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15.04.2009
Fachartikel

Gequält, verkauft und im Netz angeboten - Opfer und Überlebende von „Internet-Pornografie“ fordern uns heraus

Es gibt wohl nichts Schrecklicheres für ein Kind, einen jugendlichen oder erwachsenen Menschen, als bewusst und absichtsvoll gequält zu werden. Opfer sogenannter „Kinderpornografie“ und sadistischer bzw. ritualisierter Gewalt haben erlebt, wie Täter sie von einem menschlichen Wesen zu einem „Ding, mit dem man tun kann, was man will“, gemacht haben. Wie können wir die Überlebenden angemessen begleiten, was brauchen sie, um sich geschützt zu fühlen, wenn sie aus organisierten Täterringen fliehen, und wie muss die Gesellschaft ihnen entgegenkommen, damit sie merken, dass wir „verstanden“ haben?

von Michaela Huber

Dieser Artikel erscheint in Kürze in:
Karl-Heinz Brisch (Herausgeber): Bindung, Angst und Aggression, Tagungsband zum Kongress der Hellbrügge-Stiftung München 2008; im Druck.

Es gibt wohl nichts Schrecklicheres für ein Kind, einen jugendlichen oder erwachsenen Menschen, als bewusst und absichtsvoll gequält zu werden. Opfer sogenannter „Kinderpornografie“ und sadistischer bzw. ritualisierter Gewalt haben erlebt, wie Täter sie von einem menschlichen Wesen zu einem „Ding, mit dem man tun kann, was man will“, gemacht haben. Entsetzen, Scham und äußerste Schmerzen, die nicht gezeigt werden durften, haben sie gezwungen, so weit wie möglich innerlich „wegzugehen“, also zu dissoziieren, und zu tun, was verlangt war, ohne sich wehren zu können. Viele Überlebende brauchen eine lange Zeit, um sich einem Menschen überhaupt wieder auch nur ansatzweise anvertrauen zu können. Und wenn sie daran denken, dass die Bilder ihrer Demütigung und der ihnen abverlangten Handlungen ins Internet gestellt wurden, packt viele auch später noch Wut und Verzweiflung.

Wie können wir die Überlebenden angemessen begleiten, was brauchen sie, um sich geschützt zu fühlen, wenn sie aus organisierten Täterringen fliehen, und wie muss die Gesellschaft ihnen entgegenkommen, damit sie merken, dass wir „verstanden“ haben?

Politische Bemühungen und Realität der Verbreitung

Die Politik immerhin bewegt sich in letzter Zeit: „Familienministerin von der Leyen will Kinderporno-Seiten sperren lassen“, diese Initiative seit November 08, inzwischen in Gesetzesinitiative umgesetzt, rief Zustimmung wie kritische Kommentare hervor. Zur Kritik gehört: Die wenigsten Pädokriminellen gehen direkt über das www vor, wenn sie sich mit anderen austauschen, sondern sie loggen sich über Pass-Wörter in Newsgroups, sie betreiben Tauschbörsen, haben „Schwarze Bretter“ und andere Kommunikationsformen, zu denen über die direkte Sperrung der Webseiten kaum Zugriff zu bekommen ist. Der wohl bekannteste Staatsanwalt im Bereich der Bekämpfung von sogenannter Kinderpornografie, Peter Vogt aus Halle, meinte: „Wir mähen den Rasen – drehen uns um und sehen: Alles nachgewachsen. Eine Seite, die wir beobachten, hat in zehn Tagen 49.000 Besucher gehabt. Die Nachfrage ist enorm.“ (Zeit online, 26. 11. 08) Doch kaum ein Kriminalbeamter hat Zeit, sich darum zu kümmern. „Wenn mir am Tag 30 Minuten dafür bleiben, ist es viel“, zitiert der Stern (Nr. 15/2009, S. 58) einen von zwölf „Netzwerkfahndern“ beim Bayerischen Landeskriminalamt. Dabei gäbe es viel zu tun: von „50.000 heruntergeladenen Videos (mit dem Inhalt sexualisierter Gewalt gegen Kinder, MH) in einem Monat“ spricht nachrichten.t-online am 20. Nov. 08. Und das nur in Deutschland.

