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Die Aufnahme eines Pflegekindes in die eigene Familie
Besonderheiten, Herausforderungen und Lösungsansätze
Die Aufnahme eines Pflegekindes stellt häufig das gesamte Familiensystem auf den Prüfstand. So ging und geht es auch einer 4-köpfigen Familie mit zwei eigenen leiblichen Töchtern kurz vor den Teenagerjahren, die vor 14 Wochen ein heute 3-jähriges Pflegekind aufgenommen haben:
Mit tiefsitzenden Augenringen schildern mir die frisch gebackenen und in Teilzeit gegangenen Pflegeeltern die Fortschritte und neuen Herausforderungen seit unserem letzten Treffen vergangene Woche. In der Rolle als Fachberater eines auf entwicklungstraumatisierte Kinder spezialisierten Trägers ist es meine Aufgabe, mit und für die Pflegefamilie Lösungswege zu entwickeln und sie bei der Umsetzung zu unterstützen, damit das Pflegekind innerhalb der Familie eine bestmögliche Entwicklung erfährt. Dazu gehört auch die Stabilisierung der eigenen Familie. Und mitunter kann die Aufnahme eines Pflegekindes zu Problemen innerhalb der Familie führen, die überraschen und überwältigen können. Darum soll es im folgenden Artikel gehen und Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, darstellen, welche Herausforderungen die Aufnahme eines Pflegekindes in die eigene Familie mit sich bringt und wie Sie dies lösen können.
Arbeit an mehreren Fronten
Die genannte Familie fasst es so zusammen: ‚Die Aufnahme eines Pflegekindes ist wie ein Brennglas – Probleme, die vorher schon da waren, verschlimmern sich und werden offensichtlich. Und wenn man nicht aufpasst, kommen neue hinzu.‘ Wir hatten das Glück, bereits vor Aufnahme des Pflegekindes in die Zusammenarbeit mit der werdenden Pflegefamilie und den Pflegeeltern zu kommen. Sowohl die Pflegeeltern als auch die leiblichen Kinder hatten einen offenen und realistischen Blick auf die Vorteile und Herausforderungen der Aufnahme eines kleinen Kindes in die eigene Familie. Gemeinsam haben wir wichtige Vorbereitungen für die Ankunft des Jungen und den Übergang aus dem vorherigen Heim getroffen. Alle Familienmitglieder, abgesehen von dem Hund, packten mit an: Die Kinder bastelten etwas für die Ankunft und die Pflegeeltern besorgten ein Willkommensgeschenk. All das verpackten wir in einen Prozess, den die Betreuer im Heim des baldigen Pflegekindes gemeinsam mit ihm umsetzen konnten, sodass sich auch der Junge auf den bevorstehenden Übergang freute.
Es dauerte nicht lange und das Kind war da. Der Übergang hat zur Zufriedenheit aller gut funktioniert und abgesehen von den anfänglichen Unsicherheiten, ob er bleiben dürfe, und Einschlafschwierigkeiten, blieben die Probleme überschaubar und im Rahmen des Erwarteten. Wie vermutet, zeigte sich der Junge die ersten 6 Wochen abgesehen vom Haarewaschen und Fingernägel schneiden (s.u.) sehr angepasst[1]. Weder die Familie noch wir verschwendeten diese Zeit und machten uns daran, die Entwicklungsdefizite und Verhaltensauffälligkeiten des Kindes anzugehen. Innerhalb der wenigen Wochen, die wir nun zusammenarbeiten, vollbrachten die Pflegeeltern und die Familie wahre Wunder. Um ein paar zu nennen:
Der Junge bekam bis dahin im Heim beim Haarewaschen oder Fingernägel schneiden stets Panikausbrüche. Wenn Haarewaschen anstand, sei er weinend weggerannt, sodass bisher möglichst darauf verzichtet wurde, dem Kind die Haare zu waschen. Mit ein wenig Unterstützung erarbeitete die Familie ein Vorgehen und ergänzte es selbst mit Atemtechniken und kreativen Methoden. Als ich die Familie das dritte Mal zum Fachgespräch aufsuchte, präsentierte mir das Kind stolz seine frisch gewaschenen Haare. Der Junge frage jetzt selbst danach, wann wieder Haare gewaschen werden können, und würde mit geschwollener Brust als „Badekönig“ - wie er dann von der Familie nach dem Erfolg gefeiert wird - durch das Bad tanzen. Mit anderen Worten: Die Pflegefamilie erreichte innerhalb weniger Wochen etwas, was eine Heimeinrichtung in anderthalb Jahren nicht geschafft hatte.
