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21.05.2008
Erfahrungsbericht

Jakob - und das magische Datum

Der schwierige Weg in die Selbständigkeit. Eine Pflegemutter berichtet.

von Dagmar Mewers

Im Alter von 22 Monaten kam Jakob als Pflegekind zu uns. Das ist Morgen 17 Jahre her.

Mein Bericht handelt also von einem jungen Erwachsenen:

Bereits im März 2004 hatte Jakob mit viel Mühe einen Antrag auf Hilfe für junge Volljährige gestellt: Wollte er einerseits gerne nach Erreichen der Volljährigkeit bei uns wohnen bleiben, fiel es ihm andererseits schwer, den Antrag mit Hinweis auf seine eigenen Schwächen in der Persönlichkeitsentwicklung zu begründen. Es musste ihm auch seltsam anmuten, denn in der Schule lief alles so glatt, dass er nach dem Abschluss der Klasse 10B mit Qualifikation den Besuch einer weiterführenden Schule anstrebte. Jakob begründete also: "Beim Geld muss die Mama mir noch helfen, sonst ist alles immer gleich weg und wenn ich nicht Grenzen gesetzt krieg, bin ich immer nur auf Achse!" Ich bewunderte ihn für soviel Selbsterkenntnis. Für seinen Schlusssatz hätte ich meinen großen Sohn allerdings umarmen können: "Und schließlich ist hier mein Zuhause, hier fühl ich mich doch geborgen."

Dem Antrag folgte eine Zeit des Wartens auf den Bescheid, die Jakob offensichtlich doch mehr verunsicherte, als er zugeben wollte. Häufig erkundigte er sich nach Post vom Jugendamt und die große Frage "Was wird denn nun aus mir?" schien ihm dabei auf die Stirn geschrieben. Zigmal versicherten wir ihm, dass er in jedem Fall bei uns bleiben könne, er doch unser Kind sei unabhängig von dem Bescheid. Doch der schien ihm wichtig, und so war Jakob sehr glücklich, als sein Antrag positiv beschieden und seine Hilfe für junge Volljährige bis November bewilligt war.

In der Folgezeit erlebten wir Jakob sehr rührig. Er plante seinen Führerschein, öffnete sich neben der Möglichkeit, weiter die Schule zu besuchen noch Chancen auf dem Ausbildungsmarkt, indem er Bewerbungen schrieb mit einem sehr ansehnlichen Zwischenzeugnis. Seinen früheren Traumberuf des Gärtners hatte er verworfen. Nun wollte er Polizist werden oder Garten- und Landschaftsbau studieren.

Wir waren begeistert. Endlich entwickelte Jakob die Initiative, die wir uns immer von ihm gewünscht hatten. Hatte er früher immer einen Anstoß gebraucht, so schien er nun selbständig Perspektiven zu entwickeln. Die "Null- Bock- Phase" war offensichtlich überwunden.

Seinem 18. Geburtstag fieberte Jakob entgegen. Er wollte seinen großen Tag mit einer Riesenfete im Garten feiern und organisierte und plante schon Wochen im Vorfeld. Jakob war restlos glücklich, als ihm nachts 28 junge Leute und wir zum Geburtstag gratulierten. Endlich volljährig. Er hatte es geschafft, er war himmelhochjauchzend.

Umso ernüchternder war der nächste Tag: Jakob hatte deutlich zuviel getrunken, stand vor den Trümmern einer langen Nacht und offensichtlich auch vor den Scherben seiner Illusion, dass am Tag des 18. Geburtstages mit einem Mal alles ganz anders ist. Der große Knall war ausgeblieben, die Welt drehte sich ganz normal weiter. Deutlich missgelaunt verbrachte Jakob die nächsten Tage und Sätze wie. "Ihr habt mir jetzt nichts mehr zu sagen!" kamen immer häufiger.

Vier Tage nach seinem Geburtstag legte er mir einen blauen Brief der Schule auf den Tisch, aus dem hervorging, dass sein Schulabschluss durch zwei fünfen in Hauptfächern gefährdet war. Er trug ihn schon seit einer Woche mit sich herum. Der Brief war an uns adressiert und die Schule drängte auf unsere Unterschrift und ein Gespräch. Die Diskussion, die nun folgte, war heftigst. Es stellte sich heraus, dass Jakob alle Aktivitäten nur zum Schein getätigt hatte: Seine Bewerbungen hatte er zwar mit unserer Hilfe geschrieben, jedoch im Mülleimer versenkt, anstatt sie in den Briefkasten zu befördern, für die Schule hatte er schon Monate nichts mehr getan. Er hatte eine Scheinwelt aufgebaut, um bis zur Volljährigkeit Ruhe vor "entnervenden Diskussionen" mit uns zu haben. Sein Sparbuch, auf das wir alle – auch Jakob selbst- für Führerschein und Auto eingezahlt hatten, hatte er sich aus unseren Unterlagen genommen und restlos abgeräumt. Fast dreitausend Euro hatte er in eineinhalb Jahren in Getränke, Hamburger und Taxifahrten umgesetzt.

