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01.02.2017
Fachartikel

Grenzverletzungen durch digitale Medien

Sexualisierte Grenzverletzungen und Gewalt mittels digitaler Medien. Wir alle nutzen digitale Medien regelmäßig. Digitale Medien bergen unendliche Möglichkeiten, sowohl förderliche als auch beängstigende und gefährdende. Auf eine besondere Gefährdung macht der "Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Missbrauchs" aufmerksam.

Wir alle – wir Erwachsenen und auch unsere Kinder – nutzen digitale Medien regelmäßig. In einigen wenigen Familien wird zwar versucht, ohne digitale Medien auszukommen, aber auch da müssen Eltern feststellen, dass sich ihre Kinder damit beschäftigen, sei es bei Freunden, der Verwandtschaft oder in der Schule. Digitale Medien bergen unendliche Möglichkeiten, sowohl förderliche als auch beängstigende und gefährdende.

Auf eine besondere Gefährdung macht der "Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Missbrauchs" aufmerksam.

Er beauftragte und veröffentlichte die Expertise von Arne Dekker, Thula Koops & Peer Briken „Sexualisierte Grenzverletzungen und Gewalt mittels digitaler Medien“

Diese Expertise setzt sich mit möglichen Grenzverletzungen durch digitale Medien, die von Kindern und Jugendlichen erlebt werden können, in zehn Thesen auseinander

Im Folgenden werden diese Erläuterungen und Thesen aus der Expertise auszugsweise wiedergegeben.

Frühe Erfahrungen mit Pornografie

Kinder und Jugendliche werden heute in den digitalen Medien früh mit Pornografie konfrontiert, manche von ihnen wahrscheinlich zu früh. Ein erheblicher Anteil der Jugendlichen, insbesondere der Jungen, verfügt nach dem zwölften, spätestens aber nach dem 14. Lebensjahr über Pornografieerfahrung, und viele von ihnen sehen sich mit einiger Regelmäßigkeit selbstbestimmt Pornos an. Obwohl dies nach Maßgabe der entsprechenden Regelungen zum Jugendschutz und des Strafrechts nicht möglich sein sollte, lässt sich das im Internet offen verfügbare Angebot von Erwachsenenpornografie kaum eindämmen.

Untersuchungen zur Pornografienutzung zeigen aber, dass ein Großteil der Jugendlichen vergleichsweise verantwortungsvoll und reflektiert mit dem Angebot umgeht. Die Sorge, dass das Pornografieangebot zu einer allgemein problematischen Veränderung der sexuellen Sozialisation führt, lässt sich anhand sexualdemographischer Daten nicht belegen. So ist es in den vergangenen 15 Jahren nicht zu einer entscheidenden Vorverlegung des Alters beim „ersten Mal“, zu einer Zunahme von Jugendschwangerschaften o.ä. gekommen. Auch Befürchtungen, dass Pornografiekonsum bei Jugendlichen zu frauenfeindlicheren sexuellen „Skripten“ oder einer stärkeren Akzeptanz von Vergewaltigungsmythen führt, bestätigen sich nicht. Die mittlerweile zahlreichen Forschungsergebnisse zur Pornografiewirkung erweisen sich insgesamt als widersprüchlich und zeigen – wenn überhaupt – moderate Effekte. Während aber eine allgemeine Wirkung von Pornografie auf alle Jugendlichen nicht zu befürchten ist, zeigt sich bei kleinen, spezifisch vulnerablen Gruppen ein verstärkender Effekt des Konsums spezifischer Pornografie, etwa bei jungen männlichen Intensivkonsumenten von Gewaltpornografie, deren Gewaltneigung hierdurch wahrscheinlich verstärkt wird.

In diesem Zusammenhang sollte der zukünftige Fokus folglich weniger auf einem allgemeinen Pornografieverbot, als vielmehr auf einer kritischen Betrachtung gewalttätiger Pornografie liegen. Als besonders kritisch ist beispielsweise Bildmaterial von Würgeszenen anzusehen, das angesichts verdeckter Genitalien derzeit frei auf Plattformen wie Youtube verfügbar ist.

Mit diesen Themen geht es weiter:
  • Ungewollte Konfrontation mit sexualbezogenem Bildmaterial.
  • Ungewolltes sexualisiertes „Anmachen“
  • Grooming-Verhalten
  • Kindersextourismus und Kinderprostitution
  • Bildliche und filmische Darstellungen
  • Sexting
  • Online-Dienste für Live-Videos
  • Präventionsmaßnahmen
  • Auseinandersetzung mit den digitalen Medien
Ungewollte Konfrontation mit sexualbezogenem Bildmaterial.