Ein weiteres Problem war es, dass das Kind bei einer gemeinsamen Aktivität, z.B. beim Essen oder einer gemeinsamen Lesezeit, seine Mitmenschen anschrie: „GEH WEG!“ oder „LASS MICH!“. Das kam mitunter so plötzlich und unerwartet, dass sich die Kinder und Erwachsenen erschrocken haben und ganz perplex waren. Auch hier konnte die Familie und insb. die Eltern innerhalb kurzer Zeit diese Muster verändern, sodass es mittlerweile nur noch höchst selten auftritt.
Das sind nur ausgewählte und bei den Pflegeeltern leider längst vergessene Erfolge, als die beiden bei unserem heutigen Fachgespräch müde und entmutigt vor mir sitzen. Denn zu den (anderen) Herausforderungen mit dem Pflegekind sind neue Herausforderungen mit der eigenen Familie gekommen: Die Jüngste schaut sich Verhaltensweisen vom nun Kleinsten ab, macht diese nach und testet die Grenzen der Eltern aus. Außerdem habe sie sich auf einen kleinen Bruder gefreut, mit dem sie spielen könne, dies will der Kleinste aber nur mit der anderen Schwester. So macht sich Neid und Streit zwischen den leiblichen Geschwistern breit. Und es komme in letzter Zeit auch häufiger zu Situationen, bei denen sich die leiblichen Geschwister mit dem Pflegekind solidarisieren und zusammen gegen die (Pflege)Eltern rebellieren.
Besonderheiten für die Familie
Eine Familie wächst organisch. D.h., sie wächst aus eigener Kraft mit den verfügbaren und bereitgestellten Ressourcen und über lange Zeit hinweg. Mit der Aufnahme eines Pflegekindes kommt innerhalb kürzester Zeit ein „Plus“ zur Familie hinzu. Damit befindet sich die Familie automatisch in einem Veränderungsprozess, der einige wichtige Besonderheiten mit sich bringt:
1. Pflegekinder unterscheiden sich mit ihren Erfahrungen zu Familie und Erziehung (und auch der Welt an sich) von Ihren leiblichen Kindern.
Mit anderen Worten: Das Pflegekind hat sich in seinem bisherigen Leben Strategien und Handlungsmuster angeeignet, die ihm früher geholfen haben, nun aber in der neuen Umwelt in Ihrer Familie zu Konflikten führen. D.h., was für leibliche Kinder normal ist, kann für Pflegekinder zu Eskalationen führen. So kann ein leibliches Kind z.B. abwarten, wenn Sie sagen, „Direkt nach dem Mittagessen gibt es kein Eis, aber zum Vesper kannst du dir gerne eins nehmen.“ Für ein Pflegekind, insbesondere wenn es typische Entwicklungsdefizite, Verhaltensauffälligkeiten und Instabilität in der Persönlichkeit mit sich bringt[2], kann das bereits zum Schreianfall, Herumwerfen von Gegenständen, Schlagen oder Ähnliches führen.
2. Pflegekinder kommen häufig mit einem engen bis egozentrischen und gefestigtem Bezugssystem zu Ihnen in die Familie.
Zuvor hat das Pflegekind in der Regel einige Enttäuschungen von Erwachsenen und je nach Alter (viele) Wechsel der Bezugspersonen erlebt. Dadurch ist die Antwort auf die Frage „Wer ist dir wichtig?“ meist sehr eingeengt, z.B. auf Geschwister in der Herkunftsfamilie begrenzt, oder sogar leer. Die Öffnung des Bezugssystems und Integration weiterer Menschen ist eine entscheidende Leistung der Pflegefamilie. Mit dem zunehmenden Alter des Kindes wird dies immer wichtiger, z.B. in der Pubertät.
3. Pflegekinder bringen einen „Rucksack“ mit, den sie in der Familie (nach und nach) auspacken.
Dazu gehören teils verstörende Verhaltensweisen, wie selbstschädigendes Verhalten oder Panikausbrüche bei alltäglichen Dingen, wie eben dem Haarewaschen im oben genannten Beispiel. Das kennen die leiblichen Kinder (in der Regel) nicht und können es auch gar nicht kennen. Entsprechend können sie ohne Hilfe auch nicht einordnen, warum Sie als Pflegeeltern wie mit dem Pflegekind umgehen.
4. Leibliche Kinder haben häufig einen besonderen Blick auf hinzukommende Pflegekinder und die Dynamik, wie Sie als Pflegeeltern mit ihnen umgehen.
