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28.05.2008

Könnte Kevin noch leben? Zur Debatte um den Schutz gefährdeter Kinder

Zur Debatte um den Schutz gefährdeter Kinder. Erschreckende Beispiele von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung sowie das gelegentliche Versagen der einschlägigen Behörden haben in den letzten Monaten eine neuerliche Debatte ausgelöst über den Schutzauftrag der staatlichen Gemeinschaft sowie die Notwendigkeit sozialer Frühwarnsysteme.

Erschreckende Beispiele von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung sowie das gelegentliche Versagen der einschlägigen Behörden haben in den letzten Monaten eine neuerliche Debatte ausgelöst über den Schutzauftrag der staatlichen Gemeinschaft sowie die Notwendigkeit sozialer Frühwarnsysteme. Es geht dabei um das rechte Verhältnis von Kindeswohl und Elternrecht, aber auch um die leeren Kassen der Kommunen.

Als der zwei Jahre alte Kevin am 10. Oktober 2006 nach einem langen Leidensweg tot aus dem Kühlschrank in der Bremer Wohnung seines vermeintlichen Erzeugers geborgen wird, bleibt dies nicht folgenlos: Die zuständige Senatorin Karin Röpke tritt zurück, Bürgermeister Jens Böhrnsen gesteht „unverzeihliches Versagen“ ein und verspricht lückenlose Aufklärung, die auch Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem CSUParteitag unter dem Beifall der Delegierten einfordert. In der Hansestadt werden im Eilverfahren so genannte Problemfamilien „überprüft“ (aber nicht unbedingt aufgesucht), der mutmaßliche Peiniger wird in Untersuchungshaft genommen, staatsan-waltschaftliche Ermitt-lungen und Disziplinarverfahren werden unter anderem gegen den Leiter des Jugendamtes eingeleitet, ein parlamentarischer Unter-suchungsausschuss wird eingerichtet, und Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen kündigt erneut ein Frühwarn-system an, das die Vernachlässigung von Kindern aufdecken und verhindern soll. (vgl. HK, Februar 2006, 59).

Als hätte es vor Kevin nicht schon Laura-Jane und Dennis und Tim und Jessica und Benjamin und die vielen anderen Kinder gegeben, deren vorzeitiger und vermeidbarer Tod ebenfalls einigen öffentlichen Wirbel und viel medienträchtige Geschäftigkeit, aber kaum substanzielle Verbesserungen für die betroffenen Kinder oder beispielsweise für die Arbeit der Jugend-und Sozialämter gebracht hat. Auch Kevin, unter staatlicher Vormundschaft verstorben, wird von den halbherzigen und von schlechtem Gewissen getriebenen Aktivitäten nicht wieder lebendig.Aber vielleicht kann den 100 000 Kindern geholfen werden, die nach Schätzungen des Kinderschutzbundes in Deutschland nach wie vor vernachlässigt werden.

„Das Wächteramt und der Schutzauftrag der staatlichen Gemeinschaft müssen gestärkt und soziale Frühwarnsysteme entwickelt werden“, so war schon im Vertrag der Großen Koalition zu lesen. Das Projekt Frühe Förderung für gefährdete Kinder – Prävention durch Frühförderung“ wurde allerdings mit gerade einmal zehn Millionen Euro auf fünf Jahre ausgestattet. „Junge Menschen haben ein Recht auf Bildung, auf ein gesundes Aufwachsen, auf gesellschaftliche Beteiligung und vor allem darauf, dass sie vor physischer und psychischer Gewalt geschützt werden“, heißt es im gleichen Vertragstext. Dass dazu mehr als zwei Millionen Euro pro Jahr erforderlich sind, weiß vermutlich auch die Bundesregierung.

Körperliche Gewalt in der Erziehung geht zurück und die psychische nimmt zu

Immerhin hatte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries im März 2006 eine Arbeitsgruppe „Familiengerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“ eingesetzt, deren Abschlussbericht am 17.November 2006 vorgelegt wurde. Bei der Vorstellung wartete die Ministerin mit der nicht unbedingt neuen, aber dennoch zutreffenden Botschaft auf, dass Familiengerichte, Jugendämter, Schulen und Polizei in Zukunft noch besser zusammenarbeiten und im Einzelfall früher tätig werden müssten. „Ausgangspunkt aller Überlegungen muss die Erkenntnis sein, dass frühzeitige Prävention das beste Mittel ist, um Kinder zu schützen“, erklärte Zypries unter Bezugnahme auf den Bericht.

