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14.02.2023
Fachartikel

Ein fas(d)t unbekanntes Syndrom erkämpft sich Akzeptanz!

PFAD-Niedersachsen e.V. engagiert sich umfassend im Bereich FASD in der Pflegekinderhilfe. Fortbildungen des Verbandes - auch gemeinsam mit Jugendämtern -, Beratungen und Begleitung von Pflegeeltern, die ein Pflegekind mit FASD haben oder aufnehmen wollen, - Schulung von Lehrern, Erziehern und Fachkräften - sowie Zusammenarbeit mit anderen Fachkundigen und Institutionen führten dazu, dass FASD langsam vom unbekannten Syndrom zu einem Teil der Realität im Leben von Pflegefamilien wurde.

Themen:

„Guten Tag, hier spricht Frau Müller vom Jugendamt XY und ich möchte fragen, ob wir gemeinsam eine Fortbildung zum Thema FASD durchführen können.“

Ja aber nichts lieber als das!

Immer häufiger erleben wir, dass Jugendämter, Schulen und auch private Träger an uns herantreten und Aufklärung und Fortbildung wünschen. Viele Referenten, Aktivisten und Engagierte, die sich für die Menschen mit FASD und die so wichtige Aufklärung und Prävention auf den Weg gemacht haben, erleben diesen großen Bedarf an Input. Positiv ist auch zu erwähnen, dass FASD und die frühkindlichlichen und im weiteren Entwicklungsverlauf erlittenen Traumatisierungen in Verbindung gesehen und betrachtet werden.

Diese Entwicklung ist eine große Chance für die vielen Menschen, die mit der Behinderung und den zahlreichen Begleiterkrankungen leben.

Wir erleben, dass Gespräche z. B. in Schulen dazu führen, dass Kinder mit FASD angemessener begleitet und vor allem „bewertet“ werden, Förderbedarfe werden festgestellt und bieten somit Schutz und Möglichkeiten der individuellen Unterstützung. Auch die schnellere Bewilligung von Schulbegleitungen – leider gibt es viel zu wenige - konnten wir erfreulicherweise verzeichnen. Die Kinder profitieren ungemein und blühen förmlich auf. Diese Entlastung nehmen sie dann auch mit nach Hause ins Familiensystem und ein großer Sprengsatz für die Explosion durch dauerhafte Überforderung / Overload ist entschärft.

Kreative Lösungen zeigen Erfolge; z. B. bei Übergängen in Einrichtungen wurde auf die Kontaktsperren verzichtet, was in so vielen Fällen, in denen keine Kindeswohlgefährdung vorlag, nur zu begrüßen ist. Die Kinder und Jugendlichen sind so sehr auf ihre vertrauten Bezugspersonen angewiesen und diese können helfen, die Mitwirkung des jungen Menschen positiv zu beeinflussen.

Es melden sich Pflegeeltern bei uns, die sich bewusst für ein Kind mit FASD entschieden haben und umfassend durch Fachkräfte begleitet und finanziell entsprechend dem höheren Bedarf ausgestattet werden. Das sind die Tage, die einen immensen Motivationsschub mit sich bringen. Wunderbar, wenn die Vermittlung von Kindern mit FASD ihren Schrecken verliert! Wenngleich klar sein muss, dass es eine durchgängige und verlässliche Hilfeleistung braucht, um die Menschen mit FASD würdig und gut zu begleiten und die Familie stabil zu erhalten.

Es gibt immer wieder diese kleinen und großen Erfolgsgeschichten, aber auch Fälle, die uns traurig und wütend machen.

Viel zu oft werden noch immer Diagnosen unter dem Deckmantel der Angst vor Stigmatisierung verwehrt, nicht akzeptiert oder die nötigen Hilfen abgelehnt. Hier wird sich gerade, was den Alkoholkonsum während der Schwangerschaft betrifft, sehr auf den Datenschutz berufen. Das Kindeswohl gerät hier immer noch allzu oft ins Hintertreffen. Bei fehlenden Informationen zum Alkoholkonsum der Mutter sollte, je nach Einzelfall, eine fachliche Einschätzung vorgenommen werden, ob sich durch eine nicht gestellte FASD-Diagnose das Risiko für eine Kindeswohlgefährdung ergibt. Sollte die Einschätzung zu dem Ergebnis kommen, dass eine solche Gefährdung mit großer Wahrscheinlichkeit besteht, darf der Berufsgeheimnisträger (§203 StGb) dem Jugendamt auf Grund der Befugnis aus § 4 KKG Informationen weitergeben, ohne gegen seine Schweigepflicht zu verstoßen. Siehe awmf – S3 Diagnostik FASD

Wenn man die vielen sekundären Schäden einer FASD und eines nicht den Fähigkeiten und Bedürfnissen entsprechenden Umgangs kennt und das Ausmaß erfassen kann, dann gibt es kein Argument gegen eine Diagnosestellung bzw. den Ausschluss von FASD. Ganz abgesehen von den unmittelbaren medizinischen und pädagogischen Aspekten würde sich u. U. allein aus den konträren Standpunkten der (Pflege-)Familie und dem Jugendamt/Vormund eine negative Entwicklung des Pflegeverhältnisses ergeben, was wiederum zu einer Kindeswohlgefährdung führen kann.

In diesen Fällen wird leider immer übersehen, dass die Kinder mit der angepassten Erwartungshaltung, Begleitung, Unterstützung und Hilfe eine sehr gute Entwicklung nehmen und gleichzeitig eine Verarbeitung und Akzeptanz der Behinderung und ihrer Entstehung erfolgen kann. Diese Psychoedukation ist für die Menschen mit FASD ganz besonders beim Übergang ins Erwachsenenleben und darüber hinaus, unverzichtbar für ein wertvolles und zufriedenes Leben! Es wird ihnen der Weg geebnet für ein selbstbestimmtes Leben mit Hilfen so wenig wie möglich, so viel wie nötig.

Für jeden Menschen mit FASD, der ohne Diagnose, Hilfe und Akzeptanz leben muss, ist das Tempo hinsichtlich Aufklärung und Verankerung der Anerkennung ihrer Behinderung ganz sicher viel zu langsam und für einige kommt wirklich jede Hilfe zu spät! Ein Grund hierfür ist sicher der noch immer mangelhafte Wissenstransfer in die einzelnen Systeme.

Für alle Menschen mit FASD, die gesehen werden, die Hilfen erhalten und denen eine Teilhabe in unserer Gesellschaft ermöglicht wird, hat sich jede Sekunde Einsatz all der vielen Ärzte, Therapeuten, Hebammen, Eltern, Pflege- und Adoptiveltern, Sozialarbeiter, Lehrer, Erzieher, Politiker und nicht zuletzt der vielen ehrenamtlich engagierten Vereine und Einzelpersonen gelohnt.

Nevim Krüger – Pfad Niedersachsen e. V. -   Februar 2023

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