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Die Geschichte von Tim – Bericht eines Verfahrensbeistandes -
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Tim war 7 Monate alt, als er in eine Pflegefamilie kam. Zuvor lebte er mit seiner sehr jungen Mutter einige Monate in einer Mutter-Kind-Einrichtung; anschließend wohnte er mit ihr abwechselnd im Haushalt seiner Großmutter oder bei seinem drogenabhängigen Vater. Seine Mutter war mit seiner kontinuierlichen Versorgung überfordert, Halt und Sicherheit konnten ihr weder ihre Mutter, noch ihr damaliger Freund geben. So entschloss sie sich nach Beratung mit dem zuständigen Jugendamt zu einer stationären Therapie und zur Unterbringung ihres Sohnes in eine Pflegefamilie. Die Pflegeeltern besuchten sie auch einige Male mit Tim in der Klinik, sollte doch der Kontakt zwischen Mutter und Kind nicht abreißen. Nach dem Klinikaufenthalt entschloss sich die Mutter, im Rahmen des betreuten Wohnens ihren Schulabschluss zu machen und ihr Kind weiterhin in der Pflegefamilie zu belassen.
Die Pflegeeltern bestanden auf einer intensiven Umgangskontaktregelung, um auch weiterhin die Beziehung zwischen Tim und seiner Mutter aufrecht zu erhalten. Die erste Zeit klappte dies auch gut, Tims Mutter besuchte ihr Kind im Haushalt der Pflegeeltern, übernachtete auch mal dort. Aufgrund ihrer Unsicherheiten im Umgang mit dem Kind wollte die Pflegemutter sie mit entsprechenden Tipps und Hinweisen unterstützen. Da die Mutter dies als Bevormundung auffasste, zog sie sich zurück und nahm nur noch spärlich Besuche bei Tim wahr. Auch daraufhin vereinbarte Besuchskontakte im Haushalt der Großmutter fanden nur sporadisch statt, meist erschien Tims Mutter verspätet oder gar nicht. Sie wurde wieder schwanger, brach die Schule ab und zog sich dann ganz zurück. Erst Monate nach der Geburt des zweiten Kindes meldete sie sich wieder bei den Pflegeeltern. Die dann vereinbarten Besuchskontakte wurden von der Mutter nur unregelmäßig wahrgenommen. Längst war Tim zwei Jahre in der Pflegefamilie, das Jugendamt hatte bereits die Dauerhaftigkeit der Unterbringung festgeschrieben.
Erst als Tims Mutter ihren heutigen Ehemann kennen lernte, fanden die Besuchskontakte regelmäßig statt. Die Pflegeeltern konnten nun mit der Mutter, die von ihrem Mann unterstützt wurde, verbindliche Regelungen treffen und erleben, wie der Junge sich auf die Besuche bei seiner Mutter freute und auch unbeschwert von diesen wieder heim kam. Sogar zur Hochzeit konnte verabredet werden, dass beide Kinder Blumen streuten und abends gemeinsam von der Pflegemutter betreut wurden. Nach der Geburt des dritten Kindes wurden die Besuchszeiten behutsam ausgedehnt, so dass Tim mittlerweile alle zwei Wochen einen ganzen Tag bei seiner Mutter und ihrer Familie verbrachte. Der Wunsch der Mutter, Tim solle nun auch bei ihr übernachten, wurde auch vom Jugendamt forciert und festgelegt, dass der Junge einmal im Monat dort schlafen solle. Bedenken der Pflegeeltern wurden zu diesem Zeitpunkt übergangen.
Anfänglich verliefen diese Kontakte auch unproblematisch. Das Jugendamt wollte nun diese Regelung intensivieren und schlug vor, dass Tim nun wöchentlich Umgang mit der Kindesmutter pflegen und 14tägig in deren Haushalt übernachten solle. Dies war zu viel für Tim. Er hat überhaupt nicht mehr bei der Mutter übernachten wollen, geschrieen, gegen die Tür getreten und sich die Haare ausgerissen. Die Pflegemutter hatte sich keinen Rat gewusst und hatte Tim zum Jugendamt mitgenommen. Die Kindesmutter erschien ebenfalls mit ihren Kindern dort zum Gespräch. Tim hat sich dort sehr zurückhaltend benommen und mit seinen Halbgeschwistern gespielt. Später sagte er, er habe nicht vor seiner Mutter weinen wollen. Das Jugendamt hat aus diesem Zusammentreffen geschlossen, dass es für den Jungen zumutbar sei, so häufig im mütterlichen Haushalt zu übernachten und ihn als unauffällig bezeichnet.