Dennoch vergeht kaum ein Tag ohne Schreckensmeldung. Kinder werden immer wieder Opfer von körperlicher und seelischer Gewalt, die vielfältige Formen annimmt. Es beginnt schon vorgeburtlich unter anderem mit legalen und illegalen Drogen- und Medikamentenein-nahmen und -gaben und setzt sich nach der Geburt fort mit "Liegen-lassen“ nach überlebter Spätabtreibung, aktiver Sterbehilfe bei (schwerst-)geschädigten Neugeborenen, Kindesaussetzung, physischer und psychischer Misshandlung und Vernachlässigung, gesundheitlicher Schädigung durch Passivrauchen, falsche Ernährung und Bewegungsmangel, über sexuellen Missbrauch, Kinderprostitution und -pornografie bis hin zum Kindesmord durch Unterlassen oder aktives Tun.

Neben den Einzelfällen gibt es ein weites Feld struktureller Gewalt
wie etwa die wachsende Kinderarmut, kinderfeindliche Städte und Verkehrspolitik oder die chemische Belastung von Lebensmitteln, Textilien, Möbeln, Spielzeug, Böden, Gewässern und Luft. Auch hier werden Kinder massiv und mit teils bleibenden Schäden in Mitleiden-schaft gezogen.

Werden Jugendliche nach den Erziehungspraktiken ihrer Eltern befragt, so berichten 42,1 Prozent, gut fünf Prozent mehr als noch zu Beginn der neunziger Jahre, von Fällen, wo nicht mehr mit ihnen gesprochen wurde.Deutlich zugenommen hat das Niederbrüllen; 65,1 Prozent der Jugendlichen mussten dies über sich ergehen lassen. Erfreuliche Rückgänge verzeichnet man bei den leichten (von 81,2 Prozent auf 65,1 Prozent) und bei den schallenden Ohrfeigen (von 43,6 Prozent auf 16,5 Prozent), bei kräftigen Stockschlägen auf den Po (von 41,3 Prozent auf 4,5 Prozent) und bei Prügel mit Blutergüssen (von 30,6 Prozent auf 4,9 Prozent; vgl. Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht
der Bundesregierung, Berlin 2006, 116 f.).

So positiv der deutliche Rückgang bei der körperlichen Gewalt in der Erziehung ist, so erschreckend ist die Zunahme psychischer Gewalt etwa durch Demütigung und Beziehungsabbruch, deren Folgen oft unterschätzt werden. Und selbst die Angaben zu den physischen Übergriffen sind alles andere als beruhigend. Allein im Jahr 2005 wurden 19 561 Kinder als Opfer von Sexualdelikten polizeilich registriert, wovon 17,3 Prozent Fälle schweren sexuellen Kindesmiss-brauchs waren (Sicherheitsbericht 2006, 98). 2905 Kinder erfasste die polizeiliche Kriminalstatistik im selben Jahr als Opfer von Misshand-lungen. Das ist jedoch nur das so genannte Hellfeld; über das Dunkel-
feld lassen sich oft nur Schätzungen oder mangels entsprechender Studien bloß Mut-maßungen anstellen. Der Frankfurter Pädagoge Josef Faltermeier spricht von einer 8- bis 15-fachen Dunkelziffer.

Ähnlich ist es bei der passiven Form von Gewalt, der Vernachlässi- gung. An den Folgen von Vernachlässigung und Misshandlung sterben nach UNICEF-Schätzungen in Deutschland durchschnittlich zwei Kinder pro Woche. Nach der Kinder- und Jugendhilfestatistik für das Jahr 2004 sind 10 516 Anzeigen an die Familiengerichte zum (vollständigen oder teilweisen) Entzug der elterlichen Sorge wegen einer Gefährdung des Kindeswohls eingegangen. In etwa 80 Prozent dieser Fälle haben die Gerichte anschließend die genannten Maßnahmen getroffen. Meist ist es die Vernachlässigung von Kindern, weshalb die Familiengerichte wegen Gefährdung des Kindeswohls angerufen werden.„Dabei sind die Familien den zuständigen Fachkräften in den Jugendämtern in der Regel bereits bekannt. Die Anrufung des Gerichts erfolgt überwiegend nicht aus akuten Notlagen heraus, sondern ist Folge von sich zuspitzen- den Gefährdungen und fehlgeschlagenen sozialpädago-gischen Hilfs- und Unterstützungsangeboten.“ (Arbeitsgruppe „Familiengerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“. Abschlussbericht vom 17. November 2006, 15 f.)

