen, dass alles o.k. sei und mich zu fragen, wie es mir denn ginge. Und: ,Mama, ich glaube Dir seit zwei Jahren, dass Du mich wirklich liebst." Mund und Nase buchstäblich offen frage ich: ,Wieso jetzt?" ,Als ich Dir damals erzählt habe, dass ich mich mit Manuela (ihrer Mutter) treffe, wirktest Du so betroffen." Man ist ja auch nur ein Mensch, aber mir kamen die Tränen, die ich verzweifelt versuchte zu unterdrücken. ,Weißt Du denn nicht, wie oft ich in unserem gemeinsamen Leben betroffen war von dem, was Du sagtest oder tatest?" ,Damals war ich dann noch nicht fähig, das zu bemerken." Worte wie Dankbarkeit und Liebe kamen dann auch noch vor. Na, so was - happy end?
Viele Dinge bewältigt sie immer noch nur mit meiner Hilfe, in für sie problematischen Situationen spürt man ihr fehlendes Selbstvertrauen - aber ich bin so stolz und es gibt mir den Mut, bei den anderen noch jüngeren Kindern die Geduld nicht zu verlieren. Aber eins ist sicher: Diesen Erfolg können wir nur verbuchen, weil kein Gutachter versucht hat, ihre Defizite immer wieder neu zu beziffern, von uns die Stärken gefördert und die Schwächen akzeptiert und ausgehalten wurden. Diese Bemühungen darum hörten auch nicht mit dem 18. Lebensjahr auf. Im Gegenteil sie halten noch immer an.