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Pflegekinder und ihre Entwicklung ins Erwachsenenleben
Wenn Pflegekinder in Pflegefamilien aufgenommen werden, dann wünschen sich alle Beteiligten, dass dies für das Kind eine richtige, gute, förderliche und gewissermaßen eine gewinnbringende Entscheidung ist. Eine Entscheidung, die es dem Kind möglich machen wird, später als Erwachsener oder Erwachsene eine Position im Leben zu haben, die es ermöglicht selbstbestimmt und zufrieden leben zu können.
Um dies überhaupt möglich zu machen, gibt es eine Vielzahl von Faktoren, die dieses Vorhaben erleichtern oder erschweren können. Faktoren, die sich aus verschiedenen Quellen speisen und manchmal einzeln, aber meist in einem engen Zusammenhang wirksam werden.
Welche Faktoren sind bedeutsam:
- das Kind und seine eigenen Ressourcen und Möglichkeiten,
- das Kind und seine bisherige Lebenserfahrung,
- das Kind und seine Erfahrungen in der Pflegefamilie,
- die Herkunftsfamilie des Kindes,
- die Pflegefamilie in ihrer Art zu leben, zu handeln, zu akzeptieren, zu verstehen,
- die Pflegefamilie und ihre Bewältigung von Krisen,
- die passende Vermittlung von Kind und Pflegefamilie,
- die fachkundige Beratung und Begleitung von Pflegekind, Pflegefamilie und Eltern,
- die gegenseitige Akzeptanz von Pflegeeltern und Herkunftseltern,
- das Vermeiden von Brüchen und der Versuch von passablen Übergängen,
- die Konzentration auf den Bedarf des Pflegekindes,
- offene Augen, offene Ohren und Herzen, die sich berühren lassen,
- weitere …
Wir alle können die Zukunft nicht vorhersagen. Wir können jedoch die Zukunft eines Kindes durch eine helfende Gegenwart positiver beeinflussen.
Ist die Pflegefamilie für das Kind ein guter und möglicher Faktor, der ihm die Möglichkeit zur Entfaltung seiner Persönlichkeit gibt? Was wissen wir über Kinder, die in Pflegefamilien aufgewachsen sind?
In den letzten Jahren hat es eine Vielzahl von Studien zur Pflegekinderhilfe und zu den Bedingungen und Möglichkeiten von Aufwachsen in Pflegefamilien gegeben. Verschiedene Universitäten haben Studien erarbeitet und auf dem Gebiet geforscht. Institute und Fachleute haben Handbücher und Fachliteratur herausgegeben.
Besonders interessant dabei ist natürlich immer die Frage „Wie haben sich Pflegekinder entwickelt?“. Was wissen wir darüber, wie sie nach einem längeren Verbleib in einer Pflegefamilie weiter leben? Viel gelernt haben wir dazu durch Interviews mit inzwischen erwachsenen ehemaligen Pflegekindern und durch Berichte von Pflegeeltern.
In den nachfolgenden Auszügen aus Studien habe ich einen besonderen Augenmerk auf die Entwicklung von Pflegekindern in der Pubertät und im Erwachsen-Sein und auf die geäußerte Meinung dieser jungen Menschen gelegt.
Auszüge aus: "Pflegekinder, Adoptivkinder und Heimkinder in der Kinder- und Jugendpsychiatrie" von Dr. med. Falk Burchard
Die Situation vieler Pflegekinder in der Praxis
Wenn Kinder, die in den ersten 1-2 Lebensjahren meist ja noch nicht vom öffentlichen Jugendhilfe- oder Gesundheitssystem wahrgenommen wurden, dann im Alter von 2-4 Jahren erkannt und aus den Ursprungsfamilien in Pflegefamilien gegeben wurden, setzt äußerlich zunächst oft eine Stabilisierung und ein schnelles Aufholen von Entwicklungsdefiziten ein. Die Pflegefamilien feiern zunächst oft schnelle Entwicklungserfolge.