Die alltäglichste Form sexualisierter Grenzverletzungen gegenüber Kindern und Jugendlichen in digitalen Medien ist die ungewollte Konfrontation mit sexualbezogenem Bildmaterial. Nicht wenige junge Nutzer_innen werden im Internet mit Abbildungen konfrontiert, die sie nicht sehen wollen. Je älter die Jugendlichen sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihnen dies passiert – und desto kleiner ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie es als belastend erleben. Das Bildmaterial variiert in der Form enorm (von freizügiger Werbung bis hin zu Hardcore-Pornografie).

Dasselbe gilt für die Art der Konfrontation: an weniger gravierendes Material geraten Jugendliche regelmäßig beim einfachen Surfen, aber es kann auch vorkommen, dass sie von Erwachsenen im Netz gezielt mit Pornografie konfrontiert werden. Gerade ältere Kinder und Jugendliche gehen mit einem Großteil der genannten Situationen – gerade wenn es um einfache freizügige Werbung geht – souverän um und „klicken einfach weg“. Besonders problematisch sind hingegen Situationen, in denen die Grenze zum „Grooming“ überschritten wird, in denen also Erwachsene Kontakt zu Kindern und Jugendlichen aufnehmen, mit dem Ziel, diese selbst zur Anfertigung von Bildern oder Filmen von sich zu bewegen, oder auch um sie offline zu treffen – und ihnen in diesem Zusammenhang Pornografie senden.

Obwohl Kinder und Jugendliche auch die alltägliche Konfrontation mit sexuellem Material als teilweise störend und belastend erleben, sollten sich zukünftige Präventionsbemühungen insbesondere auf diese ungewollten Kontakte mit Unbekannten richten, die im Übrigen nach Maßgabe der §§ 176 und 184 ff. StGB strafbewährt sein können.

Ungewolltes sexualisiertes „Anmachen“

Ungewollte sexualisierte „Anmachen“ und Annäherungen stellen die zweite relevante Form der sexualisierten Grenzverletzungen online dar. Daten zur Häufigkeit variieren stark, was nicht zuletzt mit uneinheitlichen Definitionen dieses Phänomens zusammenhängt. Grundsätzlich gilt, dass sich hinter quantitativen Angaben zu „ungewollten Annäherungen“ sehr unterschiedliche Ereignisse verbergen können, von der gedankenlosen Anmache durch gleichaltrige Klassenkameraden bis hin zur Vorbereitung schwerer Straftaten durch erwachsene Täter.

In vielen Fällen können sich Kinder und Jugendliche von den ungewollten Annäherungen gut abgrenzen, wozu auch die Eigenschaften des Mediums beitragen: man kann einfach abschalten. Einige werden jedoch – besonders von jüngeren Kindern und Jugendlichen – auch als belastend erlebt. Einzelne Wiederholungsbefragungen legen nahe, dass ungewollte Annäherungen in den letzten zehn Jahren seltener geworden sind. Allerdings gilt dies ausgerechnet nicht für jene Fälle, die als besonders aggressiv und belastend erlebt werden, und die mit dem Versuch verbunden sind, ein Offline-Treffen herbei zu führen. Die Anzahl dieser in Zusammenhang mit Grooming relevanten Fälle ist auf niedrigem Niveau gleich geblieben.

Grooming-Verhalten

Grooming-Verhalten, also das gezielte Vorbereiten sexualisierter Gewalt gegen Kindern und Jugendliche durch deren gezielte Identifikation und Manipulation sowie durch Vorbereitung ihres Umfeldes, hat sich durch die Verfügbarkeit digitaler Medien grundlegend gewandelt. So besteht im Zeitalter der Smartphones eine zentrale Gefahr darin, dass Täter im Alltag teilweise direkten Zugriff auf potentielle Opfer haben, und selbst die elterliche Wohnung keinen eindeutig sicheren Rückzugsort mehr darstellt. Zudem haben sich durch Online-Grooming für Täter die Anzahl möglicher Kontakte, die Kontaktgeschwindigkeit und auch das Ausmaß einer möglichen unmittelbaren Sexualisierung der Kommunikation deutlich erhöht.

Die Grenze zwischen „einfachen“ ungewollten Annäherungen und Grooming erscheint fließend, und definiert sich oft erst retrospektiv durch einen tatsächlich stattfindenden sexuellen Missbrauch. In diesem Zusammenhang ist die revidierte Fassung des §176 StGB, der explizit verbietet, mittels Informations- und Kommunikationstechnologien Kinder und Jugendliche zu sexuellen Handlungen oder zur Übermittlung eigener Bilder zu bewegen, bereits kritisiert worden, denn er schließt eine Strafbarkeit wegen des bloßen Versuchs aus. Juristisch ist die Frage, was dies rechtspraktisch bedeutet, allerdings umstritten und wird kontrovers diskutiert. Eine weitere Beobachtung erscheint angezeigt.

