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Kinder mit Besonderheiten im Schulalltag
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Pflegekinder und Adoptivkinder sind keine „besonderen“ Kinder in der Schule – sie sind jedoch Kinder mit Besonderheiten, da die Meisten von ihnen mit schwierigen, oft dramatischen und traumatisierenden Lebenserfahrungen in die Pflege- oder Adoptivfamilie gekommen sind. Besonders die Erfahrungen in den ersten Lebensmonaten bis zum zweiten Lebensjahr „brennen“ sich ein und bestimmen die Sicht des Kindes auf die Welt – bestimmen die Sicht auf Erwachsene und darauf, ob sich das Kind auf diese verlassen kann oder sich von ihnen verlassen fühlt.
In der Pflege-/Adoptivfamilie bekommt das Kind die neue Chance, verlässliche Eltern zu erleben. Kann es diese Chance ergreifen, kann es sich wieder einlassen auf Liebe? Kann es sich fallen lassen, vertrauen? Kann es eine Bindung, eine Beziehung eingehen?
Pflegekinder wollen Bindungen, wollen Nähe und Beziehung – und schaffen es oft nicht. Sie haben Angst wieder verlassen zu werden, haben kein Vertrauen, leben in unsicheren Verhältnissen, wissen nicht, ob sie in ihren neuen Familien bleiben können oder nicht, müssen sich immer wieder mit dem Erlebten auseinandersetzen.
Sie fühlen sich oft allein gelassen und nicht beschützt. Bevor sie noch mal „den Bach runter gehen“ lassen sie sich erst gar nicht auf Beziehungen ein – oder nur ganz vorsichtig, mit immerwährenden Prüfsteinen und permanenter Erschütterung. Sehr geschädigte Kinder gehen diesen Weg nicht mehr. Sie haben zu viel Angst und fühlen sich zu sehr bedroht. Pflegeeltern können nur Beziehungs-Angebote machen, den Schritt hin zu den Pflegeeltern gehen muss das Kind selbst.
Manche Lehrer fragen, warum das Kind immer noch so schwierig ist wo es doch schon so lange in der Pflegefamilie lebt – aber sich Einlassen auf eine Beziehung ist nicht unbedingt eine Frage der Zeit für das Pflegekind, sondern mehr eine Frage seiner Entwicklung und seines Mutes; denn Mut gehört dazu, sich wieder auf Erwachsene verlassen zu wollen.
Lernen geht nur über Beziehung
Für Lernen und Schule sind Bindung und Beziehungen jedoch von elementarer Bedeutung.
Neueste neurobiologische Studien zeigen:
Entscheidende Voraussetzung für das gute Funktionieren unserer Motivationssysteme ist das Interesse, die soziale Anerkennung und die persönliche Wertschätzung, die einem Menschen von anderen entgegengebracht werden. Kinder erhalten dies durch ihre persönlichen Beziehungen zu ihren Bezugspersonen, (Eltern oder anderen engen Angehörigen und natürlich auch Pflege- und Adoptiveltern), aber auch zu Lehrern, Trainern u.a.
Nur dort, wo sich Bezugspersonen für das einzelne Kind persönlich interessieren, kommt es in diesem zu einem Gefühl, dass ihm eine Bedeutung zukommt, dass das Leben einen Sinn hat und dass es sich deshalb lohnt, sich für Ziele anzustrengen. Kinder und Jugendliche haben ein biologisch begründetes Bedürfnis, Bedeutung zu erlangen.
Ohne die ihnen zufliegende Beachtung können sie keine Motivation aufbauen und sich auch insgesamt nicht gesund entwickeln.
An der Art und Weise, wie die Kinder von ihren Eltern und Lehrern wahrgenommen werden, erkennen sie nicht nur, wer sie selbst sind, sondern vor allem auch, wer sie sein könnten, das heißt, worin ihre Potenziale, Entwicklungsmöglichkeiten und Fähigkeiten bestehen.
Das heißt das Kinder – und im besonderen Maße auch Pflegekinder – Menschen brauchen, die an sie glauben, unbeirrt und vertrauensvoll den Weg der Kinder mitgehen, ihre Stärken hervorheben und ihre Schwächen akzeptieren.
Im Bereich der Schule ist dies offensichtlich jedoch schwierig, was nachfolgend beschriebene Studie zeigt:
In dieser Studie haben von Freyberg/ Wolff die Konfliktgeschichten nicht beschulbarer Kinder und Jugendlichen wie folgt beschrieben:
Bei allen Jugendlichen ließen sich schwere und frühe Traumatisierungen und Bindungsstörungen nachweisen.Durchgängig haben diese Jugendlichen gravierende frühe emotionale Mangelerfahrungen machen müssen, die ihre soziale Lernfähigkeit entscheidend verletzten, genauer: prägten.