Dennoch sind viele Pflegekinder psychisch hoch belastet. Die Grafik der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Basel zeigt, dass die psychische Belastung von Pflegekindern, gemessen mit der Child behavior Checklist (CBCL) circa in 65 % der Fälle im auffälligen Bereich, und in über 30 % im hoch auffälligen Bereich liegt. Bei Heimkindern liegen die Ergebnisse noch etwas höher. Weiter fand sich ein signifikanter Unterschied zwischen Kindern mit und ohne interpersonelle traumatische Erfahrungen in Bezug auf ihr Bindungsverhalten.
Auch hat die Anzahl der Betreuerwechsel einen signifikanten Einfluss auf die Symptombelastung. Pflegekinder mit mehr Betreuerwechseln zeigen eine stärker ausgeprägte Symptomatik als mit weniger Wechseln. Es fand sich auch eine Gruppe von in ihren Ursprungsfamilien besonders stark traumatisch belasteten Pflegekindern, die sowohl eine höhere psychische Belastung in der CBCL als auch höhere Auffälligkeiten in ihrem Bindungsverhalten zu den Pflegeeltern aufwiesen.
Besonders schwer sequenziell traumatisierte Kinder und Jugendliche scheitern oft in herkömmlichen Angeboten der stationären Jugendhilfe und in Pflegefamilien, so dass Wechsel erforderlich werden. Die Arbeit mit schwer traumatisierten Kindern ist sehr belastend, pädagogische Mitarbeiter, Pflegeeltern und Therapeuten benötigen hierzu besonders intensive Unterstützung. Viele fremdplazierte Kinder durchlaufen heute eine ganze Anzahl an Pflegefamilien oder Heimplatzierungen, mit gravierenden negativen Folgen für ihre Bindungsentwicklung. Eine besonders hohe Abbruchrate von Pflegeverhältnissen datiert in der Pubertätszeit.
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Bindungserhalt zu den Pflegeeltern in der Pubertätsphase
An dieser Stelle entsteht dann oft ein ganz elementares Missverständnis. In dem Moment, wo die Pflegefamilie als künftiger Lebensort für das Pflegekind ernsthaft infrage gestellt wird, ist sie oft schon fast nicht mehr legitimiert, sich um ihr Pflegekind weiter zu kümmern. Das Engagement der Pflegefamilie wird dann mit der offiziellen Beendigung des Pflegeverhältnisses sang- und klanglos zur Privatsache und damit administrativ entwertet. Für die Pflegefamilie, die ja ihrerseits in einer negativen Dynamik mit dem Kind steht, ist diese Entlassung aus der Verantwortung ein klares Signal, sich von dem Kind weiter zu entfernen. Damit verliert der Jugendliche aber weiter emotionale Sicherheit, die er gerade in dieser Situation dringend benötigen würde, selbst wenn er zur Zeit, wie viele andere Jugendlichen auch, dagegen opponiert.
Ich habe immer wieder Jugendliche gesehen, die mit ihren Pflegeeltern vollständig gebrochen hatten, weil sie sich zu viel von ihren Herkunftseltern versprachen und dann zum wiederholten Mal herbe enttäuscht wurden, ganz alleine dastehen und viel darum geben würden, wenn sie ihre Pflegeeltern noch hätten.
Eine wesentlich bessere Möglichkeit besteht darin, das Pflegeverhältnis auf jeden Fall auch administrativ bestehen zu lassen und so die Pflegeeltern als wichtige Bezugspersonen für das Kind verfügbar zu halten, unabhängig davon, wie genau die Perspektive einer faktischen Rückkehr in die Pflegefamilie aussieht und ob und wann eine solche denkbar ist oder nicht. Dies würde Pflegekind und Pflegeeltern das Erleben des Scheiterns ersparen und eine spätere Wiederaufnahme des Kontaktes ermöglichen. Dem Pflegekind bliebe der Rückhalt, wenn es ihn dann abrufen würde. Letztlich bedeutet das Wegbrechen des Rückhaltes langjähriger Pflegeeltern eine erneute Entwurzelung des Jugendlichen, die sich dann häufig in dem was folgt, manifestiert, nämlich nur noch weitere Abbrüche und Wechsel.
