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Gefühle und Gefühlswirrwarr bei Besuchskontakten
Themen:
Besuchskontakte zwischen Pflegekindern und ihrer Herkunftsfamilie bewegen die Gefühle der beteiligten Menschen in hohem Maße.
Gefühle der Beteiligten bei Besuchkontakten
Wie sehr Gefühle aufwallen zeigte sich an einem Wochenendseminar zum Thema Besuchskontakte.
Schwieriger Besuchskontakt
Hier wurde von einem Pflegeelternpaar eine Situation von dauerhaft schwierigen Besuchskontakten beschrieben. Diese Situation bedenkend, teilten sich die teilnehmenden Pflegeeltern in drei verschiedene Gruppen auf. Pflegekind – Pflegeeltern – Herkunftseltern. Die Fachkräfte betrachten sich in ihrer Aufgabe. Jede Gruppe sollte sich in die Gefühle der von ihr vertretenen Personen bei einem Besuchskontakt hineinversetzen. Jede Gruppe schrieb ihre Gefühle auf und als sich alle wieder nach dieser Gruppenarbeit trafen, wurde das Aufgeschriebene gesichtet und verglichen.
Gefühle des Kindes
- Unsicherheit,
- Hilflosigkeit,
- Stress,
- Aggressivität,
- es allen recht machen wollen,
- hin- und her gerissen sein,
- sich nicht fallen lassen können,
- was wollen die alle von mir?
- wohin gehöre ich?
Gefühle der Herkunftseltern
- Fühlen sich unschuldig, versteht nicht warum das so ist und abläuft,
- Fühlt sich vom Umfeld beschuldigt und aufgefordert,
- Hilflosigkeit,
- Machtgefühl – mein Recht, das ich durchsetzen will,
- Ich habe auch noch was zu sagen,
- Kind ist doch ganz friedlich beim Kontakt,
- Was soll das ganze Theater?
Gefühle der Pflegeeltern
- Ungutes Gefühl bei Abgabe des Kindes,
- Sorge um das Pflegekind (was macht der Besuchskontakt mit ihm),
- Stress,
- Wut,
- Verzweiflung,
- Hilflosigkeit,
- Angst, dass die eigene Familie an dem Stress mit den Herkunftseltern zerbricht,
- Wissen um anschließende Störungen des Alltags in der Pflegefamilie durch Reaktionen des Kindes,
- Kränkung durch die große Beachtung der leiblichen Eltern.
Gefühle der Fachkräfte
- Machtwort sprechen wollen,
- Alle sollen verstehen, warum Kind untergebracht wurde,
- Es für das Kind gut geregelt zu bekommen,
- Harmonie herstellen wollen – dann ginge es auch dem Kind besser,
- Zügel in der Hand behalten wollen – *Angst die Kontrolle zu verlieren,
- Hilflosigkeit (Wir sind gebunden an die Rahmenbedingungen, erkennen die Not der Beteiligten und fühlen uns da auch hilflos),
- wir müssen uns abfinden mit Gerichtsentscheidungen.
Unproblematischer Besuchskontakt
Als zweites wurden Besuchskontakte einer leiblichen Mutter geschildert, die mit der Unterbringung einverstanden war und deutlich machte, dass sie das Kind in der Pflegefamilie gut aufgehoben weiß.
Hier bedurfte es keiner intensiveren Gruppenarbeit. Hier erklärten alle Teilnehmer in ihren jeweiligen „Rollen“, dass es ihnen gut gehe. Das alle o.k. sei. Dass diese Besuchskontakte keine Probleme darstellten. Die Klarheit und Eindeutigkeit der leiblichen Mutter sowie deren Anerkennung der Situation des Kindes in der Pflegefamilie brachte positive Gefühle auch bei allen anderen Beteiligten hervor. Kleinere Unstimmigkeiten konnten geklärt werden. Alle fühlten sich sicher. Es war einfach ganz was anderes.
Immer wenn Gefühle sehr bewegt werden und dabei nicht in die gleiche Richtung gelenkt sind, kommt es zu Unsicherheit, Verwirrung, manchmal Auseinandersetzungen, Streit und Unverständnis. Es kommt zu einem Wirrwarr von Gefühlen.
Gefühlswirrwarr bei Pflegeeltern
Gefühlswirrwarr durch Besuchskontakten beginnt schon ganz am Anfang, wenn Bewerber sich dafür interessieren, Pflegekinder in ihre Familie aufzunehmen. Die Pflegeelternbewerber müssen sich mit der Herkunftssituation von Pflegekindern beschäftigen und können oft nur schwer nachvollziehen, dass Besuchskontakte auch für vernachlässigte und misshandelte Kinder durchgeführt werden könnten.
