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„Eigentlich war Schule so ein Treffpunkt mit Freunden“ - Pflegekinder in der Schule
Themen:
Im Erleben vieler Pflegeeltern besetzt die Schule eine zentrale, oft belastende Position im Familienalltag. Gleichwohl ist das Thema Pflegekinder in der Schule bislang in der Literatur und in den Fachdiskussionen rund um das Pflegekinderwesen wenig präsent. Die Frage, wie relevant Schule im Pflegekinderalltag ist und wie Pflegekinder selbst die Schule einschätzen wurde bisher noch kaum gestellt.
Jugendhilfe und Schule haben beide einen Bildungs- und Erziehungsauftrag, der sich an eine weitgehend gleiche Gruppe von Kindern, Jugendlichen und ihre Familien richtet. Beide Systeme verfolgen das gemeinsame Ziel, die Erziehung und Bildung junger Menschen zu fördern, weisen aber unterschiedliche Handlungskonzepte, -strategien und verschiedene Organisationsebenen auf. So hat Schule einen eigenen Erziehungsauftrag, Jugendhilfe nur in Verbindung mit dem Elternwille und/oder einer Gefährdung des Kindeswohls; Jugendhilfe ist primär geprägt von dem Prinzip Freiwilligkeit oder wiederum einer akuten Gefährdungslage für ein Kind, Schule von dem Prinzip der allgemeinen Schulpflicht; Schule ist als Bildungssystem in der Zuständigkeit des Landes, Jugendhilfe weitestgehend in der Zuständigkeit der Städte und Kommunen.
Diese verschiedenen Ausrichtungen führen nicht selten dazu, dass die Berührungspunkte zwischen Schule und Jugendhilfe dürftig bleiben.
Auffällig ist auch, dass trotz der vermehrten Aufmerksamkeit, die Projekte im Bereich der Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe seit einigen Jahren insbesondere von Seiten der Bundesregierung erfahren (Fachkräfteportal 2009; BMFSFJ 2009), Pflegekinder bislang weitgehend unerwähnt bleiben. Kenntnisse von Lehrern und Lehrerinnen über das Jugendhilfesystem und im speziellen über Pflegekinder und Pflegefamilien sind bis heute nicht voraussetzbar, vielmehr bleibt es dem Zufall überlassen, ob man an ein in diesem Bereich engagiertes und kundiges Lehrerkollegium gerät. Fast genauso zufällig ist es, inwieweit die örtlichen Pflegekinderdienste und anderen Sozialen Dienste im Bereich der Jugendhilfe Engagement in der Kooperation mit Schulen zeigen und Pflegefamilien in schulischen Belangen unterstützen.
Diese Situation bringt im ungünstigsten Fall besondere Belastungen für Pflegekinder hervor, die sich in beiden Systemen bewegen und eigentlich auf eine wohlwollende Kooperation angewiesen sind. Für manche InterviewpartnerInnen im Projekt Pflegekinderstimme (Reimer 2011) spielte das Thema Schule eine wichtige Rolle. Im Folgenden werde ich einige Einblicke in Themen geben, über die ehemalige Pflegekinder in den Interviews berichtet haben.
Die Schule als Ort der Tagesstrukturierung und der sozialen Kontakte
Wie die meisten anderen Kinder auch (vgl. Zinnecker/Behnken/Maschke/Stecher 2002, S. 43), beschreiben Pflegekinder die Schule insbesondere als einen Ort, an dem ihr Alltag Struktur erfährt und an dem Beziehungen zu Gleichaltrigen geknüpft und gepflegt werden. Eine InterviewpartnerIn, ich habe sie Klara genannt, benennt das ganz explizit:
Das war eigentlich so, mit einen Freunden hab ich mich glaub ich die ganze Schulzeit über beschäftigt, Schule war immer so ne Sache, was regelmäßiges am Tag und eigentlich war Schule so ein Treffpunkt mit Freunden eigentlich.
