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08.04.2016
Fachartikel

Hochgefährdete und bereits beeinträchtigte Kinder wirksam schützen

Ausschnitt der Studie „Kontinuität im Kinderschutz – Perspektivplanung für Pflegekinder“ zur Weiterentwicklung der Kindesunterbringung in Deutschland.

Kinder, die wegen Gefährdungserfahrungen wie Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellem Missbrauch geschützt werden müssen, geraten in Deutschland heute noch vom Regen in die Traufe: Werden Leib und Leben durch eine Herausnahme aus der Herkunftsfamilie zwar geschützt, so werden diese vorbelasteten Kinder dennoch mit unsicherer Lebensperspektive in dauerhaft rechtlich ungeschützte Pflegeverhältnisse entlassen und leben dort unter dem Damoklesschwert eines strukturell jederzeit über ihnen schwebenden gerichtlichen Herausgabeverlangens. Mit besonderer Härte trifft dies aufgrund des Bindungsaufbaus in den ersten Lebensjahren Säuglinge und kleine Kinder, auf die der Fokus des vorliegenden Beitrags gerichtet ist. Er beleuchtet einen Ausschnitt der Studie „Kontinuität im Kinderschutz – Perspektivplanung für Pflegekinder“, die konzeptionellen, methodischen und rechtlichen Weiterentwicklungsbedarfen der Kindesunterbringung in Deutschland nachgeht und Rechtsreformen sowie Hilfeplanmethoden des Auslandes zum Schutz erheblich gefährdeter sowie bereits entwicklungsbeeinträchtigter und traumatisierter Kinder in den Blick nimmt.

Weichenstellung in den frühen Jahren

Die frühe Kindheit stellt im Leben des Menschen einen zentralen Entwicklungsabschnitt dar: Der menschliche Säugling ist auf die konstante Befriedigung seiner zum Überleben notwendigen Grundbedürfnisse durch mindestens eine verlässliche Bezugsperson angewiesen. In den ersten Lebensjahren gehen die Pflege und emotionale Versorgung in der Familie als Alltagshandeln untrennbar mit dem Aufbau einer spezifischen Bindung zwischen dem Kind und seiner primären Bindungsperson einher, und zwar unabhängig davon, ob zwischen Kind und Elternperson eine biologische Verwandtschaft vorliegt, oder nicht. Die Qualität dieser Bindung hängt entscheidend von der Qualität der emotionalen Versorgung des Babys und Kleinkindes ab, und damit von der Feinfühligkeit, psychischen Verfügbarkeit und Responsivität der Bindungsperson für die vom Kind geäußerten Bindungs- und Entwicklungsbedürfnisse.

Diese frühen Erfahrungen mehr oder weniger feinfühliger, wiederkehrender Bindungsinteraktionen speichert und organisiert bereits das kleine Kind in einem internalen Arbeitsmodell, welches sich fortan zu einem komplexen mentalen Modell über die Verlässlichkeit wichtiger Anderer, die Welt und das eigene Selbst ausdifferenziert und damit weit über die Befriedigung von Überlebensbedürfnissen hinausgeht. Die Erfahrungen der frühen Jahre bilden das Fundament, auf dem Kinder ein Gefühl psychischer Sicherheit oder Unsicherheit aufbauen und sie prägen deshalb die Persönlichkeit des Menschen in entscheidender Weise (Grossmann/Grossmann 2012).

Fünfzig Jahre nach den wegweisenden Arbeiten von John Bowlby und Mary Ainsworth haben sich Bindungstheorie und -forschung erheblich weiterentwickelt, und es liegen praktisch weltweit replizierte Erkenntnisse zur Bedeutung der frühen Jahre als einem zentralen Grundstein der Persönlichkeitsentwicklung vor. Grundlagenwissen über die positiven Effekte sicherer Bindungen für die kindliche Entwicklung bereichert heute die pädagogische Arbeit in Krippen, Kindergärten und außerschulischen Einrichtungen. Darüber hinaus haben Langzeitstudien Aufschluss über die Weitergabe von Bindungs- und Beziehungserfahrungen über mehrere Generationen gegeben und dadurch das verfügbare Wissen über die intergenerationale Transmission von Fürsorgestilen und Bindungsmustern erheblich erweitert.

