Sie sind hier
Leben mit traumatisierten Kindern - 4. Beispiel
Ein erfahrenes Pflegeelternpaar überlegte sich, erneut ein Pflegekind aufzunehmen. In der Vorstellung der Pflegeeltern konnte das Kind durchaus älter sein. Es war den Pflegeeltern klar, dass das Kind eine schwierige Vorgeschichte haben würde. Als einzigen Punkt in dieser Hinsicht glaubten sie, sich nicht den Umgang mit sexuellem Mißbrauch zutrauen zu können. In den Gesprächen beim Jugendamt machten sie dies deutlich.
So kam ein 7jähriges Mädchen zu ihnen, aus einer Familie, die schon seit 8 Jahren vom Jugendamt betreut wurde. Vorher war das Kind einige Monate in einer Bereitschaftspflege gewesen. Nach einiger Zeit wurde deutlich, dass das Kind dauerhaft in der Pflegefamilie bleiben würde. Als dies auch dem Mädchen klar wurde und es sich dessen sicher war, begann es, die Pflegemutter ins Vertrauen zu ziehen und über ihre Erfahrungen zu sprechen. Diese Erfahrungen waren Erfahrungen sexualisierter Gewalt.
"Wir wollten ja auf keinen Fall ein Kind mit solcher Vorgeschichte“ erklärte die Pflegemutter „aber wo es sich mir doch jetzt anvertraut hatte, können wir doch nicht sagen, nun musst du gehen."
Nach und nach kristallisierte sich heraus, dass das Kind aus einer Herkunftsfamilie mit sexuell sehr weiten Grenzen kam. Das Kind hat das sexuelle Leben der Eltern voll mitbekommen und zugeguckt. Es hat viel Gewalt und reichliche Übergriffe gegeben. Für das Kind gehören sexuelle Handlungen nicht ausschließlich zur Liebe zwischen Erwachsenen sondern auch zur Liebe zwischen Erwachsenen und Kindern.
So bietet sich Caren der Pflegemutter an: "Trockne mir die Scheide ab", sagt sie auffordernd zur Pflegemutter. "Nein das mache ich nicht, weil du das ja eigentlich gar nicht willst und es dir außerdem weh tut" antwortet die Pflegemutter. Und Caren antwortet: "Ja das stimmt".
Sie robbt an der Pflegemutter rauf und runter und beklagt sich dann: "Du machst ja gar nichts". Als die Pflegemutter fragt "Willst du das denn" antwortet sie "eigentlich nicht" und trotzdem geht sie unzufrieden ins Bett, weil sie das Gefühl hat, dass die Pflegemutter nicht RICHTIG mit ihr geknudelt hat.
Wenn Freunde zu Besuch kommen fragt sie deren Kinder: "Küsst dich dein Vater auch mit Zunge?" Obwohl das, was der Vater machte einerseits in ihren Augen Zeichen von Liebe sind, sagt sie andererseits: "Väter sind schlecht."
Schöne Momente in der Pflegefamilie beendet sie rabiat, weil sie Angst hat, der Pflegevater könnte ihr näher kommen. Sie könnte beginnen, ihn vielleicht zu mögen.
Es gibt zwei Punkte, die für die Pflegemutter im Umgang mit Caren von besonderer Bedeutung sind:
1. Die schwierige Beziehung und das verletzende Verhalten des Kindes ihrem Mann - dem Pflegevater - gegenüber und der Versuch des Kindes, die Pflegeeltern zu spalten.
Caren überträgt ihre Erfahrungen mit dem leiblichen Vater auf den Pflegevater. Sie hat einerseits Angst, er würde mit ihr etwas tun, was sie nicht will, andererseits fühlt sie sich vom Pflegevater nicht angenommen WEIL er nicht das mit ihr macht, was der Vater gemacht hat. Sie lehnt den Pflegevater ab, weil er ihr nicht die ihr vertrauten Zeichen der Liebe gibt, hat aber Angst, dass er dies tun könnte.
Sie sagt: Vater küsst immer so eklig und Väter dürfen immer alles und deswegen will ich keinen Vater mehr.
Bei einem gemeinsamen Verwandtenbesuch, bei der die Pflegemutter noch eine Weile etwas zu erledigen hatte, der Pflegevater und Caren aber schon einmal nach Hause gehen sollten weil es schon spät war, sagt sie: "Wenn ich schon mit ihm nach Hause gehen soll, dann soll er mich auch gebrauchen." "Ja wie gebrauchen" fragte die Pflegemutter nach. "Kann ich nicht so richtig ausdrücken, gebrauchen, eben wie so ein richtig liebes Kind." "Papa darf das nicht, das macht man nicht mit Kindern". "Aber klar doch darf er, Väter machen das doch" ist Carens Antwort.