Wenn die Pflegeelternbewerber sich dann nach der Vorbereitungsphase für ein bestimmtes Kind interessieren und mit der Vermittlungsstelle nun über dieses Kind, seine Bedürfnisse und ihren Möglichkeiten sprechen, wird Konkretes zwischen Jugendamt, Sorgeberechtigten und Pflegeeltern vereinbart. Diese Vereinbarungen betreffen auch die Durchführung von Besuchskontakten und die Pflegeeltern fühlen sich durch diese Vereinbarungen in Regeln eingebunden und vorerst etwas sicherer.
Das Gefühlswirrwarr bricht dann wieder auf, wenn Pflegekinder vermittelt werden, die durch ihre Herkunftseltern nachhaltige Beeindruckung durch Unterversorgung oder Misshandlung erlebt haben und die diese Erfahrungen in ihrer Pflegefamilie ausleben. Die überwiegende Mehrheit aller Pflegekinder haben diese traumatisierenden Erfahrungen gemacht.
Pflegeeltern leben dann mit diesen (Über)Lebensstrategien ihrer Pflegekinder. Meist sind diese Strategien für das „normale“ Leben unpassend und ungeeignet. Pflegeeltern sehen diese Schwierigkeiten und befürchten, dass die Kinder durch Besuchskontakte immer wieder auf diese Lebensstrategien zurückgeworfen werden. Häufig werden solche Befürchtungen durch das Verhalten des Kindes nach Besuchskontakten zur Gewissheit
Beispiel: Ein verwahrlostes Kind hat längere Zeit in der Pflegefamilie Essen gehortet, konnte kaum spüren ob es hungrig oder satt ist und lernte langsam zu glauben, dass die Pflegeeltern es versorgen würden. Nach Besuchskontakten bricht das alte Verhalten wieder auf. Das Kind wird immer wieder verunsichert und muss sich immer wieder mit neuem Mut auf die Pflegeeltern einlassen.
Pflegeeltern sind in Anspannung, weil sie das oft ausdrucksstarke Verhalten der Kinder nach Besuchskontakten erleben. Sie können und wollen diese Kontakte so nicht mehr unterstützen und geraten dadurch selbst unter Druck.
Gefühlswirrwarr bei den Kindern
Bei Besuchskontakten kommt es oft zu hoch angepasstem Verhalten der Kinder gegenüber den Herkunftseltern. Kinder, die ihre Herkunftseltern als machtvoll und überwältigend erlebt haben, wollen sie in Besuchskontakten nicht „reizen“ und benehmen sich entsprechend vorsichtig und beruhigend den Eltern gegenüber.
Oft verstehen die Kinder das Verhalten ihrer Pflegeeltern nicht, da diese sich bei Besuchskontakte nicht wie Eltern verhalten sondern den Herkunftseltern „den Vortritt“ lassen (müssen) und somit andere Signale geben als sonst im Alltag.
In den wenigsten Fällen werden bei (oder vor) den Besuchskontakten die Gründe für die Unterbringung in der Familienpflege thematisiert. Von den Herkunftseltern werden diese Gründe häufig verdrängt oder sogar verleugnet. Dies wiederum stürzt die Kinder weiter in verwirrende Gefühle, denn das, was sie erlebt haben, scheint keine Rolle mehr zu spielen und nicht wichtig zu sein. ‚Es war wohl doch nicht so schlimm was damals war’, die eigenen Wahrnehmungen werden infrage gestellt.
Die Kinder spüren auch die Anspannungen durch ungeklärte Verbleibensperspektiven und kontroverse Vorstellungen der Erwachsenen. Sie fühlen sich unsicher und im luftleeren Raum.
Traumatisierte Kinder können durch Besuchskontakte schwere Beeinträchtigungen erleben. Sie werden zurückgeworfen in alte Ängste. Sie fühlen sich schutzlos und auf sich allein gestellt. Sie sehen, dass die Pflegeeltern sie nicht vor Unheil bewahren können und schwanken in ihren Gefühlen zwischen Verlassenheit, Misstrauen und Sehnsucht.
Viele Kinder werden immer wieder zurückgeworfen und kommen nicht zur Ruhe. Sie bemühen sich, es allen recht zu machen und flippen vor Überforderung und Erschöpfung zuhause aus, resignieren oder verfallen in immer größere Unsicherheit.
Das Gefühlswirrwarr für die Kinder ist komplett.