Aus diesen Befunden lernen wir mit Blick auf Eltern, dass trotz der Komplexität der menschlichen Entwicklung die Bindungserfahrungen der eigenen Kindheit einen erheblichen Einfluss auf die Fähigkeit nehmen, später als Erwachsene eigene Kinder angemessen versorgen und erziehen zu können. Mit Blick auf Kinder in Risikolebenslagen lernen wir, dass sich spätere Fehlentwicklungen gefährdeter Kinder entlang ihrer beschreibbaren, realen Lebenserfahrungen bereits früh abzeichnen und maßgeblich im Rahmen widriger primärer Bindungs- und Fürsorgeerfahrungen verankert sind (Sroufe u. a. 2005, S. 285).

Insbesondere desorganisiertes Bindungsverhalten im Kleinkindalter, welches mit wiederkehrendem Angsterleben des Kindes vor der Bindungsperson eng verbunden ist, stellt einen Prädiktor für sozialemotionale Fehlentwicklungen des Kindes und einen Risikofaktor für psychische Störungen im Jugend- und Erwachsenenalter dar (ebd., S. 248).

Selektivpräventiver Kinderschutz im Frühbereich

Auf der Grundlage lebenslauforientierter Erkenntnisse der Bindungsforschung sind zwischenzeitlich bindungsbasierte, empiriegestützte Präventionsprogramme entwickelt worden, die als Frühe Hilfen einen Zugang zu hoch belasteten Familien ermöglichen sollen, bevor die Entwicklung von Kindern Beeinträchtigungen aufweist. Seit einigen Jahren werden auch in Deutschland im Zuge der Qualifizierungsoffensive im Kinderschutz infrastrukturelle Maßnahmen zum Ausbau Früher Hilfen ergriffen. Diese zwischen Gesundheitswesen und Jugendhilfe zu koordinierende Prävention hat mit dem Bundeskinderschutzgesetz eine rechtliche Grundlage erhalten und zielt durch die Förderung elterlicher Erziehungskompetenzen auf die Abwendung sozial-emotionaler Fehlentwicklungen von Kindern in Risikolebenslagen. Die selektivpräventive Förderung basaler Beziehungs- und Erziehungskompetenzen in psychosozial hochbelasteten Familien ist dabei am ehesten multifokal, interdisziplinär und aufsuchend zu erreichen, um Eltern in ihren Fähigkeiten zu unterstützen, für ihre Kinder möglichst ab Geburt als sichere Basis zu fungieren (Ziegenhain 2004).

Der Ausbau Früher Hilfen erscheint deshalb in hohem Maße geeignet, eine in Deutschland bestehende Lücke in der Kinder- und Jugendhilfe des Frühbereichs zu schließen, und es liegen durchaus ermutigende Befunde zu den positiven Effekten einzelner Programme vor. Im Ausland bereits als wirksam evaluierte Interventionen zur Förderung früher Bindungssicherheit, wie das von Sroufe und Kolleginnen entwickelte STEEP©-Programm, zeigen in vorläufigen Evaluationen für Deutschland gute Ergebnisse (Suess u. a. 2010). Doch es wird ebenfalls auf Grenzen hingewiesen, die für die mit dem Bundeskinderschutzgesetz intendierte Weiterentwicklung des selektivpräventiven Kinderschutzes bedeutsam sind: In ihrer Evaluation der deutschen Adaption des STEEP©-Programms weisen Suess u. a. (2010) in Übereinstimmung mit anderen Evaluationsbefunden auf die fehlende Wirksamkeit des Programms hinsichtlich der Vermeidung von Desorganisation bei Kleinkindern durch Feinfühligkeitstraining mit hochbelasteten Eltern hin. Trotz zweijähriger, bindungsorientierter Intervention konnte der Anteil desorganisiert gebundener Mutter-Kind-Dyaden im Vergleich zur Kontrollgruppe, die herkömmliche Jugendhilfeleistungen erhielt, nicht gesenkt werden (ebd., S. 1145).