Für künftige Forschung sollte darüber hinaus die Frage relevant sein, wie sich Fälle versuchter von Fällen vollendeter Einflussnahme unterscheiden, was es also Betroffenen ermöglicht, Kontakte abzubrechen – oder eben nicht. Ein solcher Blick auf den Kommunikationsprozess würde der Tatsache Rechnung tragen, dass bisherige Forschung herausgearbeitet hat, wie wirksam Manipulationsstrategien von Tätern sein können: Viele der von Grooming betroffenen Kinder und Jugendlichen wissen oder ahnen, dass sie mit einem Erwachsenen chatten, und viele erahnen vor dem Offline-Treffen auch dessen sexuelle Absichten.

Kindersextourismus und Kinderprostitution

Neben Grooming-Prozessen werden digitale Medien auch in Zusammenhang mit Kindersextourismus und Kinderprostitution zur Anbahnung sexualisierter Gewalt offline verwendet. Die Forschungslage hierzu ist unzureichend, sowohl zu Prävalenz als auch zu Abläufen, Täterverhalten und -merkmalen. Schätzungen gehen aber von mehreren Millionen Kindern aus, die weltweit für Prostitution ausgebeutet werden.

Eine zentrale Herausforderung in der Bekämpfung von Kindersextourismus und Kinderprostitution besteht darin, dass es sich um ein internationales Problem handelt, das ohne eine gezielte und koordinierte Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Ländern nur schwer gelöst werden kann. Dass dies gelingen kann, zeigt das Beispiel der Bekämpfung von Missbrauchsdarstellungen. Und wie dort erscheint auch für die Ermittlung und Bekämpfung der Strukturen, die mittels digitaler Medien Kinderprostitution anbahnen, eine Indienstnahme der Internetdienstanbieter notwendig.

Bildliche und filmische Darstellungen

Bildliche und filmische Darstellungen sexualisierter Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen stellen nach wie vor ein gravierendes Problem dar. Digitale Medien haben es noch größer gemacht: Das Internet erleichtert den Zugang zu bzw. die Verbreitung des Materials, es dient Tätern zur Vernetzung und ermöglicht ihnen zugleich den Zugang zu potentiellen Opfern für die Produktion.

Angesichts der erheblichen Dunkelziffer, aber auch angesichts international sehr unterschiedlicher Definitionen und Gesetzgebungen gibt es keine verlässlichen Schätzungen zur Anzahl von bildlicher und filmischer Darstellungen sexualisierter Ausbeutung im Netz – es dürfte sich jedoch um viele Millionen handeln, die über das World Wide Web, per E-Mail, oder – deutlich schwerer zu verfolgen – über peer-to-peer-Netzwerke (P2P) oder das Darknet (z.B. im Tor-Netzwerk), verbreitet werden.

Durch intensive internationale Zusammenarbeit gelingt es vergleichsweise zuverlässig, bekannt gewordene Quellen von Missbrauchsdarstellungen im World Wide Web (etwa durch Meldung an Beschwerdestellen von eco, FSM und jugendschutz.net oder an Ermittlungsbehörden) zu löschen, auch wenn sie sich auf internationalen Servern befinden. Gleichwohl besteht ein zentrales Problem für Betroffene darin, dass Kopien von Abbildungen an anderen Orten immer wieder auftauchen und gleichsam kaum je aus dem Internet zu löschen sind.

Dies bedeutet für Betroffene viele Jahre nach dem initialen Missbrauch eine regelmäßige Reviktimisierung, die oft als ausgesprochen belastend wahrgenommen wird. Auch deswegen gilt, dass der vermeintlich „einfache“ Nutzer von Missbrauchsdarstellungen mit jedem Klick erneut die Rechte und Integrität der Betroffenen verletzt.

Dies gilt zudem auch für sogenannte Posendarstellungen oder Alltagsbilder von Kindern, die erst durch den Kontext sexualisiert werden. Eine solche Verbreitung von in vielen Ländern nicht verbotenen Bildern kann von den Abgebildeten gleichwohl als leidvoll erlebt werden.

Anzustreben sind hier einerseits international einheitliche Regelungen und Gesetze, andererseits in diesem Zusammenhang auch überzeugende Definitionen, die Grauzonen zu vermeiden helfen und Rechtssicherheit für alle Beteiligten schaffen. [...]

