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27.05.2008
Erfahrungsbericht

Eine Welt bricht zusammen, weil ein Löffel zu Boden fällt

Wenn den viereinhalbjährigen Kevin (Name von der Redaktion geändert) die Wut packt, sieht sein Zimmer nachher aus, als ob ein Orkan hindurchgezogen wäre. Kreuz und quer liegen die Trümmer des Ausrastens, einmal klaffte sogar in der Zimmertür ein Loch.

von Katja Rauch

Myriam und Pius Ryffel merkten, dass es so nicht weitergehen konnte. Ein Kind wie Kevin braucht neben der Pflegefamilie eine umfassende Unterstützung.

Wenn den viereinhalbjährigen Kevin (Name von der Redaktion geändert) die Wut packt, sieht sein Zimmer nachher aus, als ob ein Orkan hindurchgezogen wäre. Kreuz und quer liegen die Trümmer des Ausrastens, einmal klaffte sogar in der Zimmertür ein Loch. Dabei hatte alles ganz ruhig angefangen. Mit 15 Monaten kam Kevin in die heilpädagogische Pflegefamilie Ryffel.

"Er war am Anfang sehr pflegeleicht. Wir waren fast etwas erstaunt, warum er in einer heilpädagogischen Pflegefamilie sein soll", erinnert sich der Pflegevater Pius Ryffel. Nach gut einem Jahr fängt Kevins Verhalten jedoch an zu kippen, zuerst wenig, dann immer mehr. Auf kleinste Irritationen hin fliegen nun die Fetzen: Der Junge schimpft, schreit und schlägt wild um sich. "Und selber ist man hilf- und machtlos und weiss nicht, wie man das Kind wieder herunterholen kann", so Pius Ryffel. Ein Auslöser für einen solchen Ausbruch konnte zum Beispiel sein, dass die Pflegemutter einkaufen ging, was dem Jungen Angst machte, weil er es nicht einordnen konnte: Wohin geht sie? Wieso muss er dableiben? Kommt sie wirklich wieder zurück?

Zuerst an Trotzphase geglaubt

Zuerst haben die Pflegeeltern dies einfach als starke Trotzphase genommen. Sie dachten, es werde vorbeigehen. Aber es ging nicht vorbei, sondern verstärkte sich immer mehr. Kevin fing auch an, sich selber zu verletzen. Einmal schlug er den Kopf so auf den Tisch, dass das Blut nur so aus der Nase spritzte. Wenn er sich in etwas hineingesteigert hatte, konnte er sich fast nicht mehr beruhigen. Was bei ihren anderen Pflegekindern und bei ihren eigenen drei lebhaften Kindern jeweils funktioniert hatte, zeigte bei Kevin keine Wirkung: Weder nützte es, ihn für ein paar Minuten ins Zimmer zu schicken, noch, ihn in den Arm zu nehmen und festzuhalten.

Kevin schottete sich körperlich ab und liess sich nicht trösten. In der letzten, ganz schwierigen Zeit konnte sein Wüten manchmal zwei Stunden dauern. "Es kam dann eine Provokation nach der anderen", erzählt Myriam Ryffel. "Ich hatte manchmal das Gefühl, je ruhiger wir reagierten, desto heftiger provozierte er und versuchte, das Ganze weiterzuziehen."

Pius und Myriam Ryffel sind erfahrene professionelle Pflegeeltern, aber schliesslich kamen auch sie an ihre Grenzen: "Wir haben gemerkt, dass wir das in dieser Intensität mit ihm nicht durchhalten können. Kevin hat uns als Eltern dermassen absorbiert, dass die anderen Kinder zu kurz kamen. Es gab Phasen, wo er Einzelbetreuung brauchte, wo entweder die Praktikantin oder jemand von uns beiden mit ihm durch den Tag ging." So teilten die Pflegeeltern dem Versorger und der Herkunftsfamilie mit, dass sie die Platzierung ernsthaft in Frage gestellt sahen, wenn es nicht in absehbarer Zeit gelänge, die Situation zu verbessern.

Psychologische Abklärung

Am Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst (KJPD) des Kantons Zürich wurde darauf eine Abklärung durchgeführt.

Erstens sollten die Hintergründe von Kevins Schwierigkeiten geklärt und zweitens Hilfsmittel und Strategien erarbeitet werden, um den Umgang mit ihm zu erleichtern. Zu den Hintergründen: Kevin lebte als Baby lange in der Maternitée, weil seine Eltern Drogen konsumierten. Dann versuchten die Eltern, ihn selbst zu betreuen, aber das gelang nicht, worauf das Baby zu den Grosseltern kam und später bei der Familie Ryffel platziert wurde.