Auch in einer Metaanalyse zu Effekten von 15 bindungsbasierten präventiven Interventionen bei kindlicher Desorganisation werden sowohl positive als auch negative Effekte verschiedener Programme beschrieben. Positive Effekte hinsichtlich der Reduktion frühkindlicher Desorganisation zeigen sich eher dann, wenn die Kinder aufgrund z. B. von Frühgeburt oder internationaler Adoption risikobehaftet sind, aber auf Eltern treffen, die Bindungsinteraktionen feinfühlig gestalten können.

Entsprechende Frühe Hilfen für risiko- und problembelastete Eltern erwiesen sich hinsichtlich der Vermeidung früher Desorganisation beim Kind hingegen als wenig wirksam (Bakermans-Kranenburg u. a. 2005, S. 208).

Kann frühe Bindungsdesorganisation, welche häufig im Kontext widriger Fürsorgeerfahrungen wie Misshandlung und wiederkehrender Angst vor der (traumatisierten) Elternperson auftritt, jedoch nicht durch therapeutische Interventionen korrigiert werden, verfestigen sich Fehlanpassungen in der sozial-emotionalen Entwicklung des Kindes. Die rasch wachsende internationale Befundlage zu frühkindlicher Desorganisation identifiziert diese als Prädiktor für externalisierende und internalisierende Störungen in Kindheit und Jugend sowie als Risikofaktor für im weiteren Lebenslauf auftretende Psychopathologie (zu weiteren Nachweisen Diouani-Streek 2015).

Nicht nur Kinder mit Erfahrungen früher Bindungsdesorganisation, sondern auch Pflegekinder repräsentieren national und international eine Hochrisikogruppe im Hinblick auf Einschränkungen ihrer psychischen Gesundheit (DJI & DIJuF 2010). Im Vergleich zu allen gleichaltrigen Kindern und Jugendlichen in Deutschland weisen Pflegekinder als Gruppe mehrfach erhöhte Raten an klinisch auffälligem Verhalten, an Trauma-Exposition und Einschränkungen der psychischen Gesundheit auf (ebd.). Obgleich in Deutschland noch kaum Befunde zur Verbreitung von Desorganisation bei Pflegekindern vorliegen, kann davon ausgegangen werden, dass bei Fremdunterbringungen wegen Kindeswohlgefährdung „die betroffenen Kinder allerdings häufig Erfahrungen von Desorganisation mit in die Fremdunterbringung "bringen“ (ebd., S. 141, Fn. 55).

Widrige Fürsorge- und Trennungserfahrungen im Vorfeld der Fremdunterbringung erfordern eine besonders feinfühlige und verlässliche Gestaltung von bindungsrelevanten Interaktionen von Seiten der Pflegeeltern, um den Kindern korrigierende Bindungserfahrungen anzubieten. Dies zeigen Befunde zum Bindungsaufbau von kleinen Kindern (sechs bis 20 Monate) in Pflegefamilien, die bereits binnen zwei Wochen nach der Vermittlung eine Stabilisierung ihres Bindungsverhaltens erreichen, das durch die zuvor erlebte Trennung und in der neuen Umgebung hoch aktiviert ist. Die ersten Tage nach der Fremdunterbringung erweisen sich somit als sensible Periode für die bindungsbezogene Interaktionsabstimmung zwischen Pflegekindern und -mü ttern. Fast alle Kleinkinder haben binnen maximal acht Wochen nach der Inpflegegabe spezifische, organisierte Bindungsmuster zur Pflegemutter entwickelt. Für Kinder mit Hinweisen auf Desorganisation gelang dies hingegen nicht binnen zwei Monaten (Stovall & Dozier 2000). Ähnliche Studien bestätigen den Befund, dass sich Desorganisation im Bindungsverhalten bereits bei kleinen Kindern auch in der Pflegefamilie als stabil erweist und diese Kinder eine besonders stabile, feinfühlige und voraussehbare interpersonelle Umwelt brauchen (Bernier u. a. 2004).