Webseiten sperren als Kampf gegen die Kinder-Quäler? „Der PC, so beobachten Ermittler schon länger, gilt in der Szene sowieso als out und gefährlich, weil die Nutzung im Netz und auf der eigenen Festplatte zu viele Spuren hinterlässt. Getauscht wird neuerdings wieder mehr offline, per klassischer Post oder zunehmend per Handy-MMS. Telefone oder DVDs lassen sich im Zweifel schneller beseitigen.“ (Stern,Nr. 15/2009, S. 59). Und der Markt ist riesig. DerWeltkongress gegen sexuelle Ausbeutung in Rio nannte Ende 2008 eine furchtbare Zahl: 1,8 Millionen Kinder werden derzeit weltweit zu Pornografie und Prostitution gezwungen.

Sprachregelung

Lassen Sie mich etwas zur Sprachregelung und der harten Realität sagen:

Kinderpornografie? Kinderprostitution? Wer pornografiert und prostituiert (sich) denn da? Was sind das für verharmlosende Begriffe? (Siehe: Monika Gerstendörfer: Der verlorene Kampf um die Wörter, 2007)

Bei der sogenannten „Kinderpornografie“ und „Kinderprostitution“ handelt sich tatsächlich um Folter. Und genau so sollten wir es auch bezeichnen:

Gezielte, äußerst brutale Folter, meist von Männern (97 Prozent der auf Fotos und Videos zu sehenen Täter sind Männer) gegen Mädchen und Jungen. Die Täter wollen zerstören. Sie bringen ein Kind in ihre Gewalt, und sobald sie sich sicher genug fühlen, schlagen sie zu: Sie entkleiden das Kind, ob es das will oder nicht. Sie zwingen es, sie an den Genitalien zu berühren und begrabschen es selbst, und das tut meist dem Kind sehr weh. Sie hören das Kind wimmern und betteln, sie sehen es erstarren, sie würgen und beißen es, sie erdrücken es mit ihrem Gewicht, sie zerreißen ihm Haut und Organe, sie „verleiben“ sich das Kind ein, besudeln es mit ihren Ausscheidungen. Meist wird das Kind das Gefühl haben zu sterben. Manche sterben auch dabei, an zerrissenen inneren Organen, am Beckenbruch, oder weil sie den Penis eines Täters so in den Schlund gedrückt bekommen haben, dass sie daran erstickten. Wer überlebt, versucht sich innerlich „wegzumachen“, „fliegt auseinander in tausend Teile“, ist „gar nicht mehr da“ oder wie auch immer die Opfer später ihren dissoziativen Prozess während der Tat beschreiben werden. Und die ganze Zeit über hörten sie das Surren der Kamera, die ihre Qualen aufzeichnete. Wenn der eine mit ihnen „fertig“ war, kam oft der nächste, und der nächste, und der nächste. Zumindest dann, wenn – wie so oft – das Kind nicht nur per Film von einem (in der Regel dann auch Dauer-)Täter verschachert, sondern von ihm auch noch als menschliche Ware zum Verbrauch durch Fremde angeboten wird. Das ist die harte Realität, die sich hinter den kläglichen Begriffen Kinderpornografie und Kinderprostitution verbirgt.

Achtung daher auf die Charme-Offensive der Pädo-Kriminellen! Sie sind nicht einfach nur „anders, wie Homosexuelle auch“; sondern sie benutzen und quälen Kinder gezielt und schaden ihnen ausnahmslos.
Sprechen wir also statt von „Kinderprostitution“ zum Beispiel von sexualisierter Folter gegen Kinder; und statt von „Kinderpornografie“, verniedlichend auch noch „Kipo“ abegkürzt, sollten wir Begriffe wie Kinderfolter-Dokumentation oder ähnliche wählen.

Wie entdecken wir die Opfer?