Die Möglichkeit, auf die Pflegefamilie wieder zurück zu greifen, sobald es die Entwicklung wieder zulässt, dürfte auch wirtschaftlich günstiger ausfallen als die ansonsten meist nachfolgende Odyssee in die Entwurzelung mit Intensiv- und Individualmaßnahmen im Ausland.
Die wichtigste Frage liegt in dieser Situation nämlich gar nicht darin, wo und wie der Jugendliche in allernächster Zeit betreut wird, sondern darin, wie dem Jugendlichen seine bisherigen Sicherheiten erhalten werden können, auch wenn sich die Betreuungssituation, vielleicht ja nur zeitlich begrenzt, aufgrund angestiegener Anforderungen verändern muss. Bindung ist teilbar. Teilbar mit einem neuen Betreuungssetting und auch teilbar mit der Herkunftsfamilie. Bindung muss nicht da wohnen heißen.
Bindungserhaltende Arbeit in der Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie würde bedeuten, dem Jugendlichen seine Pflegefamilie zu erhalten, wenngleich vorübergehend vielleicht auch nicht als Lebensmittelpunkt. Warum sollte eine Pflegefamilie nicht, analog zu einem Kind, das ursprünglich bei leiblichen Eltern gelebt hat und in eine Einrichtung der Jugendhilfe wechselt, auch für ein Pflegekind sein „zu Hause“ bleiben können, wo es in den Ferien hinfahren kann, sein Zimmer und seine wichtigsten Bezugspersonen hat ?
Auch wenn die Lebenssituation noch mal grundlegend geändert werden müsste, weil das Pflegeverhältnis vollständig zerrüttet ist, sollte ein planvoller und geordneter Übergang in eine neue stabile Bindungssituation konstruktiv gestaltet werden. Dabei werden häufig zu-sätzliche Ressourcen bis hin zur vorübergehenden Fremdunterbringung in einer intensivpä-dagogischen Einrichtung der Jugendhilfe notwendig.
Wie gut entwickeln sich Pflegekinder? - Studie der Universität Siegen von Daniela Reimer und Corinna Petrie.
Vorstellung der Studie durch Daniela Reimer
Der 18. Geburtstag – ein Tag, an dem sich für viele Pflegekinder alles ändert. Die offiziellen Jugendhilfemaßnahmen enden meistens, die Jugendhilfe bietet keine Beratung oder Unterstützung mehr an, weder für Pflegekinder, noch für Pflegefamilien. Die Jugendlichen müssen Geld verdienen, sich versichern, die richtige Ausbildung oder das richtige Studium finden. Viele sind auf sich allein gestellt. Wie meistern die jungen Erwachsenen diese turbulente Zeit? Wie geht es ihnen Jahre später? Und sind die starren Strukturen der Jugendhilfe wirklich sinnvoll? Das erforschen Dr. Daniela Reimer und ihre KollegInnen von der Forschungsgruppe Pflegekinder der Universität Siegen im Rahmen einer Langzeitstudie.
In Deutschland ist diese Studie einmalig. Das Besondere: Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen kommen selbst zu Wort und werden mit zeitlichem Abstand wiederholt befragt. Reimer und ihr Team führten zunächst 100 biografische Interviews, in denen es um die gesamte Lebensgeschichte der Betroffenen ging. „Jedes Interview hat viele Stunden in Anspruch genommen und war sehr intensiv“, berichtet Reimer. Nach vier bis acht Jahren hat das Team 15 der Interviewten erneut befragt, um zu sehen, wie sie sich entwickelt haben. „Ich finde es erstaunlich, dass in Deutschland vor uns niemand im Rahmen einer Langzeitstudie nachgeforscht hat, was aus den Pflegekindern geworden ist. Die Gesellschaft steckt in das System so viel Zeit, Geld und Arbeit. Da sollten wir doch erfahren, ob das richtig eingesetzt ist und was man wie verbessern kann“, findet Reimer.