Nichthandeln kann ein ebensolcher Machtmissbrauch sein wie Handeln

Täter sind nicht nur Eltern oder Lebensgefährten, Verwandte oder „Freunde“ der Familie, sondern auch „professionelle“ Kräfte, beispiels- weise Ausbilder, Erzieher, Betreuer oder Pfleger, aber auch Mitarbeiter von Sozialbehörden, die nicht genau genug hinsehen, zu lange zögern, das Falsche tun oder gar wegschauen. Bei den Ursachen der Gewalt gegen Kinder muss man also sehr genau den Einzelfall in den Blick nehmen. Oft ist es eine Mischung aus individuellen, institutionellen und strukturellen Aspekten, die sich zu einer unheilvollen Allianz gegen das Kind „verbünden“.
Die Folgen von Misshandlungen, Vernachlässigung und Missbrauch für die Betroffenen können sehr tief greifend und lang anhaltend, zu einem nicht geringen Teil auch irreversibel sein. Hier sind – abgesehen von tödlichem Ausgang – gesundheitliche Schäden, Entwicklungsverzö-gerungen und kognitive Beeinträchtigungen zu nennen, die sich auch in verminderten Schulleistungen und ungünstigeren Zukunftschancen niederschlagen. Für nicht wenige zieht sich der Leidensweg über Monate und Jahre hin. „Als immer wieder bestätigte Faustregel kann gelten, dass die Auswirkungen um so gravierender sind, je früher die Misshandlung beginnt, je schwerer sie ist und je länger sie anhält“.
(Martin Dornes, Die frühe Kindheit, Frankfurt 1997, 231) In ihrem Buch „Über Ungerechtigkeit“ schildert die US-amerikanische Philosophin Judith Shklar den Lebens- und Leidensweg des kleinen Joshua DeShaney – ein nicht ganz untypischer „Fall“.

Nach der Trennung der Eltern erhält der Vater das Sorgerecht. Er misshandelt den Jungen, fügt ihm traumatische Kopfverletzungen zu, bis dieser zuletzt in ein lebensbedrohliches Koma fällt und einen schweren, bleibenden Hirnschaden davonträgt. Die immer wieder informierten Behörden bleiben mehr oder minder passiv. Die Mutter verklagt das Sozialamt und zieht bis vor das oberste Bundesgericht; die Behörde habe durch ihr fahrlässiges Handeln Joshua seiner Freiheit beraubt. Doch der US Supreme Court weist die Klage zurück. Der Staat sei verfassungsmäßig nicht dazu verpflichtet gewesen, Joshua vor seinem Vater zu schützen. Auch wäre das Sozialamt wahrscheinlich mit dem Vorwurf einer unsachgemäßen Einmischung in die Eltern-Kind-Beziehung konfrontiert worden, wenn zu früh Maßnahmen ergriffen worden wären, den Sohn von seinem Vater fort in Obhut zu nehmen.
Dies ist auch eine in Deutschland keineswegs seltene gerichtliche
und behördliche Argumentation. Judith Shklar fragt weiter: Wann ist eine Katastrophe ein Unglück und wann eine Ungerechtigkeit? Ist Joshua Opfer eines Unglücks, des Unglücks, einen solchen Vater zu haben und dann noch durch die Lücken des Systems zu fallen? Nach Einschätzung Shklars ist die Untätigkeit der staat-lichen Organe vielmehr eine schwerlich zu überbietende Ungerechtigkeit, „die in einem modernen Staat ihresgleichen sucht“. Dem Staat sei zwar nicht ohne weiteres erlaubt, „in jene vielen Bereiche unseres Lebens einzu-greifen, in denen wir das Recht haben, nach unserem Gutdünken zu handeln“.Aber nur wenige Menschen würden heute noch meinen, häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder falle in die geschützte Privatsphäre (Über Ungerechtigkeit, Frankfurt 1997, 15 f.).