Die erste Phase in Kevins Kindheit war somit eine schwierige Zeit. Er lebte ohne konstante Betreuung, wurde zeitweise gar vernachlässigt und konnte dadurch nie eine richtige Bindung entwickeln. Pius Ryffel formuliert es so: "Das Kind hat das Gefühl, nirgends richtig aufgehoben zu sein und keinerlei Sicherheit zu haben. Auch eine innere Sicherheit und Stabilität ist deshalb nicht vorhanden, und beim geringsten Anlass fällt alles auseinander: Ein Löffel, der zu Boden fällt, und es bricht eine Welt zusammen. Und die Art und Weise zu erleben, wie eine solche Welt zusammenbrechen kann, ist schon etwas Gewaltiges."

Mitspielen dürfte bei Kevins Schwierigkeiten zudem eine hirnorganische Komponente, möglicherweise eine so genannte ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) oder POS, wie man früher sagte. Da sein kleinkindliches Verhalten eine genaue testpsychologische Untersuchung noch nicht zuliess, liegt diesbezüglich jedoch noch keine sichere Diagnose vor.

Teufelskreis

Alles zusammen führte bei Kevin zu grossen Entwicklungsverzögerungen, insbesondere bei der Sprache. Er kann sich nicht so ausdrücken, wie er will, und wird immer wieder auf frustrierende Art missverstanden. In vielem, so das Ergebnis der Abklärung, befindet sich der viereinhalbjährige Junge erst auf dem Stand eines Zwei- oder Zweieinhalbjährigen.

Für die Pflegeeltern erklärt sich dadurch viel: "Er merkt, dass er Sachen nicht so gut kann wie die anderen Kinder, und oft wird er deshalb beim Spielen ausgeschlossen. Dadurch wird er immer wieder frustriert. Er reagiert aggressiv und destruktiv, pfuscht ins Spiel, wird darauf wieder zurückgewiesen und reagiert erneut aggressiv. In diesem Teufelskreis haben sich seine Verhaltensmuster wohl ein Stück weit chronifiziert."

Sprechen wie mit einem Kleinkind

Inzwischen gehen die Pflegeeltern auf Kevin oft ein wie auf einen Zweijährigen: Sie sprechen mit ihm so einfach, wie man mit einem Kleinkind spricht, und sie schaukeln und wiegen ihn, als ob sie einen viel kleineren Kinderkörper im Arm hielten. Sie haben den Eindruck, dass ihn das beruhigt.

Auch Zita Stoltenberg-Zehnder, Psychologin an der Regionalstelle Winterthur des KJPD, hält eine solche Haltung für wichtig, um Überforderungen zu vermeiden: "Ein Kind, dessen Sprachentwicklung verzögert ist, kann die Welt nicht so verarbeiten, wie es seinem Alter entspräche; das geht immer zusammen." Beispielsweise könne es schon zu viel sein, einem solchen Kind im gleichen Satz aufzutragen, zuerst im WC das Licht löschen zu gehen und anschliessend wieder herzukommen. "Wenn das Kind dies nicht tut, wirkt es vielleicht wie eine Verweigerungshaltung, dabei hat es die doppelte Anweisung einfach nicht verstanden."

Regression oder Aggression

Ein Kind, das sich ständig so überfordert fühlt, hat laut Stoltenberg-Zehnder zwei Möglichkeiten zu reagieren: Einige regredieren, werden apathisch und interesselos. Andere werden aggressiv. Die Aggression ist für sie eine Überlebensstrategie, um auf sich aufmerksam zu machen: "Ein Appell an die Aussenwelt, dem Kind zu helfen, dass es sich wieder spürt, wieder weiss, was oben und unten ist, wieder eine Ordnung findet in seiner Wahrnehmung."

Die Psychologin betont denn auch, wie wichtig für Kinder mit Entwicklungsverzögerungen eine ganz klar geregelte Tagesstruktur ist. Das Kind muss immer voraussehen können, was kommt: zuerst Frühstück, dann die Katze füttern, dann einkaufen gehen. Sonst reagiert das Kind, indem es ausser sich gerät.

Die Pflegeeltern empfinden es als herausfordernde Gratwanderung, Kevin einerseits vor entmutigenden Frustrationen zu schützen, ihn aber andererseits auch so zu fördern, dass er in seiner Entwicklung weiterkommt. Die Psychologin Stoltenberg-Zehnder weist indes darauf hin, dass die Förderung auch delegiert werden kann: "Wenn die Förderung stets innerhalb der Familie geschieht, kann dies zu einem Leistungsdruck führen. In der Familie ist das Wichtigste, dass das Kind so akzeptiert wird, wie es ist." Wenn Kevin also gehalten wird wie ein Zweijähriger, kann er sich entspannen und dadurch viel eher aufholen.

Heilpädagogische Früherziehung

Im Sinne einer delegierten Förderung kümmert sich seit kurzem eine heilpädagogische Früherzieherin um Kevin. In einem geschützten Rahmen soll das Kind mit ihr lernen, seine Möglichkeiten zu erweitern. "Das Problem bei solchen Kindern ist, dass sie sehr schnell aufgeben, wenn sie merken, dass sie etwas nicht können", erklärt die Früherzieherin Käthi Mazenauer. Als Erstes hat sie deshalb geschaut, wo sie Kevins Interesse wecken und ihn dazu bewegen könnte, auf etwas einzusteigen und dranzubleiben. "Das Ziel ist, dass er Erfolgserlebnisse bekommt und merkt, dass er etwas kann."