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Pflegekinder lösen sich oft von schwierigen Startbedingungen
Die Zeit zwischen 18 und 30 Jahren sei eine besonders turbulente. Junge Erwachsene müssten ihre Werte ausloten und sich fragen, an wem sie sich orientieren wollen, und von wem sie sich gegebenenfalls abgrenzen möchten. In dieser ohnehin schweren Zeit sollen die jungen Erwachsenen auch noch wichtige Entscheidungen treffen, zum Beispiel bei der Familienplanung oder der Berufswahl. Oft verlaufe der Start ins Arbeitsleben holpriger als bei jungen Erwachsenen, die bessere Startbedingungen und leibliche Eltern als Stütze haben. „Einige der Interviewten haben ein paar Anläufe gebraucht, um wirklich zufrieden mit ihrer Wahl zu sein. Manche haben zum Beispiel mit Mitte 20 nochmal ein Studium begonnen, weil sie mit ihrem Ausbildungsberuf nicht zufrieden waren“, sagt Reimer.
Häufig seien diese schwierigen Phasen der Suche nach Orientierung aber zeitlich begrenzt. „Wir sehen ganz klar, dass es vielen Pflegekindern gelingt, sich von ihren schwierigen Startbedingungen zu lösen, und ein erfolgreicheres und zufriedeneres Leben zu führen als ihre leiblichen Eltern“, bekräftigt Reimer. Dies verdankten die Pflegekinder auch der guten Beziehung zur Pflegefamilie sowie der Unterstützung und Förderung, die sie in diesem Rahmen erlebt haben. Viele hätten außerdem als Erwachsene eine gute Beziehung zu ihren ehemaligen Pflegeeltern. Die zentrale Bedeutung der Pflegefamilien für die gute Entwicklung unterstreiche, dass Pflegeeltern eine wichtige Ressource für die Kinder und für unsere Gesellschaft darstellen.
Auszüge aus der Studie: "Wie gut entwickeln sich Pflegekinder"
Abschnitt – Die eigene Entwicklung des Pflegekindes
Botschaften der jungen Erwachsenen für Pflegeeltern und Fachkräfte:
Bündelt man die aus dem Interviewmaterial hervorgehenden Aussagen der heute erwachsenen, ehemaligen Pflegekinder in Botschaften an Pflegeeltern, dann könnten diese folgendermaßen lauten:
- Ermutigt und stärkt das Pflegekind frühzeitig – idealerweise über das gesamte Pflegeverhältnis – eine gute Schullaufbahn einzuschlagen. Auch wenn es oft keine Lust auf Schule hat und alles Mögliche wichtiger erscheint.
- Helft dem Pflegekind sorgfältig einen Beruf auszuwählen, in dem seine Persönlichkeit und Fähigkeiten zur Geltung kommen können.
- Stülpt dem Pflegekind nicht eure eigenen Vorstellungen einer erfolgreichen Bildungs- und Berufskarriere über, sondern wägt gut ab, was zu dem Kind, mit seiner Geschichte und seinen Fähigkeiten passt.
- Akzeptiert, dass das Leben als junger Erwachsener nicht geradlinig verläuft, sondern manchmal auch in Kurven und mit Schleifen. Das ist bei den meisten Menschen so. Umso mehr bei Pflegekindern.
- Seid offen für die Lebensstile der Pflegekinder und tolerant gegenüber dem, was euch fremd ist.
