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22.05.2012

Geschwisterbeziehungen in Pflegefamilien und Pflegeeltern als Beziehungsmanager

Auf der Bundesfachtagung der IGFH "Mit zwei Familien leben" – Professionelles Handeln in Erziehungsstellen und der Pflegekinderhilfe" im März 2012 wurde auch das Thema der Geschwistervermittlung in einer von Dr. Müller-Schlotmann angebotenen Arbeitsgruppe diskutiert.

Themen:

Allgemeines zur Geschwisterbeziehung

Zwei zentrale Merkmale gelten für die Geschwisterbeziehung in einem besonderen Maße: die Ambivalenz mit der Geschwister sich im einen Moment lieben und im nächsten Moment abgrundtief hassen können, und die Dauer der Geschwisterbeziehung - die längste Beziehung unseres Lebens (Petri 1999). In der Familie ist es in der Regel nicht möglich, die Beziehung zu Geschwistern zu beenden, wie das etwa bei Freundschaftsbeziehungen möglich ist. Die enge, nichtaufhebbare und emotionale Beziehung, in der immer wieder Konflikte entstehen und ausgetragen werden, in der Geschwister sich gegenseitig unterstützen, aber auch alleine lassen und bloßstellen können, in der es immer wieder um Vergleiche, Gemeinsamkeiten und Unterschiede geht, trägt zum Aufbau wirksamer Aggressionskontrollen bei.

Besonderheiten der Geschwisterbeziehung von Kindern, die in Pflegefamilien vermittelt werden

Viele Geschwister, die in Pflegefamilien vermittelt werden, haben auf dem Hintergrund wenig verlässlicher und selten sicherer Bindungserfahrungen zu Eltern, Aufgaben von Bindungspersonen auf Geschwister übertragen. So kann sich als Konsequenz aus einem starken Zusammenhalt zwischen den Kindern unter gleichzeitiger Vorenthaltung zuverlässiger elterlicher Zuwendung und unzureichendem Einfluss der Eltern eine zu starke Geschwisterbindung entwickeln. Solche intensiven Geschwisterbeziehungen werden insbesondere dann aktiviert, wenn andere Beziehungen wenig stabil sind.

Andere Geschwister haben gelernt, um die Aufmerksamkeit von Eltern zu rivalisieren, die es nur schaffen, sich um ein Kind zu kümmern. Geschwister werden zu Konkurrenten.

Aber es sind nicht nur äußere, sozusagen objektive und beobachtbare Kriterien, die auf die Gestaltung der Geschwisterbeziehung einwirken; die Qualität der Beziehung hängt von weiteren Umständen in der Familie (zum Beispiel dem Vorhandensein anderer erwachsener Bindungspersonen) und der Persönlichkeit, den Verarbeitungsmöglichkeiten der Kinder ab.

Beziehungen zwischen Geschwistern aus Multiproblemfamilien sind häufig geprägt durch Parentisierung, Über- und Unterordnung, Loyalität den Geschwistern gegenüber und geschlechtsspezifische Aspekte. Es zeigt sich häufig ein höheres Maß an destruktiver Rivalität in Verbindung mit fehlendem bzw. die Rivalität negativ unterstützendem Einfluss der bisherigen Eltern. Bei Aufrechterhaltung der Bedingungen - ohne positiven Außeneinfluss - würde sich daran vermutlich nicht viel ändern.

Geschwisterbeziehungen in Pflegefamilien

Im System Familie lassen sich Untersysteme abgrenzen: die Eltern haben besondere Aufgaben bezogen auf die Erziehung ihrer Kinder; die Geschwister bilden ein Subsystem, in dem die Kinder sich zusammentun können. Es gibt ein meist klares Machtverhältnis: die Eltern geben Regeln vor, die Kinder haben diese in der Regel zu befolgen.