Beispiele von Besuchskontakten, die Kindergefühle verwirrten:
1. Beispiel
Ein fünfjähriges Mädchen in der Pflegefamilie wünschte Kontakte zur Herkunftsfamilie, besonders zu seinen beiden älteren Brüdern, die noch dort lebten. Bei einem der letzten Kontakte hatte der leibliche Vater des Kindes erklärt, dass er sie am liebsten auf den Arm nehmen, durchs Fenster springen und mit ihr zu sich nach Hause laufen würde. Daraufhin verweigerte das Kind weitere Zusammentreffen mit seiner Herkunftsfamilie, bedauerte dies aber auch gleichzeitig. Da diese Besuchskontakte auch gerichtlich angeordnete Kontakte waren, wurde ich gebeten, die Besuchskontakte zu begleiten. Das Kind „prüfte“ mich auf Herz und Niere: „ Bleibst Du immer bei mir“ „Ja“. „Und wenn du aufs Klo gehst???“ „ Dann nehme ich dich mit“.
Das war überzeugend. Das Kind ging wohlgemut mit. Die Kontakte liefen ordentlich. Die Eltern taten sich zwar mit der Begleitung schwer, aber es war möglich. Die Brüder fühlten sich durch mich nur wenig gestört.
Beim dritten Kontakt rastete der Vater plötzlich aus, fing wütend an zu lamentieren, dass ihn diese Begleitung annerve und er schon wüsste, wie er mit seiner Tochter umzugehen habe. Daraufhin erregte sich auch die Mutter. Die Brüder schlichen in eine Ecke und ich hatte ein völlig aufgeregtes und fassungsloses Mädchen auf meinem Schoß sitzen und wurde lautstark von den Eltern angepfiffen und mit Schlägen bedroht. Ich blieb ruhig, hoffte nur, dass ich mit einem blauen Auge davonkäme und hielt das Kind fest umarmt. Ich konnte nicht aufstehen, da der Vater dies blockierte. Das Gebrüll wurde Gott sei dank in anderen Räumen des Amtes gehört. Nach endlosen Minuten standen zwei Mitarbeiter des Amtes vor den Eltern und erlösten das Kind und mich. Ich brachte ein tief verschrecktes und verwirrtes Kind zu seinen Pflegeeltern zurück und blieb noch einige Stunden bei ihr, um sie und mich zu beruhigen.
Nach diesem Vorfall hat es keine Besuchskontakte mehr gegeben – auch weil das Mädchen diese strikt ablehnte.
2. Beispiel
Die Begleitung von Besuchskontakten wurde eingesetzt, weil die Eltern eines knapp zweijährigen Kindes in den Besuchskontakten immer wieder sagten: „komm doch mal zu Papa, komm doch mal zu Mama“. Mit den leiblichen Eltern war länger daran gearbeitet worden, dass sie sich mit einer anderen Namensbezeichnung zufrieden geben müssten, da das Kind die Pflegeeltern – zu denen es mit 6 Monaten gekommen war - als Mama und Papa ansähe und diese auch so benenne. Die Eltern waren nicht in der Lage dies einzusehen, mit dem Ergebnis, dass das Kind beständig in Verwirrung geriet und immer wieder „Mama und Papa“ suchte.
So sollte die Besuchskontaktbegleiterin immer wieder darauf hinwirken, dass die Eltern dieses Verhalten änderten, eine andere Bezeichnung für sich wählten, um somit das Kind vor Verwirrung und Verunsicherung zu schützen. Der Vorschlag, zur Klarheit des Kindes die Pflegeeltern doch mit am Besuchskontakt teilhaben zu lassen, wurde von den Herkunftseltern strikt abgelehnt. Besonders der Vater bestand auf seinen „Recht“ und sagte immer wieder „ Aber ich bin doch dem seine Papa“.
Das Kind reagiere jedes Mal äußerst irritiert und war am Ende der Kontakte verwirrt und erschöpft. Auf Veranlassung der Begleiterin und des Jugendamtes wurden die richterlich angeordneten Besuchskontakte ausgesetzt bis zu dem Zeitpunkt, wo das Kind alt genug sei, um die Unterschiedlichkeit von leiblichen Eltern und Pflegeeltern zu verstehen.
Gefühlswirrwarr bei den Herkunftseltern
Besuchskontakte können bei Herkunftseltern zu besonderem Gefühlswirrwarr führen: z.B. Schuldgefühle, Verdrängung des bisher Geschehenen (Gründe der Unterbringung), Eifersucht gegenüber den Pflegeeltern, ambivalente Gefühle dem Kind gegenüber, Wut und sich ausgeliefert fühlen oder auch Erleichterung gegenüber Jugendamt und Helfern.