Implikationen aus diesen Befunden haben in den USA zum einen zur Entwicklung spezifischer, bindungsbasierter Interventionen in Pflegefamilien geführt, die durch die Unterstützung feinfühligen Elternverhaltens auf die selektivpräventive Vermeidung früher Desorganisation beim Kind zielen (Dozier u. a. 2002). Zum anderen kann sich die therapeutische Wirkung korrigierender Bindungserfahrungen in der Pflegefamilie nur dann einstellen, wenn widrige Rahmenbedingungen insbesondere in der Bereitschaftspflege für Säuglinge und Kleinkinder, die Bindungsaufbau und Zugehörigkeit des Kindes in einer voraussehbaren und stabilen Umwelt unterminieren, überwunden werden. Für junge Pflegekinder mit „widrigen Fürsorgeerfahrungen“ eine besonders feinfühlige Pflege im Rahmen einer stabilen und verlässlichen zwischenmenschlichen Umgebung bereitzustellen, stellt das Kindesschutzsystem deshalb vor erhebliche fachliche und strukturelle Herausforderungen (Dozier 2005).

Rechtsvorgaben der Kindesunterbringung an der kindlichen Entwicklungstatsache und den Kinderrechten ausrichten

Seit einigen Jahren steigen in Deutschland die Zahlen der in Obhut genommenen sowie der in Pflege vermittelten Kinder und Jugendlichen deutlich an und befinden sich gegenwärtig auf einem historischen Höchstmaß (Statistisches Bundesamt 2014; 2015). Besonders die Kindergruppe der unter Sechsjährigen, die deutlich angewachsen und deren Bindungs- und Trennungsverhalten störanfällig ist, ist durch eine der Fremdunterbringung voraus gehende Inobhutnahme mehrfachen „Lebensortwechseln“ und damit verbunden dem Aufbau und Abbruch primärer Bindungen ausgesetzt.

In den USA hat man dieses Problem seit den 1980er Jahren erkannt: Auf der Grundlage der umfassenden Erkenntnisse zur Bedeutung der frühen Jahre, einer Vielzahl an Pflegekinderstudien sowie einem kritischen Diskurs über gescheiterte Kindesschutzverläufe haben sich Jugendhilfepraxis, Politik und Forschung auf die Suche nach effektiven Kindesschutzstrategien für Kinder in Hochrisikolebenslagen begeben.

Fachöffentlich problematisiert wurde vor allem ein sequentielles Vorgehen im Kinderschutz, d. h. durch familienerhaltende Hilfen verzögerte, schließlich unvermeidbare Herausnahmen von hochgefährdeten Kindern einerseits, und die Forcierung ihrer Rückführungsoption, ehe bei Scheitern derselben ein Alternativplan zur Kontinuitätssicherung erarbeitet wurde andererseits.

Auch zeigte die Evaluationsforschung zu intensiven Familienhilfen und Rückführungsprogrammen kaum ermutigende Befunde und es wurde ein hoher Anteil an forcierten und dann scheiternden Rückführungen von in der Herkunftsfamilie neuerlich gefährdeten Pflegekindern festgestellt (Westat u. a. 2002).

Auf Forschung und Diskurs folgte eine Revision der frühen Maximen des Permanency Planning, welches in seinen konzeptionellen Grundzügen in Deutschland in §§ 36, 37 SGB VIII verankert ist, und ein Umlenken in Politik und Praxis hinsichtlich der Prioritätensetzung im Kinderschutz: Die mit dem Lebensschicksal Pflegekind regelmäßig verbundenen psychischen Belastungen und Entwicklungsbeeinträchtigungen führten zur Infragestellung der kulturell und rechtlich tief verankerten Grundwertung, dass für jedes Kind die leibliche Familie stets der Ort des Aufwachsens sei bzw. sein müsse (Gelles 1993).