Kaum ein Opfer, ein/e Überlebende/r, kommt zum Arzt, zur Psychotherapeutin, Beraterin etc. und sagt sofort: „Ich bin als Kind von Männern vergewaltigt und dabei gefilmt worden.“ Viele brauchen Jahrzehnte, um die Schrecken überhaupt so zu realisieren, dass sie bewusst benennen können, was ihnen da als Kind geschah. Selten entdecken wir die Opfer bzw. entdecken sich die Opfer selbst auf Filmen, die von der Kripo asserviert wurden. (Wer selbst recherchiert, macht sich – im Bereich „Kinder-Pornografie“ - strafbar!)

Die meisten (über-)leben so:

  • Sie sind als (Heim-; Pflege-; Adoptiv-; Schul-…) Kinder auffällig. Sie sind häufig „krank“ bzw. werden am Montag (nach Wochenenden, in denen sie verschachert wurden) krank gemeldet. Sie dürfen, solange die Täter als Pflegepersonen den Zugriff auf sie haben, niemanden mit nach Hause bringen, nicht über Nacht zu anderen Kindern aus der Klasse oder zu Nachbarskindern (es sei denn, es handelt sich um „Kunden“ oder Mittäter-Familien), sie dürfen nicht nach der Schule noch mit anderen spielen oder auf Klassenfahrt; sie sind extrem scheu oder (auto)-aggressiv, zurückgezogen und/oder sexualisiert. Viele gelten als „komisch“ (also merkwürdig), weil sie Außenseiter sind, weil sie so oft glasigen Blickes irgendwo sitzen und innerlich „abgetaucht“ sind, weil sie abrupt Todesangst zeigen oder in Auseinandersetzungen so „ausrasten“, dass sie wie um ihr Leben zu kämpfen scheinen. Und einige fallen überhaupt nicht unangenehm auf. Sie können so gut dissoziieren, dass sie am Tag nach einer nächtlichen Folter eine sehr gute Klassenarbeit schreiben oder einen Schwimm-Wettbewerb gewinnen.
  • Als Erwachsene sehen wir sie in ambulanter und stationärer Psychotherapie. Sie kommen mit Symptomen/Diagnosen wie generalisierte Angststörung, depressive Einbrüche, posttraumatische Belastungsstörung, Anpassungsstörung, Ess-Störung, Suchtverhalten, Selbstverletzungen, Bindungsstörung, Aggressions-Störungen und/oder Dissozialität, Persönlichkeitsstörungen und dissoziative Störungen; manche sind/wirken psychotisch bzw. Psychose-nah. Einige sind Internet- bzw. Sex-süchtig. Manche machen als Eltern mit ihren Kindern dasselbe. Viele funktionieren einigermaßen im Alltag, wenn auch auf deutlich reduziertem Niveau. Mindestens ebenso viele aber können ihre Intelligenz und ihre Talente nicht oder nur unzureichend ausleben, sind häufig krank, wenig belastbar. Etliche werden früh berentet und kommen dann nur noch in einzelnen Ausnahmefällen wieder in den Arbeitsmarkt zurück. Aufgrund der diffusen Symptomatik gelten manche sogar als „Rentenbegehrer“, „Münchhausen-“ oder „Artefakt-Patienten“. Gutachter bezweifeln ihre Geschichte häufig, wenn diese denn überhaupt von den Therapeuten benannt wird. Zu Anzeigen gegen die Täter kommt es extrem selten. Die meisten haben chronische psychische Stressfolge-Störungen und sind Dauer-PatientInnen im Gesundheitswesen. Dies, während sie gleichzeitig äußerst misstrauisch sind gegenüber anderen Menschen, und externe HelferInnen lieber nicht an sich heranlassen. Dafür bleiben sehr viele sehr lange sehr intensiv mit den Tätern verbunden, denen sie nach wie vor gehorchen, die nach wie vor Macht über sie und ihr Leben haben. Dies gilt für fast alle, die noch keine kontinuierliche, verlässliche Bindung aufbauen konnten, etwa zu Pflege- bzw. Adoptiveltern, zu BeraterInnen oder TherapeutInnen bzw. später zu einer psychisch stabilen PartnerIn. Doch selbst wer all diese Bindungen schon hat, aber stark dissoziativ ist, bleibt häufig in Teilen der Persönlichkeit lange eng an die Täter gebunden. Schrecklich ist es, wenn Behördern auch noch das Umgangsrecht mit den Tätern erzwingen!
  • Sie haben in den Jahren und Jahrzehnten nach der Qual, die vielleicht sogar immer noch andauert – ein nicht geringer Anteil der „verkauften Kinder“ werden auch als Jugendliche und Erwachsene von den Tätern noch zur Prostitution gezwungen – nicht nur psychische, sondern auch körperliche Probleme: Genitale, anale bzw. Mund-Erkrankungen, Hepatitis und HIV, Magen-Darm-Probleme, Unverträglichkeit gegenüber bestimmten Nahrungsmitteln, Haut- und Nierenprobleme, Erkrankungen der Wirbelsäule, häufige Infekte und Erkrankungen, die auf eine chronische Unterdrückung bzw. Überstimulierung des Immunsystems zurückzuführen sind, darunter neurologische Erkrankungen, Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die meisten haben chronische Schmerzen im Unterleib, in der Mundhöhle und an den Zähnen, Kopfschmerzen, Nackenschmerzen. Jedenfalls so lange, wie die Folter-Erfahrung nicht ausreichend integriert ist, tut es überall dort weh, wo es „damals“ weh getan hat. Als Folge der schweren Symptome entwickeln viele Süchte, schwere Ess-Störungen, teilweise extreme Selbstverletzungen (Arme und Innenseite der Oberschenkel sowie Genitalien und Bauch – auch da: überall, wo die Täter sie angefasst haben – werden mit Schneidewerkzeugen traktiert, Zigaretten werden auf den Armen ausgedrückt, um Flashbacks zu unterdrücken oder zu beenden; etc.