Die Würde des Kindes ist unantastbar

Nach dem obersten und unter „Ewigkeitsvorbehalt“ gestellten Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes ist die Würde des Menschen, also auch die des jungen Menschen, unantastbar. Sie ist von aller staatlichen Gewalt nicht nur – wie es im weiteren Wortlaut heißt – passiv zu achten, sondern auch aktiv zu schützen. Artikel 6 stellt Ehe und Familie unter besonderen staatlichen Schutz. Pflege und Erziehung der Kinder sind danach nicht nur das „natürliche Recht“ der Eltern, sondern auch „die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ Damit sind die Rollen klar verteilt. Die Erstverantwortung liegt bei den Eltern,aber die staatliche Gemeinschaft nimmt ein so genanntes Wächteramt wahr. So dürfen Kinder – immer noch nach Artikel 6 – auch gegen den Willen der Erziehungsbe-rechtigten von der Familie getrennt werden, „wenn die Erziehungsbe-rechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen“.

Auf dieser Basis stellt das Bürgerliche Gesetzbuch das Kindeswohl
im Konfliktfall über das Elternrecht: Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes etwa durch Vernachlässigung gefährdet, dann muss das Familiengericht, „wenn die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden“, die erforderlichen Maßnahmen treffen (§ 1666 I BGB).Wenn der Gefahr nicht auf andere Weise begegnet werden kann, so ist nach § 1666a I BGB auch die Trennung des Kindes von seinen Eltern zulässig. Seit den neunziger Jahren wurden sowohl das Schutzziel des Artikels 1 GG als auch das staatliche Wächteramt aus Artikel 6 GG zunehmend rechtlich gestärkt und konkretisiert.
Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die „Konvention
über die Rechte des Kindes“ (KRK) von 1989, die am 5. April 1992 für Deutschland in Kraft trat. Durch die nahezu globale Zustimmung wurde die Kinderrechtekonvention zu einer „umfassenden, weltweit geltenden, völkerrechtlich verbindlichen Basis für Politik und Gesellschaft“ (UNICEF). Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren haben danach ein Recht auf Schutz (protection), auf Grundversor-gung (provision) und auf Beteiligung (participation).

Die Bundesrepublik hat sich mit der Unterzeichnung verpflichtet, „alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen
Maßnahmen zur Verwirklichung der in diesem Übereinkommen
anerkannten Rechte“ (Art. 4) zu treffen. Auch nach der KRK können die zuständigen Behörden in einem rechtsstaatlichen Verfahren ein Kind selbst gegen den Willen seiner Eltern von diesen trennen, wenn die Trennung zum Wohl des Kindes notwendig ist, etwa „wenn das Kind durch die Eltern misshandelt oder vernachlässigt wird“ (Art. 9). Nach der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ vom 7. Dezember 2000 haben Kinder „Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind“. Dem Kindeswohl wird dabei Priorität eingeräumt: „Bei allen Kindern betreffenden Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein“ (Art. 24). Auch wenn die EU-Verfassung von einem Inkrafttreten noch weit entfernt scheint, so entfaltet der Grundrechtekatalog schon heute seine Wirkung. So prüft das Europäische Parlament jährlich die Einhaltung der Grundrechte und damit auch die Einhaltung des zitierten Artikels 24 durch die Union und ihre Mitgliedstaaten.

Im selben Jahr wurde mit der Novellierung von § 1631 Abs. 2 BGB in Deutschland das Recht von Kindern gestärkt und physische wie psychische Gewalt als Mittel der Erziehung delegitimiert: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“ Auf der Grundlage dieses Gesetzes verurteilte beispielsweise das Amtsgericht Burgwedel im November 2004 eine Mutter zu einer Bewährungsstrafe, weil sie ihre zweijährige Tochter so heftig geohrfeigt hatte, dass diese zu Boden fiel (Az. 64 Ds 3643/04).

Der durch das „Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und
Jugendhilfe“ (KICK) 2005 neu eingefügte § 8a des Achten Buches
Sozialgesetzbuch mit seinen Ausführungen zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung kann als eine Antwort des Gesetzgebers auf behördliches Versagen und unprofessionelles Tun und Unterlassen im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe gelesen werden. Zu seinen wesentlichen Neuerungen zählt, dass die Abschätzung eines Gefährdungsrisikos als eine besonders verantwortungsvolle Tätigkeit beschrieben wird, die Qualifikationen und Kompetenzen erfordert, über die viele Träger von Einrichtungen und Diensten nicht verfügen. Diese sind nun verpflichtet, eine erfahrene Fachkraft hinzuzuziehen, die über die erforderlichen Fähigkeiten verfügt (vgl. dazu die Empfehlungen des Bayerischen Landesjugendamtes vom 15.3.2006).