Der Gesetzgeber stellte sodann in einer umfassenden Rechtsreform 1997 klar, dass für in der Geburtsfamilie gefährdete Kinder zu treffende Herausnahme- und Rückführungsentscheidungen nicht einseitig und nicht vorrangig am Erhalt oder der Wiederherstellung der biologischen Familie auszurichten sind, sondern an einer gleichwertigen Alternativenwahl derjenigen familialen Lebensform, die Kindern die tragfähige Gewährleistung von Sicherheit, Kontinuität und Wohlbefinden langfristig in Aussicht stellt.

Mit diesem Adoption and Safe Families Act (ASFA, Public Law 105-89) hat der Gesetzgeber in den USA Ende des letzten Jahrhunderts einen bedeutenden Paradigmenwechsel im Kinderschutz festgeschrieben, da über das Rechtskonzept des Kindeswohls hinausgehend explizit auf drei basale Entwicklungsbedürfnisse von Kindern Bezug genommen wird. Dem kindlichen Zeitempfinden Rechnung tragend, können sich seither Bemühungen der Jugendhilfe gleichzeitig und konkurrierend auf die Realisierung sowohl der Rückführungsoption, als auch auf die Erarbeitung einer alternativen Form der Kontinuitätssicherung für das Kind durch Adoption oder Vormundschaft richten und sind binnen zwölf Monaten zu einer gerichtlichen Entscheidung zu bringen, um die familiale Zugehörigkeit des Kindes rechtlich abzusichern.

Durch diese Stärkung der Kinderrechte spiegelt der ASFA eine prägnante Weiterentwicklung zentraler Grundwertungen im Kinderschutz wider und gilt als Meilenstein einer Kinderrechtepolitik, die die Orientierung an den kindlichen Entwicklungsbedürfnissen als maßgebend und verbindlich für Kindesschutz- und Unterbringungsfragen einfordert und eine zuvor primär an der Rehabilitation biologischer Familien orientierte Kindesschutzpolitik und -praxis ablöste (Notkin u. a. 2009).

Kontinuitätssichernde Perspektivplanung ist in den USA heute kein Thema der Pflegekinderhilfe mehr, es ist längst ein zentrales Kindesschutzthema geworden. Impulse zur rechtlichen Normierung der Gleichzeitigkeit sowie zeitlichen Befristung von Rückführungsbemühungen und Erarbeitung einer dauerhaften Lebensperspektive außerhalb der Herkunftsfamilie kamen auch aus der Jugendhilfepraxis selbst.

Concurrent Planning: Innovative Hilfeplanmethode für hochgefährdete Kinder

Bereits 1980 entstanden in der Jugendhilfe erste Modellprojekte zur Weiterentwicklung von Konzepten und Methoden der Kindesunterbringung, die die Ablösung der sequentiellen Hilfeplanung für besonders verletzliche Kinder einläuteten, also für Säuglinge und Kleinkinder aus sogenannten Hochrisikofamilien sowie für ältere, bereits in ihrer Entwicklung beeinträchtigte oder traumatisierte Kinder mit mehrfachen „Platzierungswechseln“.

Die maßgeblich auf die Sozialarbeitswissenschaftlerin Katz und Kolleginnen zurückgehende Methode des Concurrent Planning beschreibt seither die unmittelbar mit dem Eintritt eines gefährdeten Kindes in das Kindesschutzsystem beginnende, zweigleisige Hilfeplanung, die auf der parallelen, und d. h. gleichzeitigen, Prüfung und Planung sowohl der Rückkehroption, als auch einer dauerhaften Alternative in der Regel durch Adoption, basiert (Weinberg & Katz 1998).