- Akzeptiert, dass sich die Pflegekinder nicht nur von Euch Pflegeeltern lösen müssen um erwachsen werden zu können, sondern auch von der Herkunftsfamilie. Das kann anstrengend sein und die Pflegekinder brauchen Unterstützung dabei
Abschnitt: Bedeutung der Herkunftsfamilie
Botschaften der (jungen) erwachsenen Pflegekinder an Pflegeeltern und Fachkräfte:
Wenn man die Aussagen der heute erwachsenen, ehemaligen Pflegekinder, die aus dem Interviewmaterial hervorgehen, kurz und bündig in Botschaften an die Pflegeeltern bringen möchte, dann könnten diese folgendermaßen lauten:
- Lasst Pflegekinder selbst entscheiden, zu wem sie gehören möchten und wer zu ihnen gehören soll.
- Setzt Pflegekinder nicht unter Druck, sich mit ihrer Herkunft auseinander zu setzen. Akzeptiert, dass dies manchmal erst im Erwachsenenalter erfolgt.
- Sagt die Wahrheit, aber verzichtet darauf, die genetische Abstammung schlecht zu machen. Steht stattdessen mit Rat und Tat zur Verfügung, wenn (erwachsene) Pflegekinder Fragen haben und Hilfe brauchen.
- Wenn ihr Informationen über wichtige Veränderungen in der Herkunftsfamilie erhaltet, zum Beispiel dass noch ein Geschwisterkind geboren wurde, dann gebt sie an die Pflegekinder weiter, es ist wichtig für sie, davon zu wissen.
Abschnitt: Entwicklung der Beziehung zur Pflegefamilie -
Gute Pflegefamilie auch bei holpriger Entwicklung der Beziehung?:
Was macht also vor dem Hintergrund dieser Ausführungen eine gute Pflegefamilie aus? Kann die Pflegefamilie auch dann – sich selbst und auch von Außenstehenden – als gute Pflegefamilie begreifen, wenn die Entwicklung des Pflegekindes im jungen Erwachsenenalter an einigen Stellen oder auch über einen längeren Zeitraum schwierig oder holprig verläuft?
Im vorliegenden Projekt konnten wir nur mit den erwachsenen Pflegekindern sprechen, allerdings gehen wir – auch aus den Schilderungen der Pflegekinder – fest davon aus, dass die eskalierenden Konflikte, die manche Pflegekinder beschreiben und die teilweise auch zu Kontaktabbrüchen geführt haben, auch für Pflegeeltern eine massive Belastung darstellen. Sicher ist, dass die Pflegeeltern diese Belastung auf unterschiedliche Weise bewältigen und dafür Deutungen finden müssen. Wie gut oder schlecht sie die Situation(en) bewältigen und welche Deutungen sie finden, hängt sicherlich auch mit ihrer eigenen Biografie sowie ihrem Lebensumfeld zusammen. Bei manchen werden sicherlich Zweifel an ihrer Eignung als Pflegeeltern auftreten, vielleicht werden manche das gesamte Projekt Pflegekind – und damit auch einen Teil ihres eigenen Lebensentwurfs – in Frage stellen; andere werden die Schwierigkeiten möglicherweise im jungen Erwachsenen, seinen Genen, seiner Vorgeschichten
verorten – und wieder andere vielleicht in den unzureichenden Strukturen für benachteiligte junge Menschen. Aber eine Deutung brauchen alle. Diese Suchbewegungen treten, wenn das Pflegekind bereits im jungen Erwachsenenalter ist, für die Pflegeeltern zu einem Zeitpunkt auf, zu dem der Pflegekinderdienst strukturell nicht mehr für reflektierende Beratungsgespräche zur Verfügung steht – obgleich wir aus Gesprächen mit Fachkräften wissen, dass dort wo langjährige Vertrauensbeziehungen zwischen Pflegeeltern und Fachkräften gewachsen sind, diese gelegentlich in schwierigen Situationen auch nach der offiziellen Beendigung des Pflegeverhältnisses noch als Ansprechpartner dienen – in quasi ehrenamtlicher Funktion.