Elternrecht versus Kindeswohl

„Fälle“ wie die von Joshua machen es den Sozialbehörden und den dort Tätigen auch deshalb so schwer,weil hier verschiedene Menschen- beziehungsweise Grundrechte kollidieren: einerseits das Recht des Kindes auf Leben und körperlich-seelische Unversehrtheit, andererseits das Recht der Eltern auf Pflege und Erziehung der Kinder. Lässt man Kostengesichtspunkte zunächst einmal außer Acht, dann lässt sich der Konflikt als Dilemma Autonomie versus Intervention beziehungsweise Elternrecht versus Kindeswohl rekonstruieren.

Daran knüpfen sich folgende Fragen:Wie weit geht die Autonomie
der Eltern? Wann können und müssen sich Sozialprofessionelle
zugunsten des Elternrechts auf unterstützende Maßnahmen beschränken? Welche Umstände müssen gegeben sein, welche Indizien müssen vorliegen, damit Sozialprofessionelle zur Intervention auch gegen den Elternwillen verpflichtet sind? Wann dürfen, wann müssen sie sich zum Schutz des Kindeswohls in die Eltern-Kind -Beziehung „einmischen“, das Kind gegebenenfalls in Obhut nehmen und auf Zeit oder dauerhaft fremdunterbringen?
Zu klären ist, was man unter „gewichtigen Anhaltspunkten“ (§ 8a SGB VIII) für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder Jugendlichen zu verstehen hat. Dazu legte etwa das Bayerische Landesjugendamt sozialpädagogische Diagnosetabellen vor, die auf mögliche Anhalts-punkte beim Kind oder Jugendlichen selbst (beispielsweise nicht plausibel erklärbare sichtbare Verletzungen), in Familie und Lebens-umfeld (unter anderem desolate Wohnsituation) sowie zur Mitwirkungs-bereitschaft und -fähigkeit (etwa fehlende Problemeinsicht) aufmerksam
machen.

Aus dem Jahr 2003 datieren die Empfehlungen des Deutschen Städtetages „zur Festlegung fachlicher Verfahrensstandards in den Jugendämtern bei akut schwerwiegender Gefährdung des Kindes-wohls“. Mit den Standards wird das doppelte Ziel verfolgt, „in best- möglicher Weise das Kindeswohl zu sichern und gleichzeitig das Risiko einer strafrechtlichen Verantwortung für die Fachkraft zu minimieren“ (3). Zu einem verantwortlichen Handeln, das betont der Städtetag, gehört die Reflexion und Begründung der eingesetzten oder geplanten Mittel. Dafür bietet der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine wichtige Orientierungshilfe. Als rechtlicher Grundsatz wird er aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20, 28 GG) abgeleitet. Alle staatlichen Eingriffe in Rechte Dritter müssen ihm genügen. Aber es ist nicht nur ein rechtlicher, sondern gleichermaßen ein ethischer Grundsatz. Danach muss jede (geplante) Handlung, Unterlassung, Maßnahme oder Intervention 1. geeignet sein, um ein vorgegebenes Ziel zu erreichen, etwa eine Gefahr abzuwenden, 2. erforderlich sein, das heißt, es darf, beispielsweise zur Gefahrenabwehr, keine mildere Maßnahme geben, die ebenfalls geeignet wäre, und die Handlung muss 3. angemessen sein, das heißt, dass der durch die Maßnahme bewirkte Schaden nicht größer sein darf als der Nutzen.Dies gilt für alle Formen der sozialbe-hördlichen Unterstützung der Eltern wie für Inobhutnahme und Unter-bringung, aber auch für Umgangskontakte und Rückführungen (vgl. hierzu die Holzmindener Forderungen zur Verbesserung des Kinderschutzes).