Erinnerungen...

  • An das Surren von Kameras, das Klicken von Fotoapparaten. Diese Trigger machen viele Überlebende panisch.
  • Nacktheit und Genitalien, Sperma, Blut und Exkremente: dito. Wenn sie nicht während sexueller Handlungen switchen (also „gefühllose“ Persönlichkeitsanteile die Handlungen ausführen).
  • An das Posieren-Müssen. An die widerlichen Sprüche der Täter. An lange Zeiten, in denen sie warten, warten, warten mussten. An Eingesperrtsein. An Kälte, Hunger, Durst.
  • Daran, dass sie selbst Obszönes sagen, anderen (Kindern, Tieren, Erwachsenen) Schlimmes antun mussten. Eine Überlebende hat einmal ausgerufen: „Ich musste so oft sagen: ‚Fick mich, du Sau’ – kannst du dir vorstellen, was das mit mir gemacht hat?!“
  • Unter Umständen an Gewaltszenarien aller Art in seltsamen Inszenierungen: Messer, Fesseln, Kreuze, Masken, Umhänge u. andere Verkleidungen, Symbole, Rituale….
  • An Männer, die quälen. An Frauen, die ihnen zuarbeiten und so tun, als wären sie hilfreich, es aber nicht sind. An Kinder, mit denen es keine Solidarität gab.

All diese Erinnerungen quälen, und wer sich das klar macht, kann verstehen, wie schwer es Überlebende haben, irgendjemandem zu trauen. Im Zweifelsfall handeln viele nach dem Motto „Schmerz hilft und Hilfe schmerzt“, wie Harvey Schwartz es in seinem ausgezeichneten Buch „Dialogues with forgotten voices“ (2002) beschrieben hat. Das prekäre Gleichgewicht wird gegen jede Form äußerer Veränderung verteidigt. Ich habe dafür folgendes Bild gefunden: Viele Überlebende kommen mir vor, als ob sie ein Tablett mit vielen Wassergläsern durch die Welt trügen. Die Wassergläser stehen für Erinnerungen, Zustände, Persönlichkeitsbereiche. Je gefährdeter das Gleichgewicht (das Ausbalancieren des Tabletts), desto mehr wird es gegen Veränderung verteidigt. Dann ist jede Hilfe gefährlich, und im Zweifelsfall greift man zu den alten Mitteln, die immer geholfen haben, nämlich sich Schmerz zuzufügen, direkt (Süchte, Selbstverletzungen, Beziehungsabbrüche) oder indirekt (indem man mit den Tätern weiterhin Kontakt hat, sich weiter quälen lässt bzw. neue Partnerschaften mit Misshandlern eingeht etc.).