Eine besondere Rolle spielen dabei Pausensituationen, in denen mit Freunden gespielt wird, Geheimnisse ausgetauscht werden und erste Beziehungen zum anderen Geschlecht geknüpft werden. Klara beschreibt ähnlich wie andere InterviewpartnerInnen, sehr eindrucksvoll, dass ihr die gute Integration im Freundeskreis in der Schule gut darüber hinweggeholfen hat, dass ihr manche Lernbereiche in der Schule Schwierigkeiten bereitet haben:
Und so bei Mathe vor allen Dingen, hast de was falsch gemacht und mit Mathe konnt ich nix anfangen, und da hab ich mich da auch wirklich so geschämt und hab immer gesacht „Hm, den Jungen, den de jetz toll findest, was muss der jetzt denken?“, aber da in der Pause war alles total vergessen und dann gabs auch wieder nix Wichtigeres als mit den Freunden zusammen zu sein
Die Schule als Ort von Stigmatisierung und Diskriminierung
Jedoch erleben nicht alle Pflegekinder eine ungetrübte Integration in den Kreis der Gleichaltrigen und eine verständnisvolle Haltung der Lehrer gegenüber dem Pflegekindsein. Mehrere Interviewpartner berichteten von beschämenden oder peinlichen Situationen, wo sie in der Schule vor Lehrern und / oder Mitschülern erklären mussten, dass sie Pflegekinder sind und was das bedeutet. In den Erzählungen wird deutlich, dass solche Ereignisse von vielen Pflegekindern als außerordentlich schmerzlich erlebt wurden und weit über das Ereignis hinaus Konsequenzen für das Erleben des Schulalltags nach sich zogen.
So berichtet beispielsweise Iris:
Ich weiß noch, als wir ne Klassenfahrt gemacht haben, da brauchte ich n Schreiben von der Schule, was ich meiner Pflegemutter geben konnte, die das wiederum beim Jugendamt beantragen musste und ich weiß, dass ich mich gewunden hab wie n Aal, dieses Schreiben zu bekommen und erinnere mich, dass der Lehrer fragte, ja wofür brauchst du das denn. Und es war ganz furchtbar für mich, vor versammelter Mannschaft zu sagen, ich brauch das für meine Pflegemutter. Und dann wurd ich dann natürlich in der Pause drauf angesprochen, und ich weiß schon, dass das einigen sehr suspekt war und ich glaube auch, dass einige das zuhause erzählt haben und da auch entsprechend geimpft wurden, so nach dem Motto, es geht vielleicht ins Asoziale, oder von der hältst du dich mal fern oder, wenn die nich mehr bei ihren Eltern wohnt, dann stimmt da irgendwie was nich.
Die Anlässe für solche Situationen können sehr verschieden sein. Häufig ist der vom Name der Pflegefamilie abweichende Name des Pflegekindes ausschlaggebend für ähnliche Situationen, weshalb viele Kinder darauf bestehen, den Namen der Pflegeeltern für schulische Zwecke zu nutzen, selbst wenn keine offizielle Namensänderung durchgeführt wurde. Anlass kann aber auch beispielsweise ein Elternsprechtag sein, bei oder vor dem geklärt werden muss, ob die Pflegeeltern Auskünfte über das Kind bekommen dürfen, oder die Klärung der finanziellen Förderung von schulischen Aktivitäten oder ganz banal, wenn Kinder Fotografien von ihrer Familie mitbringen müssen oder sich beim Thema Genetik mit den Ähnlichkeiten, die sie mit ihren Eltern haben, auseinandersetzen müssen.
Im schlimmsten Fall führen solche schambesetzten Situationen dazu, dass Kinder sich in der Schule unwohl und abgelehnt fühlen und sich möglicherweise sogar verweigern, so wie Dave, ein anderer Interviewpartner:
dann ging ich zur Realschule, wurd aber auch von den andern sehr stark gemobbt weil die schon gemerkt ham das ich halt anders bin ne? Da war keiner irgendwie adoptiert oder Pflegekind und die ham halt gemerkt ich bin anders, und irgendwann hab ich zu meiner Mutter gesagt „nee ich geh da nicht mehr hin“. Meine Mutter hat mich immer an die S-Bahn gebracht und da hab ich gesagt „Mama wenn die Bahn jetz reinfährt du kriegst mich rein ne?“ Meine Mutter dachte nur bla bla bla, die Bahn rollte rein die Türen gingen auf ich sag „Mama ich geh da nich rein dat kannst de knicke“, Türen gingen wieder zu und die Bahn fuhr wieder weg. Meine Mutter hatte schon Sorge, der geht nicht mehr zur Schule, scheiße was mach ich jetzt.