Während diese Jugendlichen nicht selten über eine überdurchschnittliche Intelligenz verfügen, müssen sie dort als geradezu "lernbehindert" angesehen werden, wo geforderte Lernprozesse notwendig verbunden sind mit der Reorganisation von Wissen und Können, mit dem Verzicht auf frühere Gewissheiten, mit Irritation und Verunsicherung.
Die emotionalen und sozialen Probleme solcher korrigierenden und neu strukturierenden Lernprozesse verlangen ein Mindestmaß an Neugierde, Differenzierung und Anstrengungsbereitschaft und die Fähigkeit, Angst, Hilflosigkeit und Unsicherheit auszuhalten. Und genau dazu sind diese Jugendlichen kaum in der Lage.
Unkontrollierbare Lernsituationen reaktivieren bei diesen Jugendlichen frühe Ohnmachterlebnisse; darauf reagieren sie mit panischen Ängsten vor Entwertung oder Vernichtung - und dagegen mobilisieren sie mit existentieller Entschlossen-heit ihre Strategien der Angstabwehr.
Das macht diese Jugendlichen so unangreifbar und unberührbar: Sie scheinen "autonom", unabhängig von der Zustimmung oder Kritik der Erwachsenen, unabhängig aber auch von allen Angeboten der Hilfe oder Förderung. Diese schwierigen Jugendlichen stoßen zweitens auf ein "schwieriges" Schulsystem, das mitverantwortlich ist für die eskalierenden Macht-Ohnmacht-Spiralen in den untersuchten Konfliktgeschichten.
Das mit Abstand größte Schulhindernis in der schulischen Realität ist eine mangelhafte soziale Kompetenz des Schülers. Es gelingt einer wachsenden Zahl von Schülern nicht mehr, sich in eine Gruppe einzupassen und mit anderen gut auszukommen. Die grundlegende Voraussetzung zur optimalen Entfaltung der Lernmöglichkeiten eines Kindes ist seine Bindungssicherheit – und gerade bei Kindern mit Vernachlässigungs- und Gewalterfahrungen zeigen sich Bindungsstörungen.
Das Bindungsbedürfnis aber bleibt. Hier liegt die große Chance von Pflegefamilien:
In einem stabilen sozialen Umfeld mit geordnetem Tagesablauf lernen die Kinder vielleicht erstmals in ihrem Leben überhaupt Sicherheit kennen. Hier können sie innere Arbeitsmodelle entwickeln, in denen Erwachsene als schützende und tröstende Figuren auftauchen. Gleichzeitig bringen Pflegekinder gerade auch ihre Erwartungen aus den bisherigen inneren Arbeitsmodellen mit, nämlich abgelehnt, bedroht, verlassen oder beschämt zu werden. Im Zuge des Bindungsaufbaues in der Pflegefamilie holen die Kinder viele Entwicklungsrückstände (aber eben nicht alle) auf. Damit steigen auch ihre Fähigkeiten, die Schule durchzustehen.
Aber dafür brauchen die Kinder Zeit, Geduld und das besondere Verständnis der sie umgebenden Erwachsenen.
Pflegekinder sind aufgrund ihrer Lebensgeschichte unterschiedlich entwickelt. Einerseits können sie „überleben“ und haben gelernt, Kontrolle über ihr Leben zu übernehmen – andererseits sind sie emotional unterentwickelt und oft wie Kleinkinder. Ein Kind mit belastenden Lebenserfahrungen kann demnach einerseits altersgemäß sehr weit entwickelt sein – wenn es dies zum Überleben braucht – und andererseits schwere Mangelerscheinungen und Entwicklungsdefizite haben.
Verhalten von Pflegekindern in der Schule
Von Pflegeeltern und Lehrern wurden nachfolgende Punkte als besondere Auffälligkeiten von vielen Pflegekindern benannt:
Auffällig, unruhig, störend, angriffig, aggressiv
Die beiden stärksten Vorhersagefaktoren für Gewalttätigkeiten bei Heranwachsenden sind selbst erlebte Gewalt und fehlende persönliche Bindungen.
Bedeutsam hierzu ist auch das Wissen darüber, dass Kinder auch dann traumatisiert werden, wenn sie nicht selbst misshandelt wurden aber Gewalttätigkeiten gegenüber einer für sie wichtigen Person ( z.B. Mutter, andere Geschwister) hilflos zusehen mussten.
