Sie sind hier
Selbstschädigung und Bedeutung
Themen:
von Richard M. L. Müller-Schlotmann
Wenn sich Pflege- und Adoptiveltern in Selbsthilfegruppen oder in Gruppen treffen, die von Jugendämtern initiiert werden, geht es häufig darum, Erfahrungen mit Pflegekindern und Adoptivkindern auszutauschen, die eigene Belastung loszuwerden oder einfach zu hören, dass es anderen Pflege- und Adoptiveltern nicht anders ergeht oder ergangen ist. Die liebevolle Zuwendung, die soziale Eltern ihren Kindern entgegenbringen, stößt im Alltag häufig an Grenzen. Da tut es gut, den eigenen Ärger oder die verspürte Überforderung loszuwerden, Tipps für einen anderen Umgang mit dem Kind zu bekommen und für die nächste Zeit aufzutanken. Vielfach geht es darum, das Kind zu verstehen. Kaum ein anderes Thema entpuppt sich dabei als so fesselnd, wie selbstverletzendes, weiter gefasst: selbstschädigendes Verhalten von Kindern und Jugendlichen.
Mummendey (2000) stellt das Selbstbild des sich selbst schädigenden Menschen in den Mittelpunkt seiner Betrachtung. Es ist die Bedeutung, die Kinder und Jugendliche sich selbst geben, die sie zumindest zu einem Teil dazu veranlasst, sich selbst zu schädigen. Diese Bedeutung erhalten sie - auch - aus der sozialen Umwelt, vor allem aus der, die für sie von Bedeutung ist: vor allem den leiblichen Eltern und den sozialen Eltern. Dabei spielen nicht nur konkrete Beziehungserfahrungen in der Familie eine gewichtige Rolle (Müller-Schlotmann 1977a). Geuter (2003) fasst einige Ergebnisse zusammen, die zeigen, dass bereits vorgeburtliche Erfahrungen sich auf das Selbstbild des Menschen auswirken können. Nicht nur Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenmissbrauch können einschneidende Folgen für die weitere Entwicklung des Kindes haben, auch Unfälle, Misshandlung im Mutterleib, Abtreibungsversuche oder falsche Ernährung beeinflussen die Entwicklung des Kindes und seine Einstellung zur Umwelt und sich selbst. Konkrete Abtreibungsversuche können offenbar erheblich zu Ängsten und selbstverletzendem Verhalten beitragen.
Mehr und mehr rücken weitere, eher psychische Faktoren in den Mittelpunkt der Betrachtung. Belastungen der Mutter durch die Trennung vom Partner oder Tod eines engen Angehörigen können, ebenso wie die Angst vor der Schwangerschaft oder der Geburt, Folgen für das Kind haben, konkret messbar an unruhigem Verhalten des Fötus oder einem erhöhten Risiko von Fehlgeburten. Sogar die "Muster von "sicherer", "ambivalenter" oder "vermeidender" Bindung (sind) schon ab dem zweiten Schwangerschaftsdrittel stabil", zitiert Geuter (2003, S. 23) Ergebnisse der österreichischen Psychologen Reiter und Niederhofer.
Die von Geuter aufgeführten Studien zeigen, dass auch vorgeburtliche Erfahrungen möglicherweise im "Hintergrunderleben des Erwachsenen erhalten" (Geuter 2003, S. 25) bleiben und sich in niedrigem Selbstwertgefühl oder in Selbsthass äußern können. "Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen", überschreibt Weiß (2003) ein ganzes Kapitel, und diskutiert darin das Körpergedächtnis. Geräusche und Gerüche sind mit manchmal abgespalteten Episoden der eigenen Lebensgeschichte verbunden und scheinen "Macht über Erleben und Verhalten in der Gegenwart zu bekommen (Weiß 2003, S. 45). Erinnerungen an traumatische Situationen werden nicht immer in Worte gefasst, manchmal sogar wegen ihrer Bedrohlichkeit abgespalten, vergessen. Aber sie werden manchmal reaktiviert und dann ohne direkte Erinnerung als Körpergefühl erlebt.