Um Diskontinuitätserfahrungen der Kinder und dem Verlust von Entwicklungszeit gegenzusteuern, wird im Rahmen des Concurrent Planning binnen der ersten 90 Tage ab Beginn der Fremdunterbringung eine umfassende Familiendiagnostik durchgeführt und eine Prognose der Rückkehrchancen des Kindes formuliert. Kinder aus Familien, in denen sich aus der Forschung abgeleitete Indikatoren ungünstiger Rückführungsprognosen kumulieren, erhalten einen Concurrent Plan. Sodann erfolgt die Hilfeplanung offengelegt, parallel und zeitlich befristet in Richtung Rückführung und Adoption. Die den Eltern bereitgestellten Rehabilitationshilfen bleiben davon unberührt: Auch im Rahmen des Concurrent Planning erhalten Eltern intensive Unterstützung zur Überwindung ihrer Problemlagen mit dem Ziel, die Erziehungsbedingungen innerhalb der Herkunftsfamilie binnen eines Jahres in einer Weise herzustellen, die dem Kind ein sicheres und dauerhaftes Aufwachsen ermöglichen können. Dem dynamischen und prozesshaften Charakter der Hilfeplanung ist hierdurch ebenso Rechnung getragen, wie dem kindlichen Zeitempfinden.

Gleichzeitig werden Kinder mit ungünstigen Rückkehrprognosen in Pflegefamilien untergebracht, die bereit und in der Lage sind, mit Blick auf eine Rückführung des Kindes sowohl mit den Herkunftseltern zu kooperieren, als auch dem Kind bei Scheitern der Rückkehrbemühungen ein dauerhaftes Zuhause durch Adoption zu bieten, die häufig finanziell unterstützt erfolgt.

Als Herzstück dieser innovativen Hilfeplanmethode gilt die vollständige Offenlegung des Verfahrens, des rechtlichen Schutzauftrags von Jugendhilfe und Justiz sowie der Rechte und Pflichten aller Beteiligten, für das Kind eine sichere und langfristig tragfähige Lebensperspektive zu entwickeln. Diese Offenlegung gewährleistet, dass Herkunfts- wie Pflegeeltern auf dem gleichen Kenntnisstand sind und informierte Entscheidungen treffen können und erhöht zudem die Verantwortlichkeit aller Beteiligten zur Mitarbeit (Lutz 2001, S. 16).

Die konzeptionellen und methodischen Weiterentwicklungen in der Perspektiv- und Hilfeplanung für gefährdete Kinder wurden vom Gesetzgeber des ASFA aufgegriffen, indem dieser 1997 explizit klarstellte, dass Bemühungen der Jugendhilfe sich gleichzeitig und konkurrierend auf die Realisierung sowohl der Rückführungsoption als auch die Erarbeitung einer alternativen Form der Kontinuitätssicherung durch Adoption oder Vormundschaft richten können. Die Gerichte haben den Auftrag erhalten, sich im Rahmen einer Dispositionsanhörung nach sechs Monaten der Fremdunterbringung über den Hilfeverlauf zu informieren und die Entscheidung über Rückführung oder Adoptionsfreigabe des Kindes in der Regel nach zwölf Monaten rechtlich abzusichern. Die Umsetzung der Rechtsvorgaben durch die Justiz wird durch Information und Fortbildung der zuständigen Gerichte gefördert.

Mit der rechtlichen Akzentverschiebung des ASFA und der Bezugnahme auf die kindliche Entwicklungstatsache und die Kinderrechte gingen seit der Jahrtausendwende strukturelle Weiterentwicklungen in den staatlichen Kindesschutzmaßnahmen einher: Programme zur Implementierung und Evaluation des Concurrent Planning in der Jugendhilfe- und Gerichtspraxis sowie zur Adoptionsförderung für kleine und bereits beeinträchtigte Kinder folgten nach und sind heute in allen Bundesstaaten der USA zu finden. Concurrent Planning hat damit die im Blick auf einen nachhaltigen Kinderschutz gescheiterte, sequentielle Hilfeplanung abgelöst. Implementierungsstudien zu dieser hier lediglich skizzierten und an anderer Stelle ausführlich dargelegten Methode zeigen, dass durch eine offensive Perspektivplanung mit Beginn der Aufnahme gefährdeter Kinder in das Kindesschutzsystem, für diese tatsächlich häufiger und frühzeitiger ein höheres Maß an Kontinuität erreicht wird (ausführlich Diouani-Streek 2015).

Lebenslauforientierter Kinderschutz: In Deutschland eine ferne Zielvorstellung?