Schulen sind weder die Quelle noch die Ursache für das bei Jugendlichen beobachtende Aggressions- und Gewaltpotenzial, sie sind jedoch das Terrain, auf dem es ausgelebt wird. Umso wichtiger ist es aber, dass Schulen das Gefühl von Jugendlichen, ausgesondert zu sein, nicht noch weiter verstärken.
Aufmerksamkeit einfordern
Viele Pflegekinder haben große Angst, übersehen zu werden, keine Rolle zu spielen, nicht wichtig zu sein. Sie wissen nicht ob sie gemocht werden und sind unsicher in ihrer Rolle in der Klasse. Sie haben kein positives Selbstwertgefühl und fühlen sich minderwertig.
Wenn jedoch ein Kind eine engere Beziehung zu seinem Lehrer eingeht, dann wird dieses Kind dem Lehrer gegenüber schwieriger. Es hat bisher überwiegende Erfahrungen von Ablehnung gemacht und es glaubt, dass auch der Lehrer es letztendlich ablehnen wird – wenn es sich nur als schwierig genug darstellt. Es vertraut dem Lehrer nicht wirklich und will die Grenze kennen lernen, an dem auch der Lehrer es ablehnen wird. Wie die Pflegeeltern im Rahmen der Pflegefamilie muss nun auch der Lehrer deutlich unterscheiden zwischen der Persönlichkeit des Kindes und der Art und Weise wie es sich ihm gegenüber verhält. Es ist wichtig, dass es gelingt, weiterhin die Person des Kindes zu achten, sein Verhalten aber als störend und schwierig zu bezeichnen und klare Grenzen zu setzen.
Konzentrationsprobleme
Viele Pflegekinder haben eine schwierige Vergangenheit zu bewältigen, müssen sich mit so viel Ungewohntem und Neuen auseinandersetzen und leben dazu oft noch in unsicheren Perspektiven mit schwierigen Besuchskontakten.
Sie müssen über so vieles nachdenken und so vieles für sich geregelt bekommen. Es gibt daher eine Menge Dinge, die diese Kinder als wirklich wichtiger empfinden als Schule und Lernen.
Darüber hinaus haben Pflegekinder häufig Beeinträchtigungen durch ADHS, FAS u.a. und dadurch Konzentrationsprobleme.
Angst, zu versagen
Unsicherheit und häufig auch Überanpassung lässt viele Kinder ihre eigenen Möglichkeiten nicht erkennen. Sie befürchten Strafe und Verlassenwerden. Pflegerkinder sind Kinder mit großen Ängsten, die schnell bereit sind die Schuld für die Handlungen der Erwachsenen bei sich zu suchen.
Können nicht zuhören, nicht verstehen; nicht nachvollziehen
Aufgrund der schwierigen Vorgeschichten der Pflegekinder und der sich daraus entwickelten Überlebensstrategieen sind Wahrnehmungsprobleme eine der häufigsten Beeinträchtigungen von Pflegekindern. Sie können nur begrenzt oder selektiert wahrnehmen.
Darüber hinaus kommen viele Kinder aus Familien, in denen nicht viel gesprochen wurde. Sprache an sich ist ungewohnt, es gibt unterschiedliche Begrifflichkeiten in der ersten Familie, der Pflegefamilie und der Schule. Daher verstehen die Kinder die Erwachsenen und andere Kinder schlicht nicht.
Klauen, zerstören
„Du sollst nicht stehlen“ ist eine Wertvorstellung.
Um Werte erkennen und übernehmen zu können, muss der Mensch selbst sich wertvoll fühlen und als wertvoll angesehen werden. Viele Pflegekinder kennen dieses Gefühl nicht – oder erlernen es gerade mühselig. Es fällt ihnen daher schwer, Werte überhaupt zu verstehen und erst recht, Werte zu werten.
Darüber hinaus nimmt das Kind in den ersten Lebensjahren die Wertvorstellungen seiner Umgebung auf. Pflegekinder, die schon älter waren, als sie in die Pflegefamilie gekommen sind, haben andere Werte verinnerlicht, als die für ein soziales Verhalten jetzt notwendigen.
„Warten können“ ist z.B. ein Wert, der soziales Verhalten erleichtert. Pflegekinder jedoch sind stark Impuls gesteuert, können nicht warten und müssen sofort das bekommen, was sie haben wollen – denn sie haben ein Grundmangelgefühl und selten das Empfinden genug zu bekommen.