Einen wichtigen Teilaspekt in der Prävention der Nutzung von Darstellungen der sexualisierten Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen könnte die Behandlung von Tätern darstellen. Untersuchungen deuten darauf hin, dass diese sich von anderen Tätergruppen unterscheiden. Therapien sollten darauf abgestimmt und hinsichtlich ihrer Wirksamkeit evaluiert werden. Dies wiederum ist nicht einfach, da die offizielle Rückfallrate mit der erneuten Nutzung von Missbrauchsdarstellungen relativ niedrig ist und damit das primäre Zielkriterium selten zu messen. Gleichzeitig ist aus dem klinischen Kontext bekannt, dass erneute Nutzung von Missbrauchsdarstellungen ohne rechtliche Folgen ein bedeutsames Problem ist.

Sexting

Sexting, d.h. das Versenden von selbst aufgenommenen, sexuell freizügigen Bildern oder Filmen, ist in der Medienöffentlichkeit ausgesprochen kritisch diskutiert worden. Eine wichtige Rolle spielten hierbei reale Beispiele, bei denen sich mehrere Jugendliche in den USA suizidiert hatten, nachdem ihre Sexting-Nachrichten ohne ihre Einwilligung an Dritte weiter geleitet und schließlich an ihrer Schule verbreitet worden waren. Auch in Deutschland sind derartige Fälle als „Schulskandale“ bekannt geworden, wenn auch mit weniger dramatischem Ausgang.

Diese Art der Darstellung übersieht jedoch zweierlei: Erstens lehnt ein Großteil der befragten Schülerinnen und Schüler Sexting ab, zweitens berichten diejenigen, die es betreiben, teilweise auch von positiven Erfahrungen. Entscheidend ist hier nicht zuletzt der Nutzungskontext, der beispielsweise auch in einer festen Beziehung bestehen kann.

Aus Sexting wird genau dann eine sexualisierte Grenzverletzung, wenn die Darstellungen gegen den Willen der Abgebildeten weitergeleitet werden. Verantwortlich hierfür sind nicht die Abgebildeten. Dies gerät allerdings in den medialen Darstellungen häufig aus dem Blick, und auch in einer Reihe restriktiver medienpädagogischer Interventionen, die auf Sexting-Abstinenz abzielen. Diese gut gemeinten und für manche Jugendlichen wirksamen Ansätze schreiben die Verantwortung ausschließlich den Betroffenen zu (meist Mädchen, die sich angemessen schützen und auf Sexting verzichten sollen).

Die Rolle der eigentlichen Täter wird hingegen kaum thematisiert. Dies sollte zukünftig unbedingt vermieden werden – nicht nur wegen der hier wirksamen Geschlechtsrollenstereotype, sondern auch deshalb, weil die Weiterleitung von Fotos, auf denen Minderjährige abgebildet sind, eine Verbreitung von Kinder- bzw. Jugendpornografie darstellt. Eine Bestandsaufnahme an Schulen in Deutschland und ggf. eine entsprechende Intervention wäre wünschenswert.

Online-Dienste für Live-Videos

Online-Dienste, bei denen Live-Videos übertragen werden, können in Zusammenhang mit mehreren der bisher diskutierten Phänomene eine Rolle spiele. Dies gilt beispielsweise in Zusammenhang mit ungewollten sexuellen Annäherungen (etwa wenn in einem Video- Chatraum ungewollt ein Genital in Nahaufnahme gezeigt wird), mit Grooming-Prozessen (wenn Kinder und Jugendliche dazu bewegt werden sollen, sich vor der Kamera zu entkleiden) oder in Zusammenhang mit Online-Kinderprostitution.

Bisher existiert kaum Forschung zur Bedeutung dieser spezifischen digitalen Dienste, die teilweise (wie etwa im Falle der sexualbezogenen Video-Community cam4.com) Bezahldienste integriert haben oder (wie im Falle des bekannt gewordenen Dienstes Younow.com) von vielen Jugendlichen ohne weitere Kontrollen genutzt werden. Weitere Forschung, auch zur Bedeutung der Dienste für Online-Kinderprostitution, erscheint uns dringend erforderlich.

Präventionsmaßnahmen

Präventionsmaßnahmen in Zusammenhang mit dem hier beschriebenen Thema sollten stets eine Kombination von Aufklärungsmaßnahmen, pädagogischen Interventionen, technischen Lösungen, juristischen Maßnahmen und ggf. auch Therapie für Täter umfassen. Schon jetzt ist eine solche Mehrdimensionalität weitgehend gewährleistet, und es gibt neben überzeugenden technischen Lösungen und einer veränderten Gesetzgebung auch eine Reihe präventiver Angebote für Kinder- und Jugendliche, aber auch für Eltern und Pädagog_innen.