Wenn es extremer Sadismus war, dann…

  • Gibt es eine Höllenangst davor, „gesehen“ und danach verletzt zu werden. Denn Sadisten studieren ihr Opfer, und dann versuchen sie, es mit diesem Wissen zu „brechen“. HelferInnen bekommen dies später zu spüren: Nicht selten wird nach einer nahen, vertrauensvollen Begegnung der Kontakt abgebrochen, ein Streit provoziert, es kommt zu einem Rückfall… - alles aus großer Angst, jetzt werde die HelferIn die gewonnene Nähe nutzen, um etwas Schreckliches zu tun.
  • Gibt es intensive äußere und/oder innere sadomasochistische Reinszenierungen: Täterintrojekte quälen die „Opfer-Kinder“ im Innern der Persönlichkeit, teilweise wird das auch in Tagträumen oder Alpträumen deutlich. Oder die Verbindung zu den Tätern wird gehalten – die Überlebende gilt als „hörig“ etc. Oder die Taten werden mit anderen nachgespielt, wobei das Kind, der/die Jugendliche oder Erwachsene entweder immer wieder in die Opferrolle geht, oder in die des ohnmächtigen Zeugen, oder in die des Täters, ohne dass eine Besserung der Symptome eintritt, häufig im Gegenteil. In der Übertragungs-Gegenübertragungssituation in Psychotherapien mit Überlebenden kann es auch zu einer schmerzvollen Reinszenierung kommen: Die TherapeutIn wird in die Rolle der ohnmächtigen ZeugIn gezwungen, die verzweifelt und hilflos zusehen muss, wie die KlientIn zugrunde geht…. Oder sie bekommt die Täter-Übertragung. Oder sie wird viktimisiert: Sadistische Anteile in der KlientIn quälen die TherapeutIn, etwa mit Selbstverletzungs- und Suiziddrohungen.
  • Ist das Schweigegebot und die Todesangst lebenslang schlimmer als alles andere. Eine Umfrage in mehreren Bundesländern unter KV-Psychotherapeuten ergab zum Beispiel, dass zwischen 11 und 15 Prozent von ihnen rituelle Gewalt im Sinne schwerer, wiederholter, sexualisierter sadistischer bzw. „satanistischer“ Gewalttaten als Erlebnisse ihrer PatientInnen kannten; die meisten hielten die Todesdrohungen durch die Täter und das absolute Schweigegebot für das häufigste und vielleicht gravierendste Problem ihrer PatientInnen (die Ergebnisse dieser Studien werden derzeit für Veröffentlichungen aufbereitet).
  • Fühl(t)en sich die Opfer als Monster“ und leiden unter extremen Schuld- und Schamgefühlen. Weil sie anderen – Tieren, Kindern, Jugendlichen etc. – Schlimmes antun mussten. Zur Misshandlungsstruktur bei sadistischer Gewalt (durch Bindungspersonen sowie im Bereich „Kinderprostitution“ gelegentlich; in destruktiven „satanistischen“ Kulten, extremen Sado-Maso-Kreisen etc. fast immer) gehört, dass das Opfer andere Lebewesen für Misshandlungen „auswählen“ und sie selbst mit eigenen Händen quälen muss. Später haben die Betroffenen den Eindruck, ihr Lebensrecht in „dieser Welt“ (im Vergleich zur dunklen Welt der Täter) verwirkt zu haben.
  • Sind intensive Täter-Bindung, Suizidalität und/oder eigene Täterschaft hohe Risikofaktoren.

Was können wir tun?