In der Folgezeit reagierte das Kind jedoch weiterhin auffällig und lehnte den Kontakt mit der Mutter ab. Um Tim nicht weiter zu belasten, haben die Pflegeeltern der Umgangskontaktvereinbarung nicht mehr zugestimmt. Ohne vorherige Thematisierung mit ihnen, wurde dann vom Jugendamt schriftlich mitgeteilt, dass Tim zur Mutter zurückgeführt werden solle. Die Mutter wünschte sich zwar die Rückkehr des Jungen zu ihr, aber war ebenso von dieser Entscheidung überrascht gewesen. Äußerungen einiger Mitarbeiter des Jugendamtes, schließlich hätte Tims Mutter noch die volle elterliche Sorge und könne ihr Kind deshalb jederzeit z. B. vom Kindergarten abholen, führte zur weitern Verunsicherung der Pflegeeltern und weiterer kindlicher Ablehnung der Besuchskontakte. Einen vom Jugendamt initiierten Umgangskontakt in den dortigen Räumen nahmen die Mitarbeiter als Indiz für die enge Beziehung zwischen Mutter und Kind und sahen sich in ihrer Vorgehensweise bestätigt. Die Kindesmutter beantragte nun, den Umgang gerichtlich zu regeln. Parallel stellten die Pflegeeltern einen Verbleibensantrag beim zuständigen Amtsgericht.
Im ersten Termin vor dem Familiengericht ordnete der Richter nach Befragung des Kindes eine vorläufige Besuchsregelung dergestalt an, dass der Junge 14tägig bei seiner Mutter übernachtet, an den Samstagen dazwischen sollte ebenfalls ein Besuchstag stattfinden. Gleichzeitig wurde ich für Tim als Verfahrenspflegerin bestellt und zu Fragen der Rückführung ein psychologisches Gutachten in Auftrag gegeben.
Schon bei den ersten Gesprächen mit den Pflegeeltern und auch mit der Mutter von Tim wurde mir klar, wie tief die Verunsicherungen waren. Jeder misstraute dem anderen. Aussagen wie „die wollen das Kind nur behalten, weil sie das Pflegegeld brauchen“ oder „sie will ihn doch nur zurück, weil er als Babysitter benötigt wird“ waren zu hören. Das Jugendamt, dass den Rückführungsgedanken (der sicherlich zu Beginn des Pflegeverhältnisses auch im Mittelpunkt stand) nach mittlerweile fünf Jahren erneut thematisierte, löste damit eine Welle der Unsicherheit bei den Erwachsenen aus, die das Kind natürlich spürten.
Um sich diesem klassischen Loyalitätskonflikt zu entziehen, verweigerte Tim einfach die Besuche bei seiner Mutter. In behutsamen Gesprächssituationen oder gemeinsamen Spielen vermittelte er mir, dass sein gesamtes Weltbild durcheinander geraten war. Ging er zu seiner Mutter - die er gern besuchte -, hatten Mama und Papa (Pflegeeltern) Angst, ob er wirklich auch wiederkomme. Und er wusste auch nicht richtig, ob er wirklich wieder nach Hause könne. Also beschloss er, gar nicht erst hingehen zu wollen.
Durch die aktuelle Umgangskontaktregelung war die Pflegefamilie in ihrer Wochenendplanung sehr eingeschränkt; ständig mussten neue Absprachen bei Terminverschiebungen getroffen, Alternativen verabredet werden, so dass der eigentliche Familienalltag erheblich zu leiden hatte. Hinzu kam die wachsende Unzufriedenheit bei allen Erwachsenen, die natürlich Tim nicht verborgen blieb. Mit dem Jungen konnte geklärt werden, dass er eigentlich die „Bettina“ (so nannte er seine Mutter) schon besuchen wollte, aber dann auch wirklich wieder nach Hause wolle. Schade fand er auch, dass Unternehmungen mit Mama und Papa zurzeit schwierig waren, ebenso Verabredungen mit Freunden.
Gemeinsam stellten wir Überlegungen an, wie er die Bettina und ihre Familie besuchen aber auch gleichzeitig freie Tage mit Mama, Papa und Freunden im Ort verbringen konnte. Die Idee, abwechselnd ein Wochenende bei seiner Mutter und das andere zu Hause zu verbringen fand er gut, hatte aber Bedenken, dass die Erwachsenen das ebenso sahen. Wichtig waren ihm auch, dass es nur Besuche seien sollen, daher wollte Tim auch nur einmal übernachten. Jede weitere Übernachtung in folge wäre für ihn ein Schritt in Richtung „Wohnen bei Bettina“ gewesen. Bei den nun folgenden Gesprächen mit den Pflegeeltern und mit Tims Mutter gelang es mir, ausschließlich die kindlichen Wünsche und Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen. Beide „Parteien“ konnten den so gemachten Vorschlag als Chance zur Entspannung annehmen.