Vergesslichkeit
Hier spielen neben der Wichtigkeit, die das Kind dem schulischen Lernen generell beimisst auch Beeinträchtigungen des Kindes eine Rolle wie beispielsweise ADHS und häufig auch Alkoholschädigungen (FAS – Fetales Alkoholsyndrom). FAS zeigt sich besonders in Teilleistungsstörungen und gerade im Bereich des Kurzzeit- und Langzeitgedächtnisses.
Realistische Einschätzung
Den Kindern fällt es schwer, Menschen und Dinge realistisch einzuschätzen. Das bezieht sich auch auf sie selbst. Sie können ihre Leistung nicht einschätzen, wissen nicht, wie der Lehrer zensieren oder reagieren wird. Sie haben „Freunde“ – jeden Tag neue und erkennen nicht, wie ihr Verhalten sich auf andere auswirkt. Sie sind dadurch sehr verführbar und durch andere „benutzbar“.
Vorausschauen nur gering ausgeprägt
Es fällt Kindern schwer, Ergebnisse und Konsequenzen zu verstehen und in die Zukunft zu schauen. Hier und jetzt – das ist ihr Lebensraum. Ältere Kinder dagegen können schon planen und Pubertierende können Zukunftsideen entwickeln – den Pflegekindern fällt dies sehr schwer. Zukunft und die Entwicklung in der Zukunft ist für sie schwer vorstellbar. Daher geben in die Zukunft weisende Gedankenanregungen Erwachsener auch keine Motivation für die Kinder und Jugendlichen (z.B. wenn du jetzt nicht lernst, bekommst du keine Lehrstelle)
Besonders unverständlich sind solche Ermahnungen für Kinder, die ihrem biologischen Alter nach nicht altersgemäß entwickelt sind und sich emotional mehr in einer Kleinkindphase befinden.
Leistungsverweigerung
Leistungsverweigerung ist ein Ausdruck von Überforderung - Schulangst – Versagungsängste – Verwirrung darüber, was eigentlich gefordert wird, aber auch Überbelastung mit anderen existentiellen Fragen, die das Kind beschäftigen (z.B. muss ich gehen oder kann ich bleiben). Manches (z.B. Lernen und Schule) hat für das Pflegekind auch eine andere Bedeutung und vieles Schulisches ist für das Kind nicht wichtig.
Gefühle anderer werden nicht erkannt
Aufgrund ihrer Lebensgeschichte leiden Pflegekinder wie bereits erwähnt unter Wahrnehmungsproblemen. Schwere Vernachlässigungen und Gewalterfahrungen führten diese Kind dazu, ihre Gefühle erkalten zu lassen, sie nur noch wenig oder gar nicht mehr wahrzunehmen, um das Leid überhaupt überleben zu können (Überlebensstrategien).
Das Kind muss nun in der Pflege/Adoptivfamilie erst seine Gefühle wieder zulassen, oft erst wieder erlernen. Erst wenn das Kind seine Gefühle erfahren hat und verstehen kann, kann es die Gefühle anderer verstehen – denn Gefühle für andere sind Spiegelungen eigener Gefühle.
können Grenzen nicht wahrnehmen
Grenzen müssen von Menschen gesetzt werden.
Kinder wachsen in der ihnen vertrauten Umgebung mit den dort gültigen Gesetzen wie selbstverständlich auf. Sie haben diese Grenzen dann nach einer gewissen Zeit in sich aufgenommen.
Pflegekinder erleben in ihren Ursprungsfamilien entweder keine Grenzen (Vernachlässigung) oder strengste Grenzen (Gewalterfahrungen). Kommt das Kind in eine Pflegefamilie, muss die Pflegefamilie daher erst einmal ihre eigenen Grenzen deutlich machen, diese dann klar formulieren und auf deren einhalten bestehen. Das Kind kennt diese Grenzen nicht und muss sie erst einmal erkennen.
Ebenso ist es in der Schule. Je größer das innere Chaos des Kindes ist, desto deutlicher müssen die äußeren Grenzen und Strukturen sein. Erst durch Sicherheit, Beziehung, Klarheit und Erfahren von konsequentem Verhalten kann das Kind Grenzen wahrnehmen und sie dann auch übernehmen.
Sozialverhalten
Soziales Verhalten ist ein oft mühsamer Weg. Soziales Verhalten bedingt Selbstwertgefühl und Sicherheit, Anerkennung und Toleranz. Selbstwertgefühl und Sicherheit haben unsere Pflegekinder oft nicht, sie sind mit überleben und bewältigen beschäftigt. Erst wenn sie zur Ruhe und zur Bindung gefunden haben, können sie sich auch anderen gegenüber sozial verhalten.