Während der Pflegevater mit diesem widersprüchlichen und verletzenden Verhalten verhältnismäßig locker umgehen kann, ist die Pflegemutter dadurch sehr berührt.
"Man muss als Frau vertragen können, das der Mann vom Pflegekind so behandelt wird".
2. Die Pflegemutter fühlt sich durch das grenzüberschreitende Verhalten des Pflegekindes durchaus sexuell belästigt. Sie fühlt sich durch das Pflegekind bedrängt. Die Handlungen des Kindes empfindet sie als sexuelle Übergriffe. "Das ist kein Schmusen, sondern ein zielgerichtetes Handeln und Anfassen" sagt sie.
Dieses Verhalten des Kindes steigerte sich noch, als es nach einem Wochenendbesuch bei einer lesbischen Tante und deren Partnerin zurückgekommen ist. "Es gibt kein normales Familienleben mehr", sagt die Pflegemutter "kein ruhiges, harmonisches Familienleben mehr".
Die Pflegemutter hat das Jugendamt über die Erfahrungen des Kindes informiert. Sie hat lange darüber nachgedacht, ob dies nicht ein Vertrauensbruch dem Kind gegenüber ist. Sie hat sich jedoch zu dem Schritt entschlossen, weil sie erstens wissen wollte, ob im Amt wirklich keine Ahnung davon war und zweitens um gegenüber weiteren Entwicklungen bis hin zu evtl. zukünftigen Anschuldigungen von Caren vorzubeugen.
Im Jugendamt hieß es: "Ja vor zwei Jahren war da wohl schon mal was, aber das konnten wir ja nicht beweisen". Außerdem möchte das Jugendamt nicht, dass die Pflegeeltern mit Caren die Situation besprechen.
Der sexuelle Missbrauch ist nicht Carens einzige Erfahrung. Dieser Missbrauch bündelt sich mit anderen Erfahrungen wie verlassen werden, Gewalterfahrung, dass Vater Mutter prügelt und sexuelle Übergriffe des Vaters gegenüber Mutter und Schwestern.
"Wir wissen gar nicht was gewesen ist. Hat er die älteren Schwestern benutzt, wie weit hat er sich an IHR vergangen, was ist ihr selber geschehen, was hat sie zugucken müssen, was ist in den aggressiven Ausbrüchen gegenüber der Mutter passiert?" rätseln die Pflegeeltern.
Carens Gewalterfahrung spüren die Pflegeeltern besonders dann, wenn die Pflegeeltern kuscheln oder sich küssen. Dann will das Kind die Pflegemutter vor dem Pflegevater beschützen.
Von besonders hilfreicher Bedeutung in dieser Familie ist die absolute Klarheit und Deutlichkeit der Pflegemutter im Umgang mit Caren. Es ist ihr wichtig, dem Kind zu vermitteln, dass sie und der Pflegevater zusammengehören und ein Paar sind.
Wenn Caren sagt: "Ich habe Angst vor dem Pflegevater" dann sagt die Pflegemutter nicht "dann komme zu mir" sondern sie sagt "du brauchst vor ihm keine Angst zu haben, er tut dir nichts".
Wenn Caren fragt "wen hast du lieb" dann antwortet Pflegemutter "den Ralf, den habe ich am liebsten".
"Es muss völlig klar sein," sagt die Pflegemutter "dass wir nicht auseinander zu dividieren sind, sonst würde sich die Tür für Beschuldigungen des Kindes gegenüber dem Pflegevater weit öffnen."
Die Pflegeeltern haben große Angst, dass Caren einmal erzählen könnte, der Pflegevater habe sich an ihr vergriffen – und wenn sie es nur sagt, um nicht zugeben zu müssen, dass er sie "nicht mag" in dem verqueren Sinne, wie sie seine Gefühle ihr gegenüber einschätzt, weil er ja nicht "Zeichen" der Liebe setzt, so wie sie es (noch) versteht.
Es ist daher für die Pflegeeltern äußerst wichtig, dass sowohl diese früheren traumatischen Erfahrungen des Kindes, die jetzt durch ihr Verhalten in der Pflegefamilie deutlich geworden sind, als auch das Verhalten selbst im Hilfeplan festgehalten werden, denn die Gefahr der Beschuldigung ist extrem hoch.
Wenige Monate nach dem die Pflegemutter dies alles erzählt hat, ist genau das Befürchtete eingetreten. Caren hat den Pflegevater des sexuellen Missbrauchs bezichtigt.