Wir waren geschockt. Wir fühlten uns hintergangen, ausgenutzt und betrogen. Ich war endlos traurig und verzweifelt. Hatte er selbst von Geborgenheit bei uns gesprochen, so hatte er nun ganz viel Vertrauen zerstört. Das alles machten wir Jakob deutlich. Daraufhin verließ er total erbost das Haus. Sollte das nun das Ende sein, wollte Jakob die Beziehungen zu uns abbrechen? So jedenfalls hatte er sich im rausgehen geäußert.

Nach einigen Stunden meldete sich Jakobs Patenonkel- ein guter Bekannter von uns – und teilte uns mit, dass Jakob dort angekommen sei. Er sagte uns, Jakob habe ihn um Rat gebeten, man wolle sich jetzt besprechen und uns später noch einmal anrufen, um uns mitzuteilen, zu welchem Entschluss Jakob gekommen sei. Gegen 0 Uhr 40 wurden uns schließlich Jakobs Bedingungen für seine Rückkehr genannt. Er wollt nicht mit uns persönlich sprechen, stattdessen wollte unser Sohn eine "zweiwöchige Familienauszeit" nehmen. Dennoch sollte mein Mann ihn zum Gespräch in die Schule begleiten. Jakob wollte eine Lehre bei seinem Patenonkel als Gärtner machen.

Gegen Jakobs "Familienauszeit" hatten wir allerdings Einwände: Zum einen konnte sich niemand aus unserer fünfköpfigen Familie "Auszeiten" nehmen, zum anderen schien es uns nicht angesagt, vor dem Konflikt, der ja hier noch ungelöst im Raum stand, weg zu laufen. Also baten wir Jakob, am nächsten Tag nach der Schule nach Hause zu kommen, um dann miteinander zu sprechen.

Morgens rief ich meine Beraterin an, um ihre Meinung zu unserem Problem zu hören. Mir selbst fehlte einfach die Distanz. Ich schilderte den ganzen Sachverhalt, sprach über meine Gefühle und mein Gekränktsein. Sie unterbrach mich nicht, nur zum Schluss stellte sie fest: "Und Jakob geht’s ziemlich schlecht, der ist wohl total verwirrt und weiß mit seiner Volljährigkeit überhaupt nicht um zu gehen." Sie lenkte meinen Blick weg von meiner eigenen Betroffenheit auf Jakobs Nöte, die ich bei dem ganzen Gerede der letzten Monate um eigene Verantwortung und Erwachsensein offensichtlich aus den Augen verloren hatte.

Als Jakob mittags kam, fühlte ich, wie Recht sie gehabt hatte. Der Junge war kaum in der Lage mich anzuschauen und auf meine Frage, ob er hungrig sei, antwortete er ganz kleinlaut: "Nee, eigentlich nicht so richtig, aber macht es dir was aus, mich mal zu drücken oder bist du noch immer so traurig?" Natürlich war ich nicht mehr so traurig und so begann denn unser Gespräch mit Tränen, sicherlich vor Scham, weil wir den anderen und seine Bedürfnisse so wenig erkannt hatten, andererseits vor Erleichterung, dass wir nun die Tür zum Gespräch geöffnet hatten.

Im Folgenden sprach Jakob sehr offen über seine Verunsicherung. Einerseits war er nun volljährig und fühlte sich erwachsen und groß, andererseits fehlte ihm die Grundlage für eine eigene Handlungsfähigkeit. Betroffen gemacht hat mich auch die Feststellung von Jakob : "Ihr seid doch jetzt nicht mehr meine Eltern. Ich bin doch jetzt nicht mehr euer Pflegekind. Ihr habt ja so jetzt per Gesetz nichts mehr mit mir zu tun. Du bist nicht mehr mein Vormund. Was bin ich denn jetzt überhaupt?" Seine selbstverständliche familiäre Zuordnung zu uns, wie er sie in seinem Antrag formuliert hatte, schien auf einmal ins Wanken geraten zu sein. Mein Mann und ich versicherten ihm, dass sich an unseren menschlichen Beziehungen durch seine Volljährigkeit nichts geändert hat. Wir redeten an diesem Abend stundenlang über unsere gemeinsame Zeit, wie er zu uns gekommen war, über Problemsituationen und wie wir sie gemeinsam gemeistert hatten. Jakob wollte alles noch einmal hören.

Das ist nun vier Monate her: Jakob ist inzwischen Auszubildender im Garten- und Landschaftsbau. Er hat doch seinen Traumberuf gewählt- davon sind wir alle überzeugt- und ich bin froh, dass er sich gegen uns durchgesetzt hat. Bezüglich seines Geldes habe ich mich durchsetzen können. Jakob führt nun über alle Ausgaben Buch, denn er spart für seinen Führerschein. Soeben kommt er von der Arbeit nach Hause, schaut mir über die Schulter, liest meinen Bericht, grinst übers ganze Gesicht und sagt: "Na, Mudder, machste Vergangenheitsbewältigung?"

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