Pflegekinder erleben so etwas wie eine „Doppelmoral“, denn einerseits haben sie Schlimmes von Erwachsenen angetan bekommen, andererseits erleben sie nicht, dass die Eltern dafür zur Rechenschaft gezogen werden. „Warum ist meine erste Mama nicht im Gefängnis nach dem was sie mir angetan hat“ fragte ein siebenjähriges Pflegekind seine Pflegemutter. In solchen Situationen ist es für Pflegeeltern oder Lehrer besonders schwierig, soziales Verhalten und gerechtes miteinander Umgehen zu vermitteln.
Pflegekinder brauchen daher im Alltag:
- Sicherheit und Angstfreiheit
- Regeln (Regelmäßigkeit) und Verlässlichkeit
- Verständnis und Ruhe
- Zeit, Kind sein zu dürfen
- Genügend Aufmerksamkeit
- Konkrete, direkte und angemessene Ansprache
- Geduld und die Erlaubnis, sich ausklinken zu dürfen
- Wertschätzung
Schulmüdigkeit und Schulverweigerung
Schulmüdigkeit hat fast nie einzelne, klar zu identifizierende Ursachen. Allermeistens gibt es eine längere Vorgeschichte; sie schlägt nicht ein 'wie ein Blitz'. Sie ist das Ergebnis eines langen Weges des Hineinschlitterns mit möglichen Wende-punkten, an dessen Zustandekommen mehrere Systeme beteiligt sind.
Schulmüdigkeit äußert sich in passivem Rückzug und innerer Emigration, in 'Torpedierung' des Unterrichts, in aktivem Widerstand gegenüber Erwartungen und Regeln oder im latenten bzw. manifesten Fernbleiben vom Schulunterricht.. Wahrgenommen wird seitens der Schule vor allem das auffällige Verhalten, das den reibungslosen Ablauf des Schulalltages nachhaltig behindert.
Und in der Tat ist das eine Seite der Medaille:
Jungen und Mädchen tragen Herausforderungen und Schwierigkeiten ihres alltäglichen Lebens in die Schule und bringen damit – je nach Intensität – den geregelten Lauf des Tages mitunter völlig durcheinander, indem sie die gesamte Klasse 'aufmischen'.
In der Schule beginnen die Muster der Kinder bedrohlich zu werden, wenn Lehrerinnen und Lehrer sich überfordert fühlen, und auch von anderen Kindern und Eltern darauf angesprochen werden z.B. nicht mit dem 'Störer’ zusammensitzen zu wollen.
Die Probleme nehmen zu, die Schule gibt eine 'letzte Warnung’; hilft auch dies nicht, droht die Nichtversetzung oder gar die Einleitung eines sonderpädagogischen Verfahrens.
Oftmals steht am Ende einer solchen Kette der Wechsel auf eine Sonderschule: Das Kind ist hier nicht mehr tragbar.
Neben der Ausgrenzung und dem damit verbundenen Orts- und Beziehungswechsel ist die bleibende Erfahrung für ein Kind: Ich habe es nicht geschafft, ich mache Probleme, ich bin nicht gut genug, ich muss gehen.
Zwei Dinge sind an diesem Verhalten der Professionellen hoch problematisch:
- der Mangel an Verstehen und der Logik von 'schwierigem' Verhalten
- der unzureichende Blick auf Wahrnehmungs-, Deutungs- und Bearbeitungsprozesse
Werden Gründe und Funktionen von auffälligem Verhalten nicht ausreichend verstanden und zunächst akzeptiert schiebt sich die störende Symptomatik in den Vordergrund.
Professionelles Verstehen für Lebenssituationen aber auch das emotionale „sich berühren lassen“ sowie ein erweiterter Blick auf Lebenskontexte und darin steckende Ressourcen können dazu führen, dass als ‚besonders schwierig’ erlebte Kinder plötzlich anders wahrgenommen werden und Bereitschaft entsteht, sie – ggf. in Kooperation mit anderen Partnern – im System zu unterstützen.
PflegeELTERN und Schule
Gefühle der Pflegeeltern bei Schulproblemen
Schule ist ein wichtiges und umfassendes Thema in der Pflegefamilie. Oft nimmt es in seiner Bedeutung überhand und beeinflusst in erheblichem Maße die Beziehung der Pflegefamilie untereinander.