Auch die leiblichen Kinder verbinden die Ankunft des Pflegekindes mit Vorstellungen und Erwartungen. Und sie wissen höchstwahrscheinlich auch, dass Ihnen die Aufnahme des Pflegekindes wichtig ist, weil Sie ihnen Ihre Entscheidung erklärten. Manchmal nutzen das die leiblichen Kinder zu ihrem Vorteil. D.h., sie sagen gerne mal, das Pflegekind solle wieder weg, wenn ihnen etwas nicht passt, oder sie beobachten, was Sie dem Pflegekind durchgehen lassen und fordern das Gleiche ein. Mit anderen Worten: Sie stehen unter Beobachtung!
5. Bis zu dem Zeitpunkt der Aufnahme des Pflegekindes, haben Sie in Ihrer Familie über lange Zeit gewachsene Rollen und Prozesse, die durch die Aufnahme des Pflegekindes in Frage gestellt werden.
Veränderung ist für viele Menschen mit Unannehmlichkeiten verbunden. So auch für leibliche Kinder. Wie miteinander umgegangen wird, wer für welche Dinge verantwortlich ist und wie die Routinen am Morgen oder Abend funktionieren – all das ist in Ihrer Familie über Jahre gewachsen. Mit der Aufnahme des Pflegekindes wird das Gewachsene auf den Prüfstand gestellt. D.h., Sie müssen wissen, was für Sie erhaltenswert ist, und auch die leiblichen Kinder für die Sache gewinnen und einbeziehen.
6. Die leiblichen Kinder wirken direkt oder indirekt an der Erziehung des Pflegekindes mit.
Für das Pflegekind sind Ihre leiblichen Kinder in der Regel größere Geschwister. Ältere Kinder haben für Jüngere meist eine besondere Bedeutung. Sie sind von ihrer Perspektive und ihrem Entwicklungsstand in einer anderen Nähe zum Pflegekind und haben somit auch eine Vorbildfunktion – ob sie das mögen oder nicht. Und sie können Verbündete sein oder eben nicht. Letzteres ist gefährlich. Mit anderen Worten: Es ist wichtig, sie für die Prozesse zu gewinnen.
Familie gestalten
Daraus ergeben sich folgende Konsequenzen, die für Sie als Pflegeeltern wichtig sind, um Ihre Familie gut zu gestalten und gut für sie zu sorgen:
- Achten Sie darauf, wie Sie das Pflegekind in Ihre Familie integrieren können (und nicht umgekehrt).
- Ermöglichen Sie dem Pflegekind konstant und langfristig verändernde und entwicklungsförderliche Erfahrungen.
- Beziehen Sie Ihre Familienmitglieder von Beginn an und im Prozess der Pflegschaft regelmäßig mit ein, z.B. über Reflektionsgespräche.
- Gestalten Sie frühzeitig und aktiv Ihr Familiensystem und nehmen Sie eine Beratung oder Begleitung in Anspruch.
Erfolge als Muntermacher
Mit der Familie sind wir mitten in beiden Prozessen, der Entwicklung des Pflegekindes und der Stabilisierung des Familiensystems. Letzteres konnte vor allem deshalb zum Thema gemacht werden, weil sie in der Entwicklung des Pflegekindes so starke Fortschritte machten. Im heutigen Fachgespräch erinnere ich die Pflegeeltern an diese bisherigen Erfolge und sie lächeln zurück, „Stimmt, das haben wir alles schon wieder vergessen.“
Schlussanmerkungen
Das Institut für wirkungsvolle Sozialarbeit betreibt selbst Heimeinrichtungen für entwicklungstraumatisierte Kinder und qualifiziert und begleitet Pflegeeltern für diese Aufgabe. Wir empfehlen, bereits vor Aufnahme des Pflegekindes eine Begleitung durch erfahrene Berater*innen in Anspruch zu nehmen und zeitig die Vorbereitungen zur Aufnahme des Pflegekindes anzugehen. Sollten Sie, liebe Leserin und lieber Leser, Fragen haben, melden Sie ich gerne bei uns unter info@iws-pflegeeltern.de oder schauen Sie sich auf unserer Website https://www.iws-pflegeeltern.de/ um.
[1] Zu den Phasen, wie entwicklungstraumatisierte Kinder sich zeigen, siehe unten den ergänzenden Link Nr. 1
[2] Nähere Infos hierzu siehe unten den ergänzenden Link Nr. 2