Angebote gibt es sowohl online als auch offline, in Form von Informationsmaterial, Kampagnen, Veranstaltungscurricula usw. Angesichts der Heterogenität und Vielfalt der Angebote, die neben einigen großen Anbietern auch von einer Vielzahl behördlicher, gemeinnütziger, privater und ehrenamtlicher Institutionen und Einzelpersonen entwickelt und distribuiert werden, wäre eine Sammlung, etwa in Form einer praxisnahen Datenbank, und vergleichende Evaluation wünschenswert. Eine solche Zusammenschau und Konsolidierung der heterogenen Präventionslandschaft könnte auch für kleinere erfolgreiche Praxisinstitutionen eine dringend benötigte Legitimation darstellen. Zudem ließe sich auch der künftige Bedarf weiterer risiko und risikogruppenspezifischer Angebote besser abschätzen.

Grundsätzlich stellt sich dabei die Frage, wie es gelingt, die Balance zwischen einer restriktiven und einer teilhabeorientierten Medienpädagogik zu finden und dabei, ohne die Risiken zu ignorieren, ein auch für Kinder und Jugendliche interessantes Angebot zu gestalten. Ein solches muss – das lässt sich aufgrund zahlreicher Praxiserfahrungen bereits heute festhalten – zukünftig auch aus der öffentlichen Hand erheblich besser finanziert werden. Verbindliche präventive Mindeststandstandards zum Thema an Schulen wären außerordentlich wünschenswert, auch wenn sie unter den Bedingungen des föderalen Systems schwer umzusetzen sind.

Auseinandersetzung mit den digitalen Medien

Die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist ohne digitale Medien heute nicht mehr realistisch zu denken. Kinder und Jugendliche selbst, ihre Eltern, aber auch Wissenschaft und relevante gesellschaftliche Institutionen müssen sich damit – unseres Erachtens deutlich mehr als bisher geschehen – auseinandersetzen.

Damit diese unterschiedlichen Gruppen miteinander im Austausch und in Beziehung bleiben, sind zwei Leitsätze entscheidend:

1. Eine allein auf das Risiko fokussierende Betrachtungsweise hilft nicht, da sie die betroffenen Gruppen unnötig voneinander entfernt. Sowohl Kinder und Jugendliche als auch Erwachsene nutzen digitale Medien ständig – und alle wissen das. Ein restriktiver Umgang mit digitalen Medien durch erwachsene Bezugspersonen und gesellschaftliche Institutionen kann den Anreiz, Verbote zu überschreiten, in den Abgrenzungsbemühungen von Kindern und Jugendlichen ebenso verstärken wie ein verantwortungsloser, vernachlässigender Umgang. Vor allem aber führt er dazu, dass die erwachsenen Bezugspersonen von den jungen Adressat_innen als Ansprechpartner nicht ernst genommen werden.

2. Nur ein differenzierter Umgang, bei dem sich die Verantwortlichen informieren und die Ressourcen der jeweils anderen Gruppen nutzen (Eltern z.B. die praktische Medienkompetenz ihrer Kinder; Kinder die reflexive Medienkompetenz der Eltern) kann die Situation verbessern.

Die digitalen Medien sind auch eine Erweiterung des Sozialisationsraums, der für viele Kinder und Jugendliche Herausforderungen, aber eben auch Chancen in der sexuellen Entwicklung offenbart. So gibt es heute zahlreiche Möglichkeiten, sich bei Fragen zur Sexualität zu informieren oder Partnerschaften aus anderen Regionen oder mit besonderen Interessen zu finden.

Eine pessimistische Grundhaltung ist nach unserer Auffassung jedenfalls weniger zielführend als angemessene Information und Verantwortungsübernahme. In dieser Form – und nicht als Tabu- oder Einzelfallthema – sollten auch der Zusammenhang zwischen sexualisierter Gewalt und digitalen Medien in der Öffentlichkeit besprochen und die Risiken thematisiert werden. Die Politik ist aufgefordert, hier deutlich mutiger Position zu beziehen und – wo nötig – die Wirtschaft entschieden stärker in die Pflicht zur Verantwortung zu nehmen. So gilt es etwa, Mindeststandards auf Online-Plattformen durchzusetzen. Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen dürfen wirtschaftlichen Interessen nicht nachgeordnet werden.

Hier finden Sie die komplette Expertise

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