Bei zu viel Mühen fühlen Pflegeeltern Enttäuschungen:
Sie fühlen sich von der Schule enttäuscht und allein gelassen
- Kind fällt durch alles Netze – keine Schule passt
- fühlen sich als Pflegeeltern nicht wirklich ernst genommen
- werden nicht als Partner akzeptiert
Sie fühlen sich vom Lehrer enttäuscht
- er/sie weiß nicht was ein Pflegekind ist
- gibt dem Kind ein Pflegekind-Bonus obwohl es doch ganz normal behandelt werden sollte
- versteht und beachtet die Vorgeschichte und deren Auswirkungen auf das Kind nicht
- hat falsche Methoden
- hat falsche Erwartungen an die Pflegeeltern
Sie fühlen sich vom Jugendamt enttäuscht
- sie erwarten mehr emotionale Unterstützung
- sie erwarten mehr finanzielle Unterstützung
- sie erwarten mehr direkte Unterstützung durch
- gemeinsame Gespräche mit Lehrern und den Beratern
- sie erwarten mehr konkrete Hilfen
- sie erwarten mehr Bestätigung
- sie erwarten, dass das Jugendamt den Druck der Schule auf sie und das Kind vermindert
Sie sind enttäuscht vom Pflegekind
- sie können das Verhalten des Kindes nicht nachvollziehen
- sie fühlen sich vom Kind verraten
- sie haben das Gefühl, dass das Kind sie vorführt
- sie geben den Druck, den sie empfinden an das Kind weiter.
Wenn es in der Schule funktioniert empfinden die Pflegeeltern dies als Bestätigung ihrer Bemühungen.
Pflegeeltern sind nicht für alles zuständig
Das Aufwachsen eines Kindes in einer Pflegefamilie wird besonders dann gut gelingen, wenn sich nicht nur die Pflegeeltern für alles zuständig fühlen, sondern wenn es ein „Erziehungsbündnis“ ein „Team um das Kind herum“ gibt, welches gemeinsam die Verantwortung für das Kind übernimmt.
Die Pflegeeltern sind absolut vorrangig zuständig für eine mögliche Bindung und Förderung von Beziehungen. Wenn Kind und Pflegeeltern hier Fortschritte machen können, ist es das Beste, was die Pflegefamilie für Lernen und Schule des Kindes beisteuern können.
Jugendamt, Betreuer, Vormund und Helfer sind dafür da, dem Kind Sicherheit, Beständigkeit und Zuverlässigkeit zu vermitteln und ihm somit die Chance zum Lernen zu öffnen.
Schule und Lehrer haben ihre Aufgabe im Bereich der Persönlichkeitsbildung und des Lernens für das Kind – es geht nur zusammen.
Pflegeeltern und Adoptiveltern sollten sich daher nicht scheuen, dieses Erziehungsbündnis auch anzuregen und von dessen Richtigkeit und Notwendigkeit aus zu gehen und entsprechende Vorstellungen deutlich zu machen.
Die erste und beste Hilfe besteht in der Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrern. Die Erfahrungen zeigen, dass Pflegeeltern/Adoptiveltern im hohen Maße gut zusammen arbeiten und damit dem Kind die Schulsituation erleichtern.
Was sollte die Schule über das Kind wissen?
Hier gehen die Meinungen sehr auseinander. Gar nichts? Alles?
Das Kind muss in der Schule und die Schule mit dem Kind klar kommen. Informationen über das Kind sind dann notwendig, wenn ein Verhalten des Kindes dieses „Klar kommen“ erschwert. Hier geht es besonders um das Verständnis und den Rückhalt des Lehrers.
Besonders wichtig ist die Meinung des Kindes. Was möchte es, das die anderen von ihm wissen? Gibt es etwas, dass ihm besonders schwer fällt?
Hier schulden die Erwachsenen dem Kind Vertrauen und auch Vertraulichkeit. Die Geschichte eines Kindes ist seine Geschichte – und nur dann (in Teilen) preiszugeben, wenn ansonsten das Leben des Kindes noch schwerer würde.
Ein Lehrer einer weiterführenden Schule meinte:
Ich will gar nicht wissen, ob ein Kind ein Pflegekind ist oder nicht. Der andere Name ist heutzutage kein Indiz mehr dafür. In meiner Schule sollen die Kinder Verantwortung über-nehmen und Selbstständigkeit erlernen, da ist es egal ob ein Kind ein Pflegekind ist oder nicht. Ich will mir erst mal meinen eigenen Eindruck machen.