Einmal pro Woche kommt Käthi Mazenauer zu Kevin in die Pflegefamilie, und einmal besucht der Junge bei ihr eine Kleingruppe aus Kindern mit ähnlichen Schwierigkeiten. Im Unterschied zu einer normalen Spielgruppe kann die heilpädagogische Früherzieherin hier vermitteln, wenn zum Beispiel die anderen Kinder Kevin nicht verstehen.

Auf diese Weise kann Kevin bessere, motivierendere Erfahrungen in einer Gruppe sammeln als bisher. "Im Hinblick auf den Kindergarten ist es zudem wichtig, dass er andere Möglichkeiten kennen lernt, als einfach draufloszuhauen, wenn es Schwierigkeiten gibt", sagt Mazenauer.

Entspannung durch Entlastungsfamilie

Um der Familie Ryffel etwas Erleichterung zu verschaffen, wurde für Kevin auch eine Entlastungsfamilie gefunden, bei der er nun regelmässig Wochenenden und hin und wieder Ferien verbringen kann. "Jetzt haben wir zwischendurch wieder Zeit zum Aufatmen", sagt Myriam Ryffel, "nun kann ich mich auch wieder den anderen Kindern widmen und habe endlich wieder das Gefühl, dass ein pädagogisches Arbeiten möglich ist." Aber auch Kevin scheint die Entlastungsfamilie gut zu tun. Die Kinder dieser Familie sind alle schon fast erwachsen und stellen für Kevin keine Konkurrenz dar. "Für ihn ist es entspannend, einmal aus der Grossfamilie herauszukommen und nicht unter dem sozialen Stress zu stehen, sich behaupten und mit den anderen Kindern mithalten zu müssen", ist der Pflegevater Pius Ryffel überzeugt.

Perspektive für ein Jahr

Vor der Abklärung durch den KJPD hatten Myriam und Pius Ryffel die Perspektive verloren. Nur noch die Angst war da gewesen, wie das alles weitergehen sollte, wenn Kevin immer grösser und stärker wurde. Inzwischen haben sich die Pflegeeltern erfolgreiche Hilfestellungen organisiert und auch wieder eine Perspektive gefunden - nicht auf lange Sicht, aber immerhin für ein Jahr. Danach entscheiden sie wieder.

"Mir ging oft durch den Kopf, was allein erziehende Mütter, die niemanden haben, mit einem solchen Kind machen", sagt Myriam Ryffel. Die Pflegemutter verstand, dass es Eltern gibt, die in einer solchen Situation dem Kind etwas antun. "Ich spürte die Nähe von dem, was da ablaufen kann, wenn man völlig allein ist." Myriam Ryffel findet es deshalb ganz wichtig, dass man ehrlich ist mit sich selber, und sagt: "Jetzt muss ich auf Distanz gehen."

Dies ist denn auch die Strategie, die die Pflegeeltern inzwischen wann immer möglich anwenden, um sich selber zu entlasten und Konflikte mit Kevin nicht noch weiter anzuheizen: ausweichen, sich zurückziehen, zum andern sagen: "Jetzt musst du." Wenn nämlich jemand Unbeteiligter ins Spiel kommt, gelingt manchmal die Unterbrechung der Spirale aus Frust und Aggression. Manchmal braucht es sogar erstaunlich wenig: "Es kann schon reichen, dass der Unbeteiligte sich einfach zu ihm hinsetzt."

Familiäre Muster durchbrechen

Myriam und Pius Ryffel möchten die Beziehung zu Kevin nicht abbrechen. Sie erzählen von Kevins Mutter, die als Kind ebenfalls in einer Pflegefamilie lebte. Jene Familie vermochte das Mädchen nicht zu tragen, also kam es in die nächste und übernächste Familie und schliesslich in ein Heim, wo es auch nicht besser ging. Für die Pflegeeltern bedeutet dies einen Ansporn: "Wir möchten die Wiederholung davon bei Kevin vermeiden", sagt Pius. Und Myriam ergänzt: "Eine unserer wichtigsten Aufgaben als heilpädagogische Pflegefamilie ist es, solche Muster zu durchbrechen." So hoffen denn die beiden von ganzem Herzen, dass es ihnen und Kevin gelingt, ihren gemeinsamen Weg zu meistern.

Der Artikel erschien in der Zeitschrift für das Pflegekinderwesen Netz, Ausgabe 4/2002 "Schreien, Schlagen, Toben. Aggressionen bei Pflegekindern". Netz wird herausgegeben von der Pflegekinder-Aktion Schweiz.

Wir bedanken uns herzlich bei der Autorin Katja Rauch für die Erlaubnis, den Artikel in moses-online zu veröffentlichen.

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