Hatte das alte Jugendwohlfahrtsgesetz den staatlichen Eingriff und die Kontrolle in den Vordergrund gestellt, so wurde in der Reform- und Dienstleistungsdebatte in der Sozialen Arbeit der aus dem staatlichen Wächteramt fließende Schutzauftrag der Jugendhilfe immer mehr zurückgedrängt. Fortan sollte die elterliche Erziehungsverantwortung in erster Linie unterstützt und ergänzt werden. Kinder- und Jugendhilfe kann sich jedoch „nicht darauf beschränken, Leistungen nur ,auf Antrag‘ bzw. auf Nachfrage zu gewähren, sondern muss – jedenfalls bei Anhaltspunkten für eine Gefährdung des Kindeswohls – von Amts wegen tätig werden, um sodann eine eigenverantwortliche Entscheidung darüber treffen zu können, ob einer (drohenden) Gefährdung des Kindeswohls besser durch Hilfen mit der und für die Familie oder aber durch eine Anrufung des Familiengerichts“ beziehungsweise bei Gefahr im Verzug durch eine Inobhutnahme begegnet werden kann (Reinhard Wiesner u. a., Das neue Kinder-und Jugendhilferecht, Köln 2006, 65 f.). Fatal ist, dass „der Mythos der ambulanten Hilfen“ auch dort gepflegt wird, wo alles dagegen spricht, nämlich dort, wo Kinder vernachlässigt, misshandelt oder missbraucht werden (Kurt Eberhard u. a.,Das Kindeswohl auf dem Altar des Elternrechts, in: Sozial Extra, Nr. 2/3, 2001).

Prävention ist humaner und langfristig auch ökonomisch vernünftiger

Knapp zwei Wochen bevor feststand, dass Kevin wegen der unzurei-chenden beziehungsweise unterbliebenen behördlichen Hilfsmaß- nahmen nicht überlebt hatte, wurde in Bremen über die Entwicklung der Sozialausgaben im ersten Halbjahr 2006 beraten. In der Vorlage findet sich der lapidare Satz: „Die Zahl der Fremdplatzierungen darf nicht steigen.“ Heime und Pflege-familien sind eben teurer, als Kinder in ihren Herkunftsfamilien zu belassen. Die Kassen der Kinder- und Jugendhilfe sind vielerorts leer, die Hilfe wird den Budgets angepasst, nicht die Budgets den Not-wendigkeiten. Die „Fall“-Zahlen pro Mitarbei- terin steigen. Eine Soziale Arbeit, die diesen Namen verdient, kann oft nicht mehr geleistet werden. Sozialarbeiterinnen und Sozialpädagogen
werden dauernd gezwungen, die Qualitätsstandards der Profession zu unterbieten. Das schürt nicht nur Unzufriedenheit, sondern bringt sie nicht selten in Gewissensnöte oder mit einem Bein ins Gefängnis.

Schutz der Kinderrechte heute ist aber zugleich wirksame Gewalt-prävention auf Zukunft hin. Denn, so der Sicherheitsbericht der Bundesregierung, „vor allem jene jungen Menschen, die als Kinder unzureichend gefördert wurden, hohen Belastungen ausgesetzt waren und selbst Opfer von Gewalt wurden, weisen ein erhöhtes Risiko langfristig krimineller Entwicklung“ auf. Auch deshalb bedürften die Opfer „unserer gesteigerten Aufmerksamkeit und Zuwendung“ (Kurzfassung, 57).

Prävention ist nicht nur humaner, weil sie Leid verhindert, sie ist langfristig auch ökonomisch vernünftiger. Angesichts dessen, was mit dem Wohl von bedrohten Kindern auf dem Spiel steht, müssen darum die Einnahmen- und Ausgabenseite sowie die Prioritätensetzung der öffentlichen Haushalte einer erneuten strengen Prüfung unterzogen werden.

Wer immer noch meint, der Begriff „Kindeswohl“ sei ein unbestimmter Rechtsbegriff und damit insinuiert, es handele sich um einen unbrauch- baren juristischen Terminus, der ignoriert die (menschen-)rechtliche Entfaltung, die er inzwischen erfahren hat. „Ein am Wohl des Kindes (…) ausgerichtetes Handeln wäre demzufolge dasjenige Handeln, das die an den Grundbedürfnissen und Grundrechten von Kindern orientierte jeweils am wenigsten schädigende Handlungsalternative wählt“ (Jörg Maywald, Kindeswohl und Kindesrechte, in: Frühe Kindheit Nr. 4/2002). Das Elternrecht, so schlägt Maywald vor, sollte deshalb ausschließlich als pflichtgebundenes, treuhänderisches Recht verstan- den werden, das seine Grenze am Wohl des Kindes findet. „Elternrecht heißt heutzutage vor allem Elternverantwortung.“ Dies sei mit einem dicken Ausrufezeichen zu versehen.

Andreas Lienkamp
aus: HERDER KORRESPONDENZ 61 2/2007

Prof. Dr. theol.habil. Andreas Lienkamp ist Professor für theologisch-ethische Grundlagen Sozialer Arbeit an der Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin KHSB und lehrt am ICEP - Berliner Institut für christliche Ethik und Politik