Manchmal erfahre ich erst später, dass ein bestimmtes Kind ein Pflegekind ist. Dieses Kind war nie besonders auffällig, so dass ich es auch nicht wissen musste. Und dann denke ich: was hat das Kind doch für gute Pflegeeltern, weil es sich so unauffällig in der Schule verhalten kann.
Wenn wir in der Schule jedoch Disziplinarmaßnahmen verhängen müssen, dann müssen wir natürlich wissen, wie die rechtlichen Verhältnisse des Kindes sind, ob es z.B. einen Vormund hat. In solchen Fragen hatten wir auch noch nie Schwierigkeiten mit Pflegeeltern.
Rechtliche Position der Pflegeeltern in der Schule
In der Praxis des Pflegekinderwesens wird unterschieden zwischen den Grundentscheidungen und den Alltagsentscheidungen.
Die Personensorgeberechtigten (leiblichen Eltern oder Vormund bzw. Pfleger) haben die Grundentscheidungen zu fällen.
In Fragen der Schule wäre dies z.B. die Entscheidung über die Schulform die das Kind besucht. (Regelschule, Förderschule, kirchliche Schule, Private Schulen etc.)
Diese Entscheidungen werden im Rahmen einer immer fortzuschreibenden Hilfeplanung des Jugendamtes vom Sorgeberechtigten in Absprache mit den Pflegeeltern und dem Jugendamt getroffen.
Gemäß § 1688 BGB vertreten dann die Pflegeeltern den Sorgeberechtigten in allen Alltagsentscheidungen.
Alltagsentscheidungen sind also alle Entscheidungen, die im Alltag von Bedeutung sind z.B. Schulpflegschaft, Arbeitskreise, Elternabende, Lehrergespräche, Zeugnisunterschriften.
Veränderungen der Schulform, intensive Schulpsycholo-gische Begleitung, notwendige Stellungnahmen oder Therapien wiederum können nur in Absprache mit dem Personensorgeberechtigten und seiner Zustimmung erfolgen.
Erfahrungen von Pflegeeltern mit der Hausaufgabenbetreuung
Pflegeeltern erzählten, dass die Hausaufgabenbetreuungen sehr zeitintensiv und anstrengend waren, besonders weil die Kinder kein Durchhaltevermögen hatten und beständig wieder an die Arbeit geholt werden mussten.
„Wir hatten den Motor zwar angestellt, aber wir mussten immer wieder auf den Anlasser drücken“
Die Hausaufgabenerledigung bedurfte auch einer ziemlichen Nervenkraft:
- immer wieder kleine Schritte wiederholen
- immer wieder feststellen, dass einmal Gelerntes wieder vergessen war
- immer wieder motivieren
- immer wieder auf Ablenkungen achten
- immer wieder beim Lernen einen Bezug zum Alltag des Kindes finden mit Beispielen und Ideen
- immer wieder Anstrengung loben
- immer wieder (manchmal 3 Stunden) am Tag sich mit Hausaufgaben beschäftigen
- immer wieder …. – immer wieder …..
Allein konnten die Kinder die Schulaufgaben nicht bewältigt bekommen. Es musste nachgeholt werden was morgens in der Schule gelernt war, damit die Kinder es besser kapierten.
Die Pflegeeltern mussten eigentlich immer anwesend sein, weil es sonst Verzögerungen und Ablenkungen gab.
Wenn die Kinder in der Schule dann erfolgreich waren, waren sie zufrieden und glücklich – und doch ging die Mühseligkeit am Nachmittag wieder weiter. Der Zusammenhang von gut gemachten Hausaufgaben und Erfolg in der Schule wurde den Kindern kaum klar.
Fühlten die Kinder sich in der Pflegefamilie gut und sicher, dann sahen sie die unermüdliche Hilfe der Pflegeeltern oft auch als Zuwendung an - erst recht wenn die Pflegeeltern dabei gelassen aber konsequent blieben.
Verunsicherte Kinder fühlten sich schneller unter Druck gesetzt und stellten die Beziehung der Pflegeeltern zu ihnen infrage. Hier sollten die Pflegeeltern darüber nachdenken, Hausaufgabenhilfe durch Dritte in Anspruch zu nehmen –z.B. durch ältere Schüler, Studenten etc. Bei entsprechend begründeten Anträgen werden diese Kosten vom Jugendamt meist übernommen.
Hilfsmöglichkeiten bei Schulproblemen
Private Schulen
Viele Pflege – und Adoptivkinder sind aufgrund ihrer Besonderheiten in privaten Schulen gut aufgehoben. Die oft andere Form der Ansprache und Methoden hilft den Kindern, sich besser zu recht zu finden.