Die Schule als System, das meist wenig auf die individuellen Bedürfnisse und Entwicklungsaufgaben der Kinder reagieren kann
Die Schule als System folgt einer hochstrukturierten Ordnung, die in der Regel alle Kinder einer Altersgruppe demselben oder annähernd gleichen Entwicklungsstand zuordnet und ergo ähnliche Leistungen von allen Schülern einer Klasse erwartet. Damit kann sie wenig auf individuelle Entwicklungsunterschiede eingehen.
Pflegekinder - oder allgemeiner: Kinder die irgendwann Pflegekinder werden -, müssen oft in ihrer Kindheit viel Energie nutzen, um besondere Belastungen zu bewältigen, die beispielsweise aus Armuts- und Vernachlässigungssituationen, Gewalt, Lebenssituationen, in denen die Kinder für ihre Eltern und Geschwister Sorge tragen müssen, häufigen Ortswechsel, Beziehungsabbrüchen mit Eltern und Geschwistern und dem oft als anstrengend erlebten Leben in zwei Familien resultieren. In solchen schwierigen Situationen entwickeln viele Kinder recht beeindruckende und kreative Fähigkeiten und Strategien zur Bewältigung dieser Situationen. Jedoch bezahlen sie in der Regel einen hohen Preis dafür, denn Kinder haben keine unbegrenzte Energie für Entwicklungsaufgaben. Wenn Kinder in frühen Jahren schon viel Verantwortung tragen müssen oder außerordentlich belastende Situationen verarbeiten und integrieren müssen, dann ist es wenig erstaunlich, wenn sie in anderen Entwicklungsbereichen hinter ihren Altersgenossen zurückbleiben. In der Schule bedeutet dies häufig, dass es zu Hindernissen kommen wird.
Marie, eine heute 17jährige Interviewpartnerin, die über keinen Schulabschluss verfügt, berichtet über ihre Schulzeit folgendes:
Ich kam dann in die Grundschule, aber ich war eigentlich noch gar nicht so weit, konnte nicht stillsitzen, war auch hyperaktiv, deshalb kam ich dann nach einigen Wochen in die Vorschule. Ein Jahr später wurd ich dann wieder eingeschult. Aber auch da war ich immer noch nicht soweit, vielleicht hätte man mich mit 11 Jahren einschulen sollen, ich war einfach hinterher, was auch an diesen ständigen Besuchen von meiner Mutter lag, ich hatte einfach so viel anderes im Kopf. Dann kam ich in die Sonderschule, da hab ich mich total unwohl gefühlt und hab ein Jahr später schon wieder gewechselt. Meine ganze Schulzeit kann man wirklich in die Tonne kloppen.
Druck von Seiten der Pflegefamilie, gute schulische Leistungen zu erbringen
Häufig erleben Pflegekinder aber nicht nur von Seiten der Schule Leistungsanforderungen, denen sie nicht gewachsen sind, sondern auch von ihren Pflegefamilien. Manchmal sind diese Anforderungen von Seiten der Pflegeeltern nicht intendiert, sondern resultieren schlicht aus dem Bildungsniveau der Pflegeeltern und deren leiblichen Kindern.
Eine Interviewpartnerin berichtet dazu folgendes:
Ja ich fühlte mich da so n bisschen, wie soll ich nur sagen, also die anderen waren viel weiter als ich, die waren auch viel cleverer als ich und viel cooler und auch viel intelligenter. Also ich, das muss man einfach so sagen, wir sind früher mit der leiblichen Familie sehr oft umgezogen und ähm hat auch `n ständiger Schulwechsel stattgefunden und ich war keine besonders gute Leuchte in der Schule. Aber in dieser ganzen Familie gingen alle aufs Gymnasium alle studierten und ich war jetzt so die Erste, die da reinkam und nur Realschule besuchte, das war schon komisch, ich war wie der Exot.
Häufig werden Pflegekinder dann von den wohlmeinenden bildungsorientierten Pflegeeltern mit Nachhilfeunterricht und ähnlichen Maßnahmen unterstützt. Manche erleben dies als hilfreich, für andere erhöht sich der ohnehin vorhandene Druck dadurch weiter. Nicht wenige berichten, dass ihre Beziehung zu den Pflegeeltern zeitweilig unter Schulproblemen gelitten hat. Einige räumen jedoch ein, dass sie „den Pflegeeltern heute ziemlich dankbar sind, dass die damals nicht locker gelassen haben, auch wenn es wirklich schlimm war“.