Werden Kinder in Pflege genommen werden deren vorhergehende Erfahrungen auf die Beziehungsgestaltung zu den Pflegeeltern angewendet. Das System Herkunftsfamilie mit seinen vorhandenen oder fehlenden Regeln und Verbindlichkeiten spiegelt sich in der Pflegefamilie – und nimmt damit auch Einfluss auf Kinder, die bereits in der Familie leben, ja sogar auf Kinder, die erst später in die Familie geboren (oder aufgenommen) werden. Besondere Bedeutung kommt der Frage zu, ob Geschwisterkinder gemeinsam oder getrennt in Pflegefamilien vermittelt werden sollen.

Getrennte Vermittlung von Geschwistern in Pflegefamilien - der Normalfall?

Vorteile der getrennten Vermittlung liegen vor allem in der möglichen Konzentration auf ein Kind, dem Herausholen aus „gestörten“, aus sich behindernden Geschwisterbeziehungen und der Entlastung insbesondere älterer und/oder weiblicher Geschwisterkinder, die Verantwortung für ihre Geschwister übernommen haben. Es erhöht sich die Chance auf die Möglichkeit einer individuellen Entwicklung und des Aufbaus einer sicheren Bindung zu Elternfiguren.

Aber: Das Vermissen des Geschwisters und von dessen Kompetenzen kann zur Entwicklungshemmung beim Kind beitragen. Ich habe erlebt, wie ein siebenjähriger Junge seinen Zwillingsbruder, der in einer anderen Pflegefamilie aufwuchs und zu dem er lange keinen Kontakt mehr gehabt hat, nicht nur unter der Trennung gelitten hat. Zusätzlich war zu spüren, dass er Kompetenzen, die der Bruder entwickelt hatte, nicht selbst entwickeln konnte. Geschwisterkinder nutzen gegenseitig ihre Stärken und entwickeln offensichtlich Fähigkeiten nicht immer selber, die beim Bruder oder der Schwester vorhanden sind und vom Geschwister genutzt werden können. Auch wenn die Beziehung der Geschwister untereinander gestört oder belastet zu sein scheint, ist sie doch häufig ein Halt und Orientierung gebendes Element.

Geschwisterkontakten wird heute eine große Bedeutung zugemessen. Aus manchen Internetseiten zur Vermittlung von Kontakten nach langen Trennungen ist bekannt, dass Pflegekinder häufiger nach Geschwistern als nach den leiblichen Eltern suchen. Dennoch erweist sich die Regelung von Umgangskontakten zwischen Geschwistern (trotz des ausdrücklichen Wunsches vieler Eltern) und von Umgangskontakten der Eltern mit den Kindern (gemeinsam) in der Praxis häufig als schwierig. Manche Pflegeltern haben und manche Fachkräfte teilen Bedenken mit Blick auf die Integration des Kindes, sie haben Angst vor negativen Auswirkungen auf die Entwicklung oder das Verhalten des Pflegekindes, handeln zum Schutz des Kindes. Manchmal möchten die Pflegeeltern Entwicklungsprozesse oder Veränderungen durch diesen Schutz des Kindes ermöglichen, die dadurch zu erreichen wären, dass das Kind Kontakte zu Geschwistern hat. Einige Beobachtungen deuten darauf hin, dass die Bedeutung der Geschwisterbeziehung für eine positive Entwicklung des Kindes unterschätzt wird. Trennung ist ein zentrales Thema für Pflegekinder, Trennungen von den Geschwistern und der Abbruch von Kontakten zu Geschwistern können gravierende Folgen für die Entwicklung des Kindes haben. Viele Kinder möchten wissen, wie es dem Geschwister geht. Natürlich verbunden mit Fragen und Unsicherheiten: Geschwister, die in unterschiedlichen Pflegefamilien leben, müssen manchmal ihre Beziehung neu definieren. Sie müssen sich vergewissern, dass sie - trotz des getrennten Lebens in unterschiedlichen Familien mit neuen Geschwistern - Geschwister bleiben. Es kommt zu Unsicherheiten, weil sich die Kinder auch als Geschwister der leiblichen Kinder der Pflegeeltern fühlen. Es gibt zu wenig begriffliche Differenzierung.