Die Frage nach den Gründen, warum sich Kinder und Jugendliche selbstschädigend verhalten, erhält mit der Beachtung vorgeburtlicher Einflüsse auf das Selbstbild und Fremdbild des Kindes neue Nahrung. Neben einer Reihe von späteren äußeren, belastenden Lebensumständen wie Misshandlung, Vernachlässigung, Missbrauch oder psychischer Erkrankung der leiblichen Eltern, geraten nun auch vorgeburtliche Störungen und Risiken in den Blick. Noch immer kann davon ausgegangen werden, dass sich Armut und Schichtzugehörigkeit durch falsche oder mangelhafte Ernährung der schwangeren Frau, unzureichende Wahrnehmung von Vorsorge und Früherkennung oder belastende Arbeitsplätze negativ auf den Start ins Leben auswirken (Temmes/Weiß 1993). Hinzu treten mögliche Auswirkungen pränataler Ablehnung, versuchter Schwangerschaftsabbrüche, pränataler Misshandlung durch die Mutter oder deren Partner, und Drogen-, Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch. Ausführliche Informationen über diese Ausgangsbedingungen des Pflege- und Adoptivkindes machen aber nur einen Teil im Verständnis für das Kind und sein selbstschädigendes Verhalten aus. Die Suche nach Gründen für sein Verhalten birgt die Gefahr, die Möglichkeiten des Kindes weniger wahrzunehmen, mit seinen biografischen Erlebnissen umzugehen.
Dabei ist es wichtig, dass Pflege- und Adoptiveltern mit ihren oder ohne ihre Kinder nicht nur auf die Gründe für selbstschädigendes Verhalten sehen, sondern vor allem auf die Auslöser, Zielsetzung und Wirkung selbstschädigenden Verhaltens. Wozu verhält sich das Kind so wie es sich verhält? Selbstverletzendes oder selbstschädigendes kann ebenso Selbststimulation, das Bedürfnis, den Körper zu spüren, Selbsttröstung sein wie Selbstbestrafung oder den Zweck verfolgen, das Selbstbild eines abgelehnten, nicht liebenswerten Menschen zu bestätigen. Sich äußeren Schmerz zuzufügen kann innere Spannungen mindern oder im Nacherleben zugefügten Schmerzes eine Form innerer Verarbeitung bedeuten. Dabei bietet offenes selbstverletzendes Verhalten den Pflege- und Adoptiveltern eher Einflussmöglichkeiten als heimliches.
Wenn Eltern, Kinder und Jugendliche auch nicht immer klar benennen können, welche Ziele verfolgt werden, so kann doch zumindest die Wirkung auf andere Personen benannt werden. Vor allem Pflegeeltern haben es häufig mit Verhaltensweisen zu tun, die das Kind bereits in ihrer Wirkung auf Erwachsene ausprobiert hat. Vielleicht war es nur durch die Androhung, sich von der Treppe oder der Fensterbank herunter fallen zu lassen oder zu stürzen, möglich, die Aufmerksamkeit der Eltern zu erregen. Vielleicht hat ein Kind Krankheit als Flucht aus Verantwortung erlebt, vielleicht hat es Nähe und Trost erst erfahren, nachdem es sich den Kopf oder das Knie aufgeschlagen hat. Diese Erfahrungen mit erschreckten, mitleidigen oder tröstenden Reaktion von leiblichen Eltern, Verwandten, Erzieherinnen oder Erziehern im Kindergarten, Lehrkräften in der Schule oder Nachbarn machen es Pflegekindern schwer, selbstverletzendes Verhalten zu unterlassen, und Pflegeeltern schwer, Verhaltensveränderungen erfolgreich zu unterstützen.
Viele Kinder überschauen die Folgen selbstschädigenden Verhaltens gar nicht. Vor allem können machen Äußerungen schlichtweg ungeschickt sein. Manche Eltern, die den Umgang mit der besonderen Stellung als Pflege- oder Adoptivkind in die Verantwortung des Kindes legen, erzählen davon, dass die Wirkung nicht immer die gewünschte ist. Wenn Kinder in der Schule allen anderen erzählen, dass sie ein Pflege- oder Adoptivkind sind, werden die anderen nicht immer mit Interesse oder Verständnis reagieren, sondern das Kind als Pflegekind stigmatisieren, es hänseln. Eine Reihe von Kindern können die möglichen Folgen des offenen, oder auch des verheimlichenden Umgangs mit dem Status eines Pflege- oder Adoptivkindes nicht absehen.
Bei aller Vielfalt der Möglichkeiten selbstschädigenden Verhaltens von eher passiven Essstörungen über die Verweigerung eines Schulabschlusses bis zur aktiven Selbstverletzung sind eine ganze Reihe unterschiedlicher Aspekte von Bedeutung (Müller-Schlotmann 2003). Die Fragen nach den Gründen für selbstschädigendes Verhalten, der Art und der Ausprägung der Selbstschädigung, den Grad der Öffentlichkeit, dem Ziel und dem Sinn, dem Kontext, in dem Selbstschädigung stattfindet und danach, ob die Selbstschädigung eher Kommunikation mit sich oder mit der sozialen Umwelt ist, sind Fragen, die für jede betroffene Person sehr unterschiedlich zu beantworten sind.