Oder: Es ist auch in Deutschland Zeit für Rechtsreformen! Eine wesentliche Schlussfolgerung aus der klinischen Bindungsforschung lautet, Deprivationssymptome und Störungen der emotionalen und sozialen Entwicklung, zumindest im Lebensalter frühe Kindheit, stets im Kontext von innerfamiliären Bindungsbeziehungen zu interpretieren (Ostler & Ziegenhain 2007). Mit Ostler und Ziegenhain (ebd., S. 68) kommt der fundierten Exploration und Bewertung der elterlichen Beziehungs- und Erziehungsfähigkeit deshalb gerade im, auch für die Pflegekindschaft bedeutsamen, Frühbereich eine Schlüsselfunktion für die Einschätzung von gegenwärtigen Risiken und drohenden Beeinträchtigungen der Kindesentwicklung zu. Eine in dieser Weise orientierte Diagnostik ist ebenso bedeutsam für fundierte Prognosen der elterlichen Veränderungsfähigkeit und ob positive Erfolge in einem „für die jeweiligen Bedürfnisse und Entwicklungsanforderungen des Kindes“ (ebd., S. 80) angemessenen Zeitraum erreicht werden können.

Frühprävention in psychosozial belasteten Familien bietet sicher für viele Kinder in ihren Familien eine wichtige Ergänzung, ihr gesundes Aufwachsen zu fördern. Mit dem, im Bundeskinderschutzgesetz durch den Ausbau Früher Hilfen intendierten, früheren und breiteren Erreichen gefährdeter Kinder werden jedoch gleichzeitig methodische und strukturelle Fragen fundierter fachlicher Entscheidungen über die Geeignetheit ambulanter Hilfen und die Notwendigkeit intervenierender, d. h. temporär oder langfristig familienersetzender, Maßnahmen absehbar regelmäßiger und früher aufgeworfen.

Daraus folgt in methodischer Hinsicht die Notwendigkeit zu Entwicklung, Implementierung und Evaluation valider Diagnose- und Prognoseinventare im Kinderschutz des Frühbereichs, die für Bindungsstörungen, Desorganisation und frühkindliche Traumatisierung im Rahmen der Eltern-Kind-Bindung sensibel sind. Strukturell müssten die Kooperationsstrukturen zwischen Jugendhilfe und Gesundheitswesen so weiterentwickelt werden, dass Diagnostiken zeitnah eingeholt und bezahlbar werden, um einen Unterstützungsbedarf der Eltern gegenüber chronischen Gefährdungslagen der Kinder differenzieren zu können.

Gefährdungserfahrungen von Kindern und damit einhergehende Entwicklungsrisiken und -bedürfnisse sowie Wiederholungsrisiken und Veränderungsmöglichkeiten der Eltern sind im Rahmen der Hilfeplanung deshalb frühzeitig, regelmäßig und regelgeleitet zu explorieren und zu thematisieren. Auf dieser Grundlage können gründliche, einzelfallbezogene Abwägungen und Entscheidungen der Angemessenheit, Notwendigkeit und erwartbaren Effektivität von unterstützenden Hilfen oder intervenierenden Maßnahmen bei (Hinweisen auf eine) Kindeswohlgefährdung getroffen werden.

Neben Prävention „von Anfang an“, sind auch intervenierende Schutzmaßnahmen für hochgefährdete Kinder künftig stärker an der kindlichen Entwicklungstatsache auszurichten, indem sie systematisch auf der Grundlage fachlicher Prognosen geplant und in für das Kind vertretbaren Zeiträumen von den am Kinderschutz beteiligten Akteuren umgesetzt werden.

Das kleine Kind, dessen Herausnahme aus der Herkunftsfamilie wegen Gefährdung unumgänglich wird, ist in besonderer Weise auf die Stabilität seines Lebensumfeldes und die Kontinuität seiner Bindungen angewiesen, um absehbare Beeinträchtigungen von seiner Entwicklung abzuwenden. Ein Kindesschutzsystem, welches hochgefährdete Säuglinge und kleine Kinder in Obhut nimmt, um ihr Leben zu schützen, und gleichzeitig kaum Strukturen und Strategien aufweisen kann, um ihre weitere Entwicklung zu schützen und die Kontinuität ihrer primären Bindungen zu fördern, setzt diese Kinder voraussehbaren und vermeidbaren Risiken aus, die sich aus der Diskontinuität ihrer Bindungen und anhaltenden Schwebezuständen über ihre langfristige Lebensperspektive ergeben.

