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12.06.2023
Fachartikel

Nur ein Bild

Peters Jugendamtsakte war sehr dünn. Magere Sätze beschrieben einen Sorgerechtsentzug wegen Gewalt, Übertragung des Sorgerechtes auf einen Vormund, eine Unterbringung in einem Heim und später in eine Pflegefamilie. Zu Peters Herkunftsfamilie bestand keinerlei Kontakt, von keinem.

Vor vielen Jahren lernte ich den neunjährigen Peter kennen, der seit gut drei Jahren in einer Pflegefamilie lebte. Er war also mit sechs in die Familie gekommen. Er war angepasst in der Familie, bekam jedoch hin und wieder aggressive Ausfälle die er gegen Dinge richtete. Das war wie Luft ablassen, dann ging es wieder eine zeitlang.

Die Pflegeeltern befürchteten, dass die Aggressionen sich steigern und sich eventuell auch mal gegen Personen richten würden und so bekam ich vom Jugendamt den Auftrag, Peter eine zeitlang zu begleiten.

Peter war erfreut, er nahm mich sofort in Beschlag. Er hatte klare Vorstellungen, was er von mir wollte und sein erster sofort geäußerter Wunsch war: „Kannst Du mir ein Bild von meiner Mutter oder meiner Familie besorgen?“

Es stellte sich heraus, dass seine Pflegeeltern sehr wenig von ihm wussten. Das zuständige Jugendamt wusste auch wenig, die Übergabeakte des damals vermittelnden Jugendamtes für das nun zuständige Amt war sehr dünn. Magere Sätze beschrieben einen Sorgerechtsentzug wegen ständiger Streitigkeiten und Gewalt der Eltern, eine Unterbringung in einem Heim und nach einem Jahr in der Pflegefamilie. Es hatte in all den Jahren keinerlei auch nur irgendwie gearteten Kontakt von Peter zur Herkunftsfamilie gegeben.

Biografiearbeit war damals noch nicht in aller Munde. Es waren Kinder wie Peter, die uns lehrten, wie wichtig diese Arbeit werden würde.

Peter machte mir deutlich, dass in ihm ein Loch sei – schwarz, leer. Er fühlte sich einsam, verlassen. Er lebte in der Pflegefamilie und es war o.k., dass er dort war, aber er fühlte sich dort nicht wirklich zu Hause. Wenn der Druck zu groß wurde, schlug er um sich – wurde großspurig, arrogant, bedrohlich.

Wir machten uns auf den Weg. Es drängte ihn, mir von sich zu erzählen – nichts von der Pflegefamilie, sondern von vorher. Er berichtete von einer Familie, die es so nicht gegeben haben konnte – das war sogar den mageren Blättern der Akte zu entnehmen. Er erinnere sich genau, sagte er, und erfand Hoffnungen. Ich hörte ihm zu und nach einer Weile brachte ich uns in die Gegenwart zurück, in dem ich ihm berichtete, was ich alles unternommen hatte, um endlich an ein Bild seiner Mutter oder Familie zu kommen. Es war ein mühseliges Unterfangen – und es interessierte ihn brennend. Jeder Schritt wurde vermerkt, jede neue Möglichkeit mehrfach hin und her gewogen. Das Bild wurde fast unerreichbar.

Aber er brauchte etwas, dass es begreifen konnte, anfassen konnte. Er sehnte sich nach Realem – er wollte seine Geschichte nicht mehr erfinden.

In den mageren Unterlagen fand ich auch seinen Geburtsort. Es war ein kleiner Ort und wir beschlossen, ihn aufzusuchen. Wir spazierten durch den Ort und kamen an das einzige Krankenhaus. Es war davon auszugehen, dass er hier geboren war. Das beglückte ihn. Ich hatte einen Fotoapparat mitgebracht und er fotografierte das Krankenhaus von allen Seiten. Er fotografierte den Eingang, den Parkplatz, alles.

Als die Fotos entwickelt waren, klebten wir sie auf Blätter und hefteten sie in einen Ordner. Es war ein Anfang, der Anfang seines Buches.