Hier spielt besonders die Waldorfschule eine wichtige Rolle. Wir erleben Pflegekinder auch in Montessorieschulen oder sog. Freien Schulen.
Das Jugendamt übernimmt nicht automatisch die Kosten für eine solche Schule. Nur im Rahmen von klaren auf die Bedürfnisse des Kindes hin abgestimmten Begründungen entsprechender Anträge des Personensorgeberechtigten für das Pflegekind kann das Jugendamt die Kosten einer Privatschule übernehmen. Meist wird dazu auch noch eine Erklärung der zuständigen Regelschule erwartet.
Die Entscheidung über eine eventuelle Förderung des Kindes durch eine Privatschule wird im Rahmen der Hilfeplanung erarbeitet und gefasst.
Hilfen für das Kind in der Schule
Notwendige Hilfen für zu fördernde Kinder in der Schule obliegen erst einmal vorrangig der Schule selbst. Erst wenn die Schule keine Möglichkeiten hat oder sieht, kann die Jugendhilfe die Förderungsmaßnahmen übernehmen.
Nachhilfeunterricht:
Mit einer Erklärung der Schule über die Notwendigkeit von Nachhilfeunterricht können entsprechen Kostenübernahme-Anträge gestellt werden. Nachhilfeunterricht ist sinnvoll bei Lücken im Wissen des Kindes. Nachhilfeunterricht ist keine Hausaufgabenhilfe.
Integrationshelfer
Für diesen Bereich gibt es neben dem u.a. Bundesgesetz SGB XII auch in jedem Land Landesverordnungen. Darüber hinaus hat das Schulamt in Fragen der Integrationshilfe in einer Regelschule oder Übergang in eine Förderschule die maßgebliche Rolle.
SGB XII § 54 Leistungen der Eingliederungshilfe
(1) Leistungen der Eingliederungshilfe sind neben den Leistungen nach den §§ 26, 33, 41 und 55 des Neunten Buches insbesondere
1. Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung, insbesondere im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht und zum Besuch weiterführender Schulen einschließlich der Vorbereitung hierzu; die Bestimmungen über die Ermöglichung der Schulbildung im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht bleiben unberührt.
Unter diese Maßnahmen lässt sich auch der Einsatz von Integrationshelfern fassen.
Für den Sozialhilfeträger (Eingliederungshilfe) spricht auch, dass die individuelle Betreuung durch nicht fachlich qualifiziertes Personal (einfache Handreichungen durch Zivis) den generellen Lebensbedarf betrifft und unabhängig vom Schulbesuch anfällt. Sie ist damit keine Leistung der Schule.
In den meisten Fällen werden Integrationshelfer durch die Eingliederungshilfe finanziert. Es gibt keine klare Regelung, aber einige Urteile.
Hier zwei Urteile aus der Rechtsdatenbank von moses-online.de
Nachrangigkeit der Eingliederungshilfe?
Im Urteil des OVG Münster heißt es: "Hat die Schulaufsichts-behörde eine Grundschule zum Förderort für die sonder-pädagogische Förderung eines behinderten Kindes bestimmt, kann das Sozialamt gegenüber dem Kind die Übernahme der Kosten für den betreuenden Zivildienstleistenden im Wege der Eingliederungshilfe nicht unter Berufung auf den Nachranggrundsatz des § 2 Abs.1 BSHG mit der Begründung ablehnen, es könne anstelle des integrativen Unterrichts eine Sonderschule besuchen. Ein eventueller Anspruch des Kindes gegen den Schulträger ist nur dann vorrangig, wenn er rechtzeitig durchgesetzt werden kann."
Wenn die Betreuung durch den Schulträger nicht sicher-gestellt wird (werden kann), muss eine Finanzierung durch den Sozialhilfeträger geprüft und bedarfsdeckend geleistet werden, denn der Bedarf wird ja tatsächlich nicht gedeckt und die Eltern haben aufgrund des Schulrechts keine Möglichkeit, einen Anspruch gegenüber dem Schulträger durchzusetzen. Daher greift der Nachrangigkeitsgrundsatz der Sozialhilfe nicht.
Siehe auch die Informationen zu Nachrangigkeitsgrundsatz und Vorleistungspflicht unter Eingliederungshilfe: Nachrangigkeit greift nur, wenn es sich um "bereite" Mittel handelt.
Quelle: Homepage des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, www.lwl.org/LWL/Jugend/Schulen/integru/integr_recht/