  • Lernen. Zuhören. Sachlich-nüchtern sein. Wir haben viel zu lernen, weil wir in der Regel die (früheren) Lebensumstände der Menschen, denen wir Unterstützung anbieten, gar nicht kennen. Ihnen zuhören ohne zu werten, aber auch, ohne sie einzuladen, in die Einzelheiten zu gehen. Im Gegenteil: Häufig sollten wir darauf hinweisen, dass es völlig genügt, „die Kapitelüberschriften“ oder „Titel“ von Themen zu nennen und „darüber“ zu sprechen im Sinne von „etwas verstehen, erst mal nichts ändern, nur verstehen“. Nicht die Namen des/der Täter aussprechen, sondern von „ihm“ oder „ihnen“ sprechen (Schweigegebot!). Vorsichtig explorieren, ob die KlientIn noch in Täterhänden ist. (Das kann lange dauern.) Dann Ausstiegsberatung und –begleitung (s.u.). Die Betroffenen brauchen sehr lange, um wirklich Vertrauen aufzubauen, und drücken sich bewusst und unbewusst häufig eher ungenau und indirekt aus. Gleichzeitig haben sie häufig sehr bedürftige – etwa kindliche – Anteile, die sich aufs Äußerste nach sicherer Bindung, Freundlichkeit, Achtsamkeit und auch Wärme und Aufgehobensein sehnen. Doch Vorsicht: Wer zu nah kommt, bekommt es mit anderen Seiten der Persönlichkeit zu tun, etwa selbstbeschützend-aggressiven Anteilen („Alle Menschen sind Arschlöcher“) oder Täterintrojekten („Die will dich nur quälen, jetzt ist sie erst mal freundlich, aber dann…“ oder „Wehe du hältst nicht das Maul!“). Folgen sind dann u.a. Selbstverletzungen, Kontaktabbrüche, Suizidversuche. Daher:
  • Nicht zu nah kommen, und doch empathisch sein. Mehr „Coach“ als „Mama“ (die Eltern-Übertragung bekommen die HelferInnen ohnehin, sie sollten sie aber nicht fördern). Eher „Moderatorin“ der inneren, häufig stark dissoziativen, Welt in der KlientIn sein. Eher „Hilfestellung wie beim Turnen“ geben, als zu viele Vorschläge machen.
  • Geduldig sein, damit rechnen, dass Vertrauen immer wieder in Gefahr ist. Ihnen helfen, sichere Bindungen aufzubauen. Wer keine sichere Bindung kennt, wird sich aus gewalttätigen nicht lösen. Zu sicherem Bindungsangebot zählt Verlässlichkeit im Kontakt sowie nur das zu versprechen, was man auch halten kann. Gute Grenzen gehören ebenso dazu wie die klare Äußerung des Glaubens an die Kraft der KlientIn, vorwärts zu kommen in ihrem Heilungs- bzw. Veränderungsprozess. Bei Kontaktabbruch durch die KlientIn braucht es oft, dass die TherapeutIn wieder anknüpft, indem sie noch einmal anruft oder einen Brief schreibt und darin wieder zur nächsten Stunde einlädt („Anknüpfen nach unterbrochener Kommunikation“ nennt Daniel Siegel als eines der wichtigsten Kriterien für ein sicheres Bindungsangebot).
  • Ausstiegsbegleitung. Bei einer Intensivbefragung von Ausstiegsbegleiterinnen (Vielfalt, 2007, siehe www.vielfalt-info.de) ergaben sich folgende Schritte, die bei den meisten KlientInnen erfolgreich waren:

1. Unzuverlässig werden für die Täter (nicht regelmäßig kommen…)
2. Gezieltes „Verpassen“ von Treffen und Vermeiden von Triggern. (Hier sind mit Trigger gemeint: Hinweise/Drohungen durch die Täter, dass die Betroffene „kommen“ oder sich selbst „bestrafen“ soll bzw. Auslöser für sie selbst, die ihre Rückkehr zu den Tätern beschleunigen könnten).
3. Kompletter Kontaktabbruch.