Allerdings deutet viel darauf hin, dass Geschwister dann getrennt vermittelt werden sollten, wenn sie eine Streitbeziehung, eine sehr Konflikt belastete Beziehung haben.

Gemeinsame Vermittlung von Geschwistern in Pflegefamilien

Wie viele Kinder, die in eine Pflegefamilie aufgenommen werden, zweitweise einen Loyalitätskonflikt zwischen der aktuellen Familie und der Herkunftsfamilie empfinden, fühlen Geschwister im Rahmen einer gemeinsamen Vermittlung in eine Pflegefamilie kaum anders. Zusätzlich erleben sie diesen Konflikt in der Beziehung zum Geschwisterkind – während sich das eine Kind an die Pflegefamilie binden möchte, fällt dies dem anderen Geschwister vielleicht schwer oder dieses erlaubt dem Geschwister nicht, sich in der Pflegefamilie zu binden. Das „System im System“ oder „Block Geschwister“ als abgeschlossene Beziehung mit eigenen Regeln, die sich selber ohne Erwachsene erzogen haben, erschwert gravierend die Arbeit der Pflegeeltern. Insbesondere dann, wenn die Geschwister „Aufträge“ etwa durch die leiblichen Eltern erhalten oder angenommen haben, sich nicht zu binden.

Insbesondere bei Zwillingen denken viele Fachkräfte und Eltern an eine gemeinsame Vermittlung. Insgesamt finden sich viele Positionen in der Pflegekinderhilfe, die sich für eine gemeinsame Vermittlung von Geschwistern in Pflegefamilien aussprechen. In der Literatur finden sich Hinweise darauf, dass eine um zwei Monate zeitversetzte Vermittlung von Geschwistern in die gleiche Pflegefamilie günstig ist (Boer/Spiering 1991). Allerdings erscheint dieses Ergebnis empirisch weniger gut abgesichert und findet sich in der heutigen Diskussion praktisch nicht mehr.

Geschwister gemeinsam zu vermitteln bedeutet den Erhalt eines Teils der Familie und damit eine Minderung der Auswirkung eines Trennungserlebnisses, die Ermöglichung eines Austausches über gemeinsam Erlebtes und die Chance auf eine Realitätsprüfung. Dass die Kinder tatsächlich über ihre Herkunftsfamilie sprechen, bestätigt eine Untersuchung in SOS-Kinderdörfern (Leitner u.a. 2011).

Natürlich besteht auch das Risiko der Beibehaltung von Erklärungen, Verhaltensmustern, Beziehungsmustern von Geschwistern durch eine gegenseitige Loyalitätsverpflichtung, das die besondere Herausforderung für die Pflegeeltern ausmacht. Die Veränderungsmöglichkeiten durch die Pflegeeltern werden durch das „System im System“ erschwert.

Die Praxis zeigt aber, dass Vorteile in vielen Fällen überwiegen. Die Kinder freuen sich über die gemeinsame Aufnahme in einer Familie oder über die Aufnahme in eine Familie, in der bereits Geschwister leben. Die Beziehung zu leiblichen Geschwistern ist besonders vertraulich und ist eine Verbindung zwischen alter und neuer Familie.

In einer Untersuchung bei Westfälischen Pflegefamilien, die Geschwisterkinder gemeinsam betreuen, äußern sich die betroffenen Kinder, die Pflegeeltern, Fachkräfte und Herkunftsfamilien positiv über die gemeinsame Unterbringung.

Wichtigstes Thema in der ersten Zeit des Zusammenlebens ist die Veränderung der „Mutterrolle“ beim ältesten Kind. Es wird vielfach eine Normalisierung der Geschwisterbeziehung beobachtet. Die Situation stellt hohe Anforderungen an die Belastbarkeit und Flexibilität der Pflegeeltern, die von Fortbildungen, dem Austausch mit anderen Pflegeeltern und einer flexiblen und schnellen Beratung profitieren.