Oft entsteht Unverständnis, wenn Besuchskontakte infrage gestellt werden, weil das Kind sie nicht verkraften kann und Reaktionen nach den Kontakten zeigt – wo es doch während der Kontakte so „lieb“ war.
Herkunftsfamilien brauchen unbedingt Hilfe bei der Bewältigung der Pflege-Situation. Auch sie brauchen dringend Klarheit und verbindliche Aussagen und sie brauchen einen „Übersetzer“, der ihnen die Befindlichkeit und Wünsche des Kindes vor Augen führt.
Gefühlswirrwarr bei Sozialarbeitern, Richtern u.a.
Sozialarbeiter befürchten häufig, dass, wenn sie die gewünschten Besuchskontakte nicht in die Gänge kriegen, die Herkunftseltern vor das Gericht gehen würden und es dann noch schlimmer werden könnte. Viele Sozialarbeiter sind zerrissen in ihren eigenen Gefühlen. Sie sehen die Verwirrtheit und Verunsicherung des Pflegekindes, sie erleben schwierige rechtliche Auseinandersetzungen gerade bei Umgangsregelungen, sie haben Verständnis für die Sorgen der Pflegeeltern, die leiblichen Eltern tun ihnen oft leid – die Sozialarbeiter selbst geraten in ein Gefühlswirrwarr und fühlen sich häufig zwischen all den Erwartungen und Forderungen zerrieben.
Richter befürchten, dass sie gegen Elternrechte verstoßen, wenn sie Besuchskontakte nicht oder nicht umfassend genug zulassen und fühlen sich häufig in der komplizierten Rechtslage des Pflegekinderwesens zwischen Kindeswohl und Elternrecht nicht genügend erfahren. Ähnliche Befürchtungen gelten für einige Gutachter und viele Verfahrensbeistände.
Auflösung des Gefühlswirrwarrs
In vielen Gesprächen mit Pflegeeltern und Fachkräften, in einigen Begleitungen von Kindern, in häufiger Teilnahme an Hilfeplangesprächen, in Gruppenabenden und Fortbildungen ist mir dieser Gefühlswirrwarr immer wieder begegnet. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass die sich widersprechenden Gefühle in dieser Situation eigentlich normal sind – denn sie spiegeln die häufig unklare, ambivalente, zerrissene und kontrovers erlebte Situation von Pflegekind, Pflegeeltern, Herkunftseltern und Helferumfeld wieder.
Hier kann nur eins helfen: die Situation zu entwirren und Klarheit anzupeilen.
Dies geschieht, wenn:
- das Wirrwarr um das Kind und seiner Unterbringung entzerrt wird,
- es klare Prognosen und klare Perspektiven gibt,
- an gemeinsamen Zielen gestrickt wird,
- die verantwortlichen Erwachsenen auch Verantwortung für das Kind übernehmen,
- die Rollen der beteiligten Personen – besonderes die von Pflegeeltern und Herkunftseltern – klar sind und aus den Bedürfnissen des Kindes heraus akzeptiert werden können.
Die eigene Position finden und vertreten
Wenn es darüber hinaus noch gelingt, in den notwendigen Gesprächen die eigenen Sorgen aussprechen zu dürfen und sich ernst genommen zu fühlen , dann werden die unterschiedlichen Sichtweisen deutlich. Dann wird es möglich, die unterschiedlichen Vorstellungen, Erwartungen und Befürchtungen zu erkennen. Aus diesen Unterschiedlichkeiten heraus müssen gemeinsame Ziele entwickelt und kindorientierte Entscheidungen getroffen werden. Dann entsteht eine Klarheit in dem, was zu tun ist und was von jedem erwartet werden kann. Letztendlich muss klar werden, welche Aufgabe durch wen übernommen wird und wofür wer verantwortlich ist.
Herkunftseltern, Pflegeeltern, Sozialarbeiter, Vormünder, Richter und andere haben unterschiedliche Aufgabenbereiche und somit unterschiedliche Verantwortungen dem Pflegekind gegenüber. Dies zu erkennen, dies deutlich zu machen und zu akzeptieren würde ein Team um das Kind schaffen, welches sich leiten lässt durch die Entwicklung und Bedürfnisse eines in seinem Leben schon gebeutelten und daher besonders schutzbedürftigen Kindes. Die eigene innere Klarheit macht Mut, die erlebten Besuchskontakte wenn notwendig zu hinterfragen und neue Vorstellungen einzubringen.