Aus den Entwicklungslinien der jungen Erwachsenen, mit all ihren Turbulenzen, möchten wir dafür werben, bei holprigen Entwicklungen des Pflegekindes weder das Pflegeverhältnis, noch das Pflegekind, noch die Pflegefamilie bzw. die Pflegeeltern in Frage zu stellen. Vielmehr gehen wir davon aus, dass Konflikte nicht immer vermeidbar sind und für alle Seiten – Pflegeeltern wie Pflegekinder – Entwicklungspotential bergen. Mehrmals wurde betont, dass es für die Beziehung zwischen Pflegeeltern und Pflegekindern keine gesellschaftlich anerkannten Normen gibt und die Beteiligten deshalb herausgefordert sind, gemeinsam eine eigene Basis für ihre Beziehung zu finden. Dieser Findungsprozess kann ganz unauffällig vonstattengehen oder sich – zum Beispiel wenn die Vorstellungen von der Beziehung weit auseinandergehen oder wenn eine Seite intransparent kommuniziert – konfliktreich darstellen.
Als besonders chancenreich erscheinen die Turbulenzen in der Beziehung zwischen Pflegekind und Pflegeeltern dann, wenn • es eine konstruktive Auseinandersetzungen miteinander, dem Konflikt, fest gefahrenen Meinungen und Haltungen gibt. Dies eröffnet Möglichkeiten, neue Wege und eine ganz eigene Form der Beziehungsgestaltung zwischen Erwachsenen finden zu können.
- die Pflegeeltern an der Beziehung festhalten, auch wenn es zeitweilig schwierig war oder ist. Dies bedeutet, dass das Beziehungsangebot stets aufrechterhalten wird, auch bei zeitweiligen Kontaktabbruch. Das Festhalten an der Beziehung und das Aufrechterhalten des eziehungsangebots gibt den jungen Erwachsenen Sicherheit, dass die Beziehung nicht aufgrund eines Streits oder Konflikts vollständig gefährdet ist, sondern dass sie gerade daran reifen kann. Auch wenn sich die Beziehung im jungen Erwachsenenalter prinzipiell so entwickeln sollte, dass beide Seiten gleichermaßen für das gelingende Miteinander Verantwortung tragen, so werben wir dafür, dass die Pflegeeltern in der Konfliktsituation bereit sind, ein mehr an Verantwortung zu tragen und eine Offenheit für das Pflegekind zu bewahren.
Botschaften der jungen Erwachsenen für Pflegeeltern und Fachkräfte
Wenn man die Aussagen der heute erwachsenen, ehemaligen Pflegekinder, die aus dem Interviewmaterial hervorgehen, kurz und bündig in Botschaften an die Pflegeeltern bringen möchte, dann könnten diese folgendermaßen lauten:
- Betrachtet Veränderungen und auch Turbulenzen bis zu einem gewissen Ausmaß als Teil des jungen Erwachsenenlebens. Hinterfragt nicht bei jeder Krise des Pflegekindes, ob ihr gute Pflegeeltern wart und seid.
- Akzeptiert, dass Pflegekinder im jungen Erwachsenenalter das Bedürfnis haben können, sich zurückzuziehen. Das hat weniger mit der Pflegefamilie zu tun, als vielmehr mit dem Pflegekind selbst. Der Abstand kann helfen, sich selbst zu finden, deshalb ist er in manchen Situationen besonders wichtig.