So wurde der Gerichtsbeschluss zur Regelung des Umgangs einvernehmlich im Kindeswohlinteresse abgeändert. Auf ein Mehr an Übernachtungen z.B. bei gewünschten Ferienregelungen verzichtete die Kindesmutter vorerst. In der Folgezeit trat dann wirklich die gewünschte Entspannung ein: Tim besuchte seine Mutter in einem für ihn klaren und strukturierten Rahmen und konnte an den Freizeitaktivitäten seiner Pflegeeltern teilnehmen. Absprachen und Veränderungswünsche wurden nun über mich als Verfahrenspflegerin geregelt. Ich sprach auch regelmäßig mit Tim über seine Vorstellungen.
Meine vermittelnde Rolle und das Vertrauen in die ausschließliche Parteilichkeit für Tim veranlasste die Kindesmutter einige Zeit später, sich vertrauensvoll an mich zu wenden, um aktuelle finanzielle und partnerschaftliche Probleme zu thematisieren. Hier konnte dann verabredet werden, dass jeweils vor den Umgangskontakten mit mir der eigentliche Umfang des Besuches abgesprochen werde, um so mögliche Belastungen infolge der aktuellen häuslichen Situation von Tim fernzuhalten. Auch dem Jungen konnte die derzeitige Lebenssituation seiner Mutter nahe gebracht werden, man verabredete, dass er jeweils am Besuchsabend gemeinsam mit Bettina entscheiden sollte, ob er bei ihr übernachtet oder nicht. Seine Pflegeeltern waren bereit, ihn dann kurzfristig abzuholen.
Der angemessene und offene Umgang auch mit Krisensituationen ließ bei den Erwachsenen ein Mehr an Verständnis füreinander wachsen. Spürbar wurde dies in der Folgezeit: immer besser konnten die Pflegeeltern und Tims Mutter Absprachen allein treffen, sie informierten mich lediglich hierüber. Auch als sich die krisenhafte Situation im Haushalt der Mutter gelegt hatte, wollten die Erwachsenen die Regelung, dass Tim entscheide, ob er bei Bettina übernachten wolle, beibehalten. Darüber hinaus war es nun auch möglich, dass der Junge seine Mutter besuchte, um mit den Geschwistern zu spielen oder um bei dortigen Feierlichkeiten dabei zu sein. Sagte Tim mal nein zu einem Vorschlag oder passte ein Besuchswunsch nicht in die Terminplanung, wurde dies von allen akzeptiert. Wichtig war der regelmäßige Austausch untereinander, anfänglich von mir moderiert, um möglichen Missstimmungen vorzubeugen. Auch wurde in diesen Gesprächen zukünftige Dinge Tim betreffend besprochen: die Einschulung stand bevor und auch die Taufe des Kindes wurde thematisiert.
Das Ergebnis der psychologischen Begutachtung brachte hervor, was eigentlich allen Erwachsenen bereits bewusst war: „Tim zeigt eine intensive, sichere und emotional positive Beziehung zu seinen Pflegeeltern; diese stellen die Hauptbezugspersonen des Kindes dar. Tim hat zu seiner Mutter eine emotional positive, aber wenig intensive Beziehung aufbauen können. Es wurde deshalb empfohlen, dass Tim in der Pflegefamilie verbleibt und regelmäßig Umgangskontakte mit seiner Mutter und den Halbgeschwistern pflegen kann.“
In dem Termin vor dem Familiengericht wurden sowohl die Umgangsregelung als auch der Verbleibensantrag verhandelt. Die Pflegeeltern, die Kindesmutter und auch Tim (der die Verhandlung Hand in Hand mit mir verfolgte) erklärten, „dass sie mit dem derzeitigen Zustand und dem zurzeit ohne gerichtliche Hilfe getroffenen Regelungen einverstanden sind und möchten, dass dies auch so bleibt.“ Die Verfahren wurden als erledigt erklärt. Das Jugendamt schloss sich dieser Vorgehensweise natürlich auch an.
Beim meinem Abschiedsbesuch hatte Tim ein Bild für mich gemalt: ein Haus mit großen Fenstern und einer großen Tür, er war mit seinen Pflegeeltern im Haus zu sehen; im schönen bunten Garten sah man seine Mutter mit ihrer Familie und hinter dem Haus lugte eine einzelne Person hervor. Auf die Frage, wer dies dann sei, antwortete Tim lächelnd: „Das bist du! Ich habe alle Leute hier gemalt, bei denen ich immer Hilfe bekommen kann!“