Konsequenzen für Pflegeeltern
In einem Workshop, der im Rahmen des Projekts „Pflegekinderstimme“ stattfand (Reimer 2011) wurden anhand der vorgestellten und ähnlicher Geschichten mit Pflegeeltern diskutiert, was diese tun können, um ihre Pflegekinder im schulischen Bereich zu unterstützen – und wo sie selbst Unterstützung von Sozialen Diensten benötigen.
Deutlich wurde, dass Pflegeeltern sich in schulischen Angelegenheiten als Experten für ihr Pflegekind sehen und auch von Diensten und Lehrern als solche gesehen werden möchten. Viele Pflegeeltern haben die Erfahrung gemacht, dass Lehrer erstaunt reagieren, wenn sich hinter den „schwierigen Schülern und Schülerinnen“ plötzlich engagierte Eltern zu Wort melden. Trotz anfänglicher Irritationen von Seiten der Schule berichteten mehrere Pflegeeltern, dass durch ein hohes Maß an Engagement ihrerseits dauerhaft eine stabile und wohlwollende Kooperation entwickelt werden konnte, die es den Lehrern und Lehrerinnen erlaubte, sich weit über das in der Schule gewöhnliche Maß mit den besonderen Bedürfnissen der Pflegekinder auseinanderzusetzen und diesen entsprechend zu begegnen. Zentral war, dass Pflegeeltern nicht versuchten, gegen die Schule anzukämpfen, sondern daran arbeiteten, wenn auch anfangs tendenziell einseitig, sich mit der Schule im Interesse des Kindes zu verbünden. Das erforderte oftmals viel Ausdauer, die sich aber langfristig als lohnenswert erwies.
In Bezug auf das Pflegekind wurde gemeinsam mit den Pflegeeltern erarbeitetet wie wichtig es ist, ständig mit dem Kind über das, was in der Schule geschieht in einer offenen und verständnisvollen Haltung im Gespräch zu bleiben, um so schon frühzeitig sich anbahnende Schwierigkeiten erkennen und entsprechend darauf reagieren zu können.
Solch ein Maß an Ausdauer und Engagement können Pflegeeltern in der Regel nicht alleine aufbringen. Sie sind darauf angewiesen, dass Soziale Dienste sie in ihrem Engagement stärken, dieses anerkennen und ihnen den Rücken für dafür freihalten – anstatt ihnen dabei in den Rücken zu fallen! –, dass sie von Sozialen Diensten insbesondere bei Übergängen in andere Schulformen individuell beraten werden und dass bei Bedarf Unterstützungsleistungen wie Hausaufgabenbetreuung und Nachhilfe unbürokratisch gewährt werden.
Wünschenswert ist, dass Pflegekinderdienste, Pflegeeltern und Schulen langfristig solche unterstützenden Kooperationen entwickeln – zum Wohle der Pflegekinder.
Literatur
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2009) Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe. Verfügbar unter: www.bmfsfj.de/Publikationen/kjhg/root.html, 27.10.2009
Jugendhilfeportal (2009) Querschnittsthemen: Kooperation von Schule und Jugendhilfe. Verfügbar unter: www.jugendhilfeportal.de/wai1/showcontent.asp?ThemaID=5440, 27.10.2009
Reimer, Daniela (2011) Pflegekinderstimme. Arbeitshilfe zur Begleitung und Beratung von Pflegefamilien. Düsseldorf (Hrsg. PAN e.V.)
Zinnecker, J.; Behnken, I.; Maschke, S.; Stecher, L. (2003) null zoff & voll busy. Die erste Jugendgeneration des neuen Jahrhunderts. Opladen; Leske + Budrich
Daniela Reimer ist Dipl. Pädagogin, Dipl. Sozialarbeiterin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Pflegekinderwesen am Zentrum für Planung und Evaluation Sozialer Dienste (ZPE) der Universität Siegen
von:
Gutachten Opferentschädigungsleistungen und Kostenbeteiligung