Handlungsbedarfe in Praxis und Jugendhilfepolitik, die sich aus der Studie ergeben
Aus der vorliegenden Studie ergeben sich konkrete Handlungsbedarfe in der Praxis der Pflegekinderhilfe und der Jugendhilfepolitik:
- Das Beenden der Jugendhilfe mit 18 oder spätestens 21 Jahren erweist sich als hoch problematisch, weil es den Lebensrealitäten vieler Pflegekinder entgegensteht (vgl. Sievers et al. 2015). Gerade für die Bewältigung des relativ wenig strukturierten Übergangs ins Erwachsenenleben ist ein fließender Übergang, der sich an den individuellen Bedarfen orientiert zwingend notwendig. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Pflegekinder brauchen im Pflegekinderdienst auch nach dem offiziellen Ende der Jugendhilfe einen Ansprechpartner und es muss zumindest im Einzelfall die Möglichkeit geben, eine Unterbringung in einer Pflegefamilie auch über das 21. Lebensjahr zu gewähren.
- Auch Pflegeeltern brauchen über das offizielle Ende der Pflegekinderhilfe hinaus Ansprechpartner im Pflegekinderdienst, die sie durch die Turbulenzen mit dem Pflegekind begleiten und unterstützen. Es ist deutlich, dass eine gelingende Beziehung zur Pflegefamilie auch im jungen Erwachsenenalter ein wichtiger nachhaltiger Gelingensfaktor für eine gute Entwicklung des Pflegekindes ist, aber dass diese Beziehung durchaus anfällig für Turbulenzen ist. Die Pflegekinderhilfe – und die Jugendhilfe im Allgemeinen – darf Pflegeeltern in dieser Situation nicht alleine zurücklassen, sondern muss Strukturen schaffen, in denen eine Beratung von Pflegefamilien, auch über das Pflegeverhältnis hinaus möglich ist.
- Die Stabilisierung vs. Destabilisierung der Herkunftsfamilie erweist sich als wichtiger Einflussbereich für die Entwicklung des Pflegekindes, auch in langfristiger Perspektive. Dennoch vernachlässigt die Jugendhilfe bis heute die Arbeit mit der Herkunftsfamilie. Hier besteht ebenfalls dringender Handlungsbedarf. Die Begleitung der Herkunftsfamilien, ihre Unterstützung und Beratung mit dem Ziel der dauerhaften Stabilisierung muss stark intensiviert werden. Gleichzeitig müssen strukturelle Barrieren, die Ungleichheit befördern und Exklusion verstärken, abgebaut werden.
Handbuch „Pflegekinderhilfe in Deutschland“ - Erschienen im Mai 2011
Auszug - Entwicklungsverläufe bei Pflegekindern und früheren Pflegekindern im Erwachsenenalter
International kann auf mindestens sieben größere und zudem aktuelle Längsschnittstudien zum Entwicklungsverlauf von Pflegekindern zurückgegriffen werden. […]
Die Befunde sind aufgrund teilweise deutlicher Unterschiede zum System der deutschen Pflegekinderhilfe – insbesondere höherer Raten an Rückführungen und Adoptionen aus Pflegeverhältnissen heraus und generell mehr Wechseln bei den Pflegestellen – sicher nicht ohne weiteres übertragbar.
Vorsichtig lassen sich aber zumindest drei Schlussfolgerungen ziehen:
- Kurz- und mittelfristig zeigen sich im Verlauf der Unterbringung bei Pflegekindern als Gruppe deutliche Verbesserungen, etwa bezogen auf das schulische Verhalten, den Entwicklungsstandoder die Belastung durch Verhaltensauffälligkeiten.
Die Verbesserungen sind bei einem stabilen Pflegeverhältnis deutlicher als bei einem instabilen, wobei bereits etablierte ausagierende Verhaltensauffälligkeiten bei einem Teil der Kinder zur Chronifizierung neigen und in der Folge manche Pflegeverhältnisse überfordern.- In Befragungsstudien schildern Pflegekinder nach einiger Zeit, d.h. nach zwei bis fünf Jahren, deutlich mehr Verbundenheit mit den Pflegeeltern und gestiegene, selbst eingeschätzte Beziehungsfähigkeiten. Zudem wächst der Anteil befragter Kinder, die sich einen langfristigen Verbleib in der Pflegefamilie wünschen.