Die aktuelle reformpolitische Diskussion zur Stärkung der Kinderrechte in Deutschland und zur rechtlichen Absicherung der auf Dauer angelegten Lebensform außerhalb der Herkunftsfamilie im Bürgerlichen Gesetzbuch (hierzu Salgo in diesem Heft) ist deshalb sehr begrüßen. In Anbetracht der heute verfügbaren Erkenntnisse zu den langfristigen Entwicklungsverläufen gefährdeter Kinder sollte in diesem Kontext genau überlegt werden, wie Rechtsvorgaben in Deutschland modifiziert werden müssen, um der kindlichen Entwicklungstatsache stärker als bislang Rechnung zu tragen und Eltern, Jugendhilfe und Justiz nicht nur zur Abwendung akut drohender Schädigungen des Kindes zu verpflichten, sondern in eine gemeinsame Verantwortung zu effektivem und nachhaltigem Kindesschutz zu bringen.

Hierzu könnten die bereits in den §§ 33, 36, 37 SGB VIII in getrennten Normen aufgeführten Aspekte kontinuitätsorientierter Entscheidungen zur Fremdunterbringung gefährdeter Kinder an einer zentralen Stelle als Auftrag an die Jugendämter zur „kontinuitätssichernden Perspektivplanung“ zusammengeführt werden. Sinnvoll erscheint eine Ergänzung des Schutzauftrags in § 8a SGB VIII: Dort sollte konkretisiert werden, dass bei wegen Kindeswohlgefährdung notwendig werdenden Fremdunterbringungen von Kindern und Jugendlichen frühzeitig eine für alle Beteiligten offengelegte Prognoseeinschätzung über die voraussichtliche Dauer und das Ziel der Maßnahme vorzunehmen ist, und dass Bemühungen der Jugendhilfe binnen eines – gegebenenfalls gesetzlich explizierten, – jedenfalls an Alter und Entwicklungsstand des Kindes orientierten Zeitraums auf die Aktivierung der Elternverantwortung zu richten sind, gemeinsam für das Kind eine langfristig tragfähige und sichere Lebensperspektive innerhalb oder außerhalb der Herkunftsfamilie zu entwickeln. Vor dem Erfahrungshintergrund der strukturellen Qualitätsentwicklungen im Kinderschutz infolge der gesetzlichen Konkretisierung des Schutzauftrags vor zehn Jahren ist anzunehmen, dass eine explizite gesetzliche Vorgabe zur kontinuitätssichernden Perspektivplanung an zentraler Stelle des SGB VIII die notwendige Entwicklung und Implementierung prognostischer Verfahren zur Einschätzung der Hilfe- und Lebensperspektive gefährdeter Kinder begünstigt und – in Verbindung mit zivilrechtlichen Reformen zur Absicherung der auf Dauer angelegten Lebensform außerhalb der Herkunftsfamilie – die Umsetzung der politisch angekündigten Stärkung der Kinderrechte in Jugendhilfe und Justiz befördert.

Schließlich zeigt der Erfahrungsvorsprung der USA, dass Akzentsetzungen im Kinderschutz und die Steuerungsfunktion des Rechts hinsichtlich ihrer Effekte auf die Entwicklung wirksamer Kindesschutzstrategien in der Praxis ebenso wenig unterschätzt werden sollten wie hinsichtlich ihrer Effekte auf die Entwicklung und Entwicklungsbeeinträchtigungen betroffener Kinder.

Autorin

Dr. phil. Mériem Diouani-Streek ist Erziehungswissenschaftlerin und Vertretungsprofessorin am Fachbereich Soziale Arbeit der Frankfurt University of Applied Sciences.

Literatur

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Erstveröffentlichung: frühe Kindheit 05/15