Weitere wichtige Schritte

sind in der Regel:

  • Auf der „inneren Bühne“ arbeiten, also mit allen Zuständen und Anteilen der KlientIn. Die Betroffenen anleiten, den Täterintrojekten die Hand hin zu halten. Der innere Kampf kann nur beendet werden, wenn alle Bereiche der Persönlichkeit verstanden werden. Auch Täterintrojekte sind Teile der Gesamtpersönlichkeit, sie sind nicht gleichzusetzen mit den Tätern! Das sollten auch HelferInnen beherzigen, die mit hoch dissoziativen KlientInnen arbeiten: Täterintrojekte sind nur „Spiegelspiltter“ der Täter, nicht etwa die Täter selbst. Wichtig ist es nur herauszufinden, ob diese Bereiche der Persönlichkeit auch autonom im Alltag agieren und wenn ja, ob sie zu Selbstverletzungen etc führen und/oder ob andere Lebewesen gefährdet sind, die dann zu schützen wären. Denn die Schutzbefohlenen unserer Schutzbefohlenen sind auch unsere Klienten. Im Zweifel gilt: Sicherheit geht vor Schweigepflicht. Wenn die Betroffenen z.B. ihre Kinder verletzen oder Tätern ausliefern, müssen vorrangig erst einmal die Kinder geschützt werden, dann kann mit der KlientIn weitergearbeitet werden, falls das dann noch möglich ist.
  • Mit verlässlichen Behörden-Vertretern verlässlich zusammen arbeiten. Wichtig ist es, den Datenschutz und die Schweigepflicht zu beachten; andererseits sind Behörden oft ahnungslos, wenn es um organisierte Ausbeutung geht, schon gar, wenn diese sadistisch ist. Arbeitskreise helfen sehr, in denen anonymisiert über das Schicksal der Menschen berichtet und sich ausgetauscht werden kann; häufig sind Helfernetzwerke erforderlich, zu denen auch Kriminalpolizei und Vertreter von Gesundheitsbehörden zählen, um überhaupt eine Infrastruktur von Hilfen aufzubauen. Dazu würden auch mehr Ausstiegshilfen gehören, sowohl finanziell, als auch personell, als auch räumlich. Daran fehlt es sehr!
  • Gezielte traumazentrierte Psychotherapie (Reden allein genügt nicht!). Diese Menschen haben sehr viele sehr belastende Symptome. Die Psychotherapie sollte jedoch erst im Zuge all dieser hier aufgeführten Schritte näher an die Traumaerfahrungen der KlientIn heranführen und diese bearbeiten helfen. Denn wer noch in Täterhänden ist, kann in der Regel keine Trauma-prozessierende Arbeit tun. Gewöhnlich braucht es erst einmal viel stabilisierende Arbeit und Arbeit auf der „inneren Bühne“ und mit den Täterintrojekten. Dann folgt die Arbeit am Ausstieg, wobei bei denjenigen, die organisierten Kriminellen von Kindesbeinen ausgesetzt waren - auch die auf Gehorsam „gedrillten“ Persönlichkeitsanteile, die intensiver Mind-Control ausgesetzt waren - sozusagen „entprogrammiert“ werden müssen. Dieses Auflösen der Denk-, Gefühls-, und Verhaltensautomatismen dauert seine Zeit. Dabei und danach kann das Prozessieren und Integrieren der Trauma-Erfahrung im einzelnen in Angriff genommen werden.

Was sollten wir tun?

  • Mehr Aufklärung in der Öffentlichkeit: Sexualisierte Folter an Kindern in jeder Form – durch Bindungspersonen wie in organisierten Gruppen - gibt es öfter, als man denkt.
  • Mehr und bessere Netzwerke: Aufklärung der Öffentlichkeit, niedrigschwellige Angebote für AussteigerInnen, Intervisionsgruppen, Fortbildungen, Arbeitskreise.
  • Bessere Finanzierung der Beratung, Unterbringung, Betreuung, Therapie für die Opfer und Überlebenden. Dies wird immer wieder gefordert, muss aber weiterhin eingeklagt werden!
  • Deutlich verbesserten Opferschutz erreichen (Verjährungsfrist für „sexuellen Missbrauch“ verlängern; härtere Strafen für Täter, insbesondere im organisierten Milieu der Pädokriminellen und der Internet-Verbreitung von Folter-Dateien).
  • Mehr Forschung; einiges wird gerade veröffentlicht, etwa drei Studien zu den Folgen von ritueller Gewalt; international ist einiges bereits vorhanden; es fehlen Outcome-Studien von Therapien mit den Betroffenen.

Wer bis hierhin gelesen hat, dem/der sei gedankt.
Michaela Huber