Dann wurde er erfinderisch. Beim nächsten Mal erklärte er, dass er sich an die Wohnung erinnern könne, in der er damals mit seinen Eltern gewohnt hätte und er begann einen Wohnungsplan zu malen. Erst klein, dann auf mehreren Blättern großzügig verteilt, malte er die Wohnung mit Diele, Bad, Schlafzimmer, Kinderzimmer und Wohnzimmer. Ich muss wohl etwas ungläubig ausgesehen haben, denn er versicherte mir, dass dies so war und erklärte mir jeden Raum und manchmal auch Details in den Räumen.

Ich muss gestehen, dass mich Zweifel packten, ob dies wirklich so war in der Wohnung – aber spielte das eine Rolle? War er nicht dabei nach besten Kräften seine Lebenslücken zu füllen und begann mit dem, was ihm jetzt möglich war?

Natürlich kamen die Wohnungszeichnungen in seinen Ordner.

Dann malte er einen kleinen Bär – das sei sein Kuscheltier gewesen. Auch in den Ordner.

Immer wieder schaute er sich die Wohnungszeichnungen an und eines Tages erzählte er, dass Papa und Mama ganz laut geschrieen hätten und er im Kinderzimmer dann große Angst hatte. Manchmal sei er aufgestanden, um Mama zu helfen, die geschrieen habe und dann hat Papa auch ihn verprügelt. „Weißt du, es war wirklich so“ sagte er mit erstickter Stimme. Ich erzählte ihm von den mageren Akten und das genau dies auch dort vermerkt sei. Er wirkte einerseits sehr erleichtert, andererseits aber sehr bedrückt - wollte aber nicht weiter sprechen.

Beim nächsten Treffen saß er schweigsam und verkrampft da. Mürrisch sah er mich an und meinte, er wäre zuhause wieder ausgerastet.
Da machte ich mit ihm einen Spaziergang. Ich wohnte damals dicht an einem Wald und so konnten wir uns nach einer Weile auf einen Baumstamm setzen. Ich erzählte ihm, dass ich auch andere Pflegekinder kennen würde, die ebenfalls von ihren leiblichen Eltern geschlagen worden waren und deswegen nun in einer Pflegefamilie leben würden. Von diesen Kindern wüsste ich, dass sie glaubten, dass sie schuld an dem Ganzen seien. Sie seien so böse gewesen - glaubten sie - , dass den Eltern nichts anderes übrig geblieben sei, als sie immer wieder zu schlagen. Deswegen sei es wohl recht und billig, dass sie nun nicht mehr bei denen leben würden.

Peter saß unbeweglich und hörte sehr aufmerksam zu. Dann meinte er leise: „Ich muss ja ganz schrecklich gewesen sein, denn sie wollen noch nicht mal mehr was von mir wissen und mir auch noch nicht mal ein Bild von sich geben“.

Natürlich versuchte ich ihm zu erklären, dass nicht Kinder schuld sind und das Erwachsene so etwas doch nicht mit Kindern machen dürfen – aber es glitt an ihm ab. Worte waren nicht das, war er brauchte. Er brauchte einen Beweis– er brauchte das Bild.

Inzwischen hatten wir den Ordner etwas aufgefüllt. Es gab ein Bild des Heimes, es gab ein Bild und einen kleinen Bericht der Sozialarbeiterin, die ihn in die Pflegefamilie gebracht hatte. Es gab Kopien der Zeugnisse, es gab Bilder der Pflegefamilie – aber das Wesentliche fehlte, das wussten wir beide.

Peter war inzwischen zehn Jahre alt geworden. Über sechs Monate trafen wir uns schon. Dann kam eines Tages der erlösende Brief mit zwei Fotos. Einem Babyfoto von Peter und einem Foto seiner Mutter. Dazu ein Brief der Sozialarbeiterin am Wohnort der Mutter, dass die Mutter nicht bereit gewesen se, etwas zu schreiben, aber wenigstens die Fotos gegeben hätte.

Welch eine Stunde, als Peter die Fotos in Empfang nahm. Ich hatte jedes Foto noch zweimal kopiert. Die Originalfotos klebten wir – endlich – in seinen Ordner. „Das Baby, das bin ich – ich!“ Sagte er immer wieder, er streichelte das Bild. „ Sie haben mir die Fotos gegeben, sie kennen mich noch, sie wollen noch was mit mir zu tun haben“ so fasste er all seine Erleichterung zusammen.

Peter stimmte dann einer Therapie bei einer Kinderpsychologin zu und meine Zeit mit ihm war zu Ende.

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