Besonders anstrengend sind das bewusste Achten auf die Gestaltung der Geschwisterbeziehungen, die Organisation der Familie, die „Formung und Formulierung“ des Familienrahmens, der Aufbau und die Förderung individueller Beziehungen, die Belastung durch zwei traumatisierte Kinder. Pflegeeltern müssen selbst „fit“ und handlungsfähig bleiben. Aber für die Kinder ergibt sich die Chance, einen Teil der Familie zu erhalten.

Die Pflegekinder selbst empfinden die Beziehung untereinander als normale Geschwisterbeziehung. Sie sehen die Ermöglichung von Differenzierungen zwischen den Geschwistern, dürfen sie selbst sein, eigene Interessen und Freunde haben, unterschiedlich sein. Sie fühlen sich zusammengehörig, genießen es aber auch, die Verantwortung abgeben zu dürfen. Sie vermuten selbst, dass es schwieriger ist, Geschwister aufzunehmen als ein einzelnes Kind.

Die gemeinsame Aufnahme hat auch für Jugendämter und Herkunftsfamilien Vorteile: Für viele Herkunftsfamilien (Großeltern, Eltern) ist es sehr wichtig, dass die Kinder zusammen bleiben. Die Organisation von Besuchskontakten wird einfacher. Jugendämter berücksichtigen wenn es passt den Wunsch der Herkunftsfamilie. Eine Grundvoraussetzung für eine gelingende gemeinsame Vermittlung scheint zu sein, dass die Beziehung der Geschwister als eher positiv eingeschätzt wird.

Die Beziehungen leiblicher Kinder der Pflegeeltern untereinander

Es werden neue Koalitionen möglich, es kann zu Veränderungen in der Beziehung zwischen den Kindern kommen. In der Beziehungsaufnahme zum Pflegekind legen leibliche Kinder unterschiedliches Tempo, Offenheit oder Distanziertheit vor.

Die Beziehung zwischen dem leiblichen Kind und dem Pflegekind

Leibliche Kinder haben oder entwickeln häufig eine sichere Bindung zu den Eltern. Sie haben viel Sicherheit in Bezug auf ihre Eltern und die Familie. Es könnte sich ein Unterschied zwischen dem eher sicheren und selbstverständlichen Umgang mit leiblichen Kindern und dem pädagogisch reflektierten Umgang der Eltern mit den Pflegeeltern ergeben. Die Eltern sollten auf Folgendes achten: Vermeidung einer Hierarchisierung auf der Geschwisterebene, ein sensibler Umgang mit Unterschiedlichkeiten, die Förderung der Geschwisterbeziehungen und von notwendiger gegenseitiger Abgrenzung, eine Förderung für das gegenseitige Verständnis, Überforderungen (insbesondere beim leiblichen Kind) erkennen und beim Ausprobieren von (biografisch beeinflusstem) Verhalten des Pflegekindes auf die „Grundlagen“ bei ihrem leiblichen Kind vertrauen. Leibliche Kinder probieren Verhaltensweisen, die sie beim Pflegekind wahrnehmen, zeitweise aus. Sie sind durch die Folgen biografischer Erlebnisse der Pflegekinder stärker mit solch spezifischen Themen konfrontiert als Kinder in Kernfamilien. Manchmal kann die Belastung so groß sein, dass die Pflegeeltern in Gewissenskonflikte geraten, weil sie das Gefühl haben, ihrem Kind zu viel zuzumuten.

Wenn das leibliche Kind zuerst in der Familie lebt, erlebt es eine Veränderung seiner Rolle und der Stellung in der Familie, in den zur Verfügung stehen Zeitressourcen, Eingriffe in seine Gewohnheiten und Angriffe gegen seine Grenzen. Das Kind erlebt ggf. einen anderen erzieherischen Umgang seiner Eltern mit dem Pflegekind, andere Grenzsetzungen, Strukturen, Regeln. Das Kind erlebt die Öffnung der Familie als öffentliche Familie. Das Kind erlebt manchmal oder zeitweise die Überforderung oder Grenzen seiner Eltern, und es kann mit Verhaltensauffälligkeiten, Unterstützungsangeboten oder Entlastungen für die Eltern oder mit Rückzug reagieren. Die Familie muss sich mit der Aufnahme eines Pflegekindes als Pflegefamilie neu definieren.