- Im langfristigen Verlauf wird sichtbar, dass die insgesamt positiven Veränderungen in der Gesamtgruppe der Pflegekinder nicht für alle gleichermaßen gelten. Vielmehr zeigen sich Untergruppen von Kindern, die auf einen positiven Entwicklungsverlauf einschwenken, ebenso wie Gruppen von Kindern, die, wenn auch in geminderter Form, emotional und in ihrer Beziehungsfähigkeit labil bleiben. Auch negative Verläufe mit eskalierenden Autoritätskonflikten, Abbrüchen oder einem inneren Rückzug des Kindes sind erkennbar.
Zudem zeigen amerikanische Befunde, dass ein Pflegekindersystem, das Kindern wenig Stabilität bieten kann, langfristig häufig auch viel Schaden anrichtet.
Eine kritische Bewährungsprobe für die Pflegekinderhilfe stellt sich, wenn frühere Pflegekinder im jungen Erwachsenenalter weitgehend auf eigenen Füßen stehen und sich erweisen muss, inwieweit sie genügend Selbstvertrauen, Selbstbestimmung und Arbeits- sowie Beziehungsfähigkeiten erworben haben, um im Erwachsenenleben zu bestehen.
International liegen vor allem mehrere amerikanische Studien vor, die hohe Raten an psychosozialen Problemen und psychischen Erkrankungen berichten, vor allem aber darauf hindeuten, dass eine substanzielle Minderheit früherer Pflegekinder in instabilen Partnerschaften lebt, wenig geplant und früh Kinder bekommt, mit denen ein Zusammenleben dann teilweise nicht gelingt.
Außerhalb der USA hat vor allem eine schwedische Forschungsgruppegrößere Gruppen früherer Pflegekinder im Erwachsenenalter untersucht. Allerdings beziehen sich diese Untersuchungen auf Kinder, die erst am Ende der mittleren Kindheit bzw. im Jugendalter in einer Pflegefamilie untergebracht wurden. Waren der Unterbringungsgrund massive Verhaltensauffälligkeiten des Kindes bzw. Jugendlichen gewesen, so waren im Alter von 25 Jahren nur ein Drittel der jungen Frauen und ein Fünftel der jungen Männer weder psychisch krank, noch straffällig noch von sozialer Unterstützung abhängig. Lagen andere Unterbringungsgründe vor (z.B. eine Misshandlung des Kindes oder ein Tod der leiblichen Eltern) war die Prognose günstiger. Etwas mehr als die Hälfte der jungen Frauen und etwas weniger als die Hälfte der jungen Männer waren dann bislang in keiner der beschriebenen Weisen auffällig geworden. Vermutlich sind die langfristigen Befunde bei Kindern, die jünger und für längere Zeit untergebracht wurden, günstiger, jedoch ist nicht bekannt in welchem Umfang.
In mehreren Studienwurden frühere Pflegekinder, die das Erwachsenenleben gut meisterten, danach gefragt, was ihnen aus ihrer Sicht hierbei geholfen hatte. Teilweise betonten die früheren Pflegekinder dabei innere Stärken, wie etwa Selbstvertrauen oder die Fähigkeit, sich Ziele zu setzen. Teilweise wurden Unterstützung und Verständnis durch die Pflegeeltern, aber häufig auch durch andere Erwachsene, etwa Therapeutinnen oder Mentoren, benannt.
Bezogen auf Deutschland ist derzeit nicht ausreichend klar, wie häufig und gut durch Hilfe zur Erziehung in Form der Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie Lebensverläufe langfristig positiv beeinflusst werden können. Die Befunde zu Entwicklungsverläufen in der Kindheit erscheinen teilweise ermutigend, auch im Vergleich zu anderen Hilfen.