Häufig muss das leibliche Kind lernen, sich dem (distanzgeminderten) Pflegekind gegenüber abzugrenzen und benötigt auch die Erlaubnis seiner Eltern dafür.

Viele Kinder, die als leibliche Kinder in die Situation „Pflegefamilie“ hineingeboren werden, kennen die Familie nur als Pflegefamilie. Vermutlich wird die Zugehörigkeit des Pflegekindes zur Familie nicht in Frage gestellt. Aber Erlebnisse und Einstellungen des Pflegekindes können sich stark auswirken. So zum Beispiel, wenn ein Kind erlebt hat, dass die Mutter nach der Geburt eines Geschwisterkindes sich immer nur um dieses Kind kümmern konnte, das andere Kind schnell aus dem Blick verloren hat. Dann kann es sein, dass die Erlebnisse des Kindes und seine Ängste wieder aktiviert werden und sich in auffälligen Verhaltensweisen äußern.

Beziehungen zwischen Pflegekindern

Pflegekinder aus verschiedenen Familien teilen ein gemeinsames Schicksal, was offenbar in den meisten Fällen zu einem guten Verhältnis untereinander beiträgt. Wenn sie sich untereinander gut verstehen, kann das Risiko bestehen, dass sie sich mit Fragen, Problemen oder schwierigen Themen, die sie ja häufig teilen, anstatt an die Pflegeeltern an Pflegegeschwister wenden. Dies scheint aber auch mit weiteren Faktoren wie der Beziehung zu den Pflegeeltern, dem Entwicklungsalter der Kinder und der Gestaltung der Grenzen von familiären Subsystemen abhängig zu sein. Eine Person, die zeitweise in einem Kinderhaus gelebt hat, berichtet, dass die „Pflegekinder“ deutlich schlechter behandelt wurden als die leiblichen Kinder der Kinderhauseltern. Dies hat zur Abgrenzung der Gruppe der „Pflegekinder“ und der leiblichen Kinder geführt, wobei die Pflegekinder untereinander sehr positive Beziehungen entwickelt haben und noch heute Kontakt miteinander haben.

Beziehung zu weiteren leiblichen Geschwistern oder Halb- und Stiefgeschwistern

Es gibt einzelne Fallbeispiele (Leitner u.a. 2011), aber keine systematische Untersuchung darüber, wie Kinder reagieren, wenn ein Geschwister selbstständig wird und in eine eigene Wohnung zieht. Wahrscheinlich ist, dass mit dem Auszug eines Geschwisters eine frühere Trennungserfahrung aktiviert wird und Ängste, Gefühle des Alleingelassenwerdens, Vorwürfe und Schuldgefühle oder vielleicht der Wunsch, auch selbstständig zu werden, tauchen auf. Veränderungen im „setting“ führen regelmäßig zu Verunsicherungen und Wiederbelebung entsprechender früherer Erfahrungen, insbesondere von Trennungserlebnissen.

Besondere Belastungen bringt es mit sich, wenn ein Kind in den Haushalt der leiblichen Eltern zurückzieht. Einige Kinder haben sehr klar, dass die Verantwortung für die Trennung von den Eltern bei den Eltern liegt, aber viele Kinder tragen in sich eine Mitverantwortung oder Schuldgefühle oder haben die Hoffnung, wieder mit den Eltern zusammenleben zu können. Diese Wünsche werden mit einem Umzug eines Geschwisterkindes - manchmal betrifft dies Explizit ein Halbgeschwister – aktiviert, und das Kind ist mit der ganzen Ambivalenz seiner (heimlichen) Wünsche und Enttäuschung, seiner Ängste, seiner gefühlten Verantwortung für das Geschwister konfrontiert. Zumeist ziehen in den mir bekannten Einzelfällen, in denen Kinder in den Haushalt der Herkunftsfamilie zurückkehren, Kinder im Jugendalter, also in einer Zeit der Ablösung von der Pflegefamilie, um. Das Thema Trennung spielt aus meiner Sicht eine größere Rolle als das Thema Wiederzusammenführung der Herkunftsfamilie. Gerade die Angst vor Trennung, Erwartungen an das Verständnis des Geschwisters, Hoffnungen und die Schuldgefühle des Jugendlichen tragen zu Eskalationen von Konflikten und Wiederholungen von Anteilen früherer Trennungserfahrungen bei.

Wenn die leiblichen Eltern noch ein Kind bekommen, machen sich die älteren Geschwister häufig Sorgen, ob es dem Kind gut geht. Auch diese Sorgen scheinen inhärent ambivalent zu sein: Wenn es dem Kind gut geht, fragt sich das Kind vielleicht, warum es dann nicht auch bei seinen Eltern leben kann. Kontakte zum Geschwisterkind zeigen dem Kind einerseits, dass es dem Geschwisterkind gut geht, konfrontieren das Kind andererseits immer wieder mit eigenen Wünschen und Enttäuschungen. In der Regel sind die Realitätsprüfung und die Unterstützung einer klaren Zuordnung der Verantwortung von Eltern und von Kindern hilfreich. Das Kind sieht, wie es dem Kind geht, seine Sorgen werden wahrgenommen und die Verantwortung für das Wohlergehen des neu geborenen Kindes liegt bei den Eltern und dem Jugendamt.

Was Pflegeeltern brauchen

Die Anzahl der Beziehungen innerhalb der Familie nimmt mit jedem aufgenommenen Kind erheblich zu. Drei Familienmitglieder müssen drei Beziehungen managen. Ein Ehepaar mit einem leiblichen Kind hat es nach der Aufnahme von drei Geschwistern mit fünfzehn Beziehungen zu tun (Schacht, 1997). Dies stellt besondere Anforderungen an die Pflegeeltern, aber auch an die Beratung der Familie.

Pflegeeltern erhalten mehr Sicherheit durch gute Vorbereitung, hilfreiche Unterstützung, Fortbildung, Austausch mit anderen Pflegeeltern, gute Kooperation mit Jugendämtern, anderen Beteiligten, ggf. einer therapeutischen Unterstützung, Hilfeplanung und Literatur. Immer wieder ein wichtiges Thema ist die Trennung der Lebensbereiche der Geschwister; auch die Selbstfürsorge der Pflegeeltern darf nicht zu kurz kommen. Zutrauen in die eigenen Einflussmöglichkeiten, Einsatz von Erziehungskompetenzen, Belastbarkeit, Durchhaltevermögen, Reflektionsfähigkeit, Offenheit, Ideenreichtum, Geschicklichkeit und der Zugang der Pflegeeltern zu den Kindern ermöglichen den Kindern, sich von alten Mustern zu lösen und Beziehungswünsche an die Pflegeeltern zuzulassen und zu realisieren.

Ergebnisse aus der Arbeitsgruppe

Die Bedeutung der Geschwisterbeziehungen wird offensichtlich unterschätzt. Integrationsprobleme der Pflege- oder Erziehungsstellenfamilie und Verhaltensauffälligkeiten des Kindes werden zu häufig ohne ausreichende Berücksichtigung und Würdigung spezifischer Erfahrungen mit Geschwistern oder von Konkurrenzerfahrungen oder -ängsten bearbeitet. Wenn Kinder sogenannte Bindungsstörungen aufweisen und die Auswirkungen auf eine gestörte Geschwisterbindung eher mit Krankheitswert belegt werden, wird die Geschwisterbeziehung für den Aufbau sicherer Bindungen als hinderlich angesehen. Ressourcen werden nicht wahrgenommen.

Besonders hervorzuheben ist, dass die Pflegefamilie für sich definiert, was das Besondere der Pflegefamilie oder Erziehungsstelle ausmacht. Die Familie muss sich und damit insbesondere für die Kinder einen klaren, überschaubaren und verlässlichen Rahmen schaffen, in dem alle Mitglieder wissen, was sie erwartet und was sie erwarten können.

Die Beratung der Familie kann sich nicht nur auf das Pflege- oder Erziehungsstellenkind beziehen, sie muss das Gesamtsystem berücksichtigen. Beratung muss das leibliche Kind als Teil des Systems einbeziehen.

Pflege- und Erziehungsstelleneltern stehen ggf. vor der Entscheidung, sich vom Pflege- oder Erziehungsstellenkind wieder zu trennen. Sie müssen verantwortlich für ihre Familie und ihr leibliches Kind handeln. Um dies ohne Schuld- und Versagensgefühle tun zu können, benötigen sie eine kompetente und in Krisen verfügbare Beratung, weil sie emotional zwischen der Wahrnehmung der Zumutung für ihr leibliches Kind (oder ein früher aufgenommenes Pflege- oder Erziehungsstellenkind) und der Verantwortung für einen erneuten Beziehungsabbruch zum jüngst aufgenommenen Pflege- oder Erziehungsstellenkind sehr verstrickt sind. Soziale Eltern wollen verantwortungsvoll handeln und entscheiden, aber sie haben das Gefühl, mit jeder Entscheidung etwas falsch zu machen. Sie können eine verantwortungsvolle Entscheidung nur unter guten Bedingungen und im Rahmen einer angemessenen Beratung treffen.

Nach ungeplanten und vorzeitigen Beendigungen, braucht die Familie Zeit und die Möglichkeit zur Verarbeitung. Bei den Westfälischen Pflegefamilien gehören drei nachgehende Beratungstermine zum Standard.

Eine gute Zusammenarbeit mit der Herkunftsfamilie ist eine gute Grundlage für eine abgestimmte und für das Kind Orientierung gebende Hilfe. Dazu gehört es auch, Bedürfnisse der Herkunftseltern erst zu nehmen. Nicht immer kann das Handeln, insbesondere die kommunizierten Gesprächsinhalte, von Pflege- oder Erziehungsstelleneltern einerseits und Herkunftseltern andererseits abgestimmt werden. Wenn Herkunftseltern ihre Kinder über die Existenz von weiteren Geschwistern, Halbgeschwistern, von Geschwistern, die die Kinder gar nicht kennen und noch nie gesehen haben, aufklären, ist es zumindest für die Pflegeeltern wichtig, über diese Gesprächsinhalte informiert zu sein, weil sie mit möglichen Folgen bei den Kindern leben und umgehen müssen. Inwieweit diese Informationen sich im Alltagshandeln der Pflegefamilie oder Erziehungsstelle niederschlagen, kann im Prozess und im Rahmen von Beratung und Hilfeplanung aufgegriffen werden.

Bisher ist m.W. nicht untersucht worden, ob die Häufigkeit von Kontakten von Geschwistern untereinander, die in unterschiedlichen Familien leben (in unterschiedlichen Pflegefamilien oder ein Kind in der Pflegefamilie und eins in der Herkunftsfamilie), sich günstig oder ungünstig auf die Integration der Pflege- oder Erziehungsstellenfamilie auswirkt. Vermutlich haben aber die mit den Kontakten explizit oder implizit unterstützenden oder kritischen Aussagen wie auch ein Mangel an Transparenz zumindest über die Häufigkeit und Wege der Umgangskontakte zwischen Geschwistern (z.B. über Internetverbindungen) deutlichere Auswirkungen auf die Beziehung zwischen dem Kind und seinen Pflege- oder Erziehungsstellenelter als die Häufigkeit der Kontakte für sich alleine genommen.

Klaus Wolf hat in seinem Auftaktvortrag zur Bundestagung nicht nur die Besonderheiten der Aufnahme von Kindern im privaten Lebensraum deutlich beschrieben, sondern auch eine entsprechende Professionalisierung des Unterstützungssystems angesprochen und damit deutlich gemacht, dass die fachliche Begleitung und Beratung der Pflege- und Erziehungsstellenfamilien die nicht-professionellen und die professionellen Anteile in der Familie berücksichtigen muss.

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Quelle: www.erziehungsstellen-pflegefamilien.de

Mit freundlicher Genehmigung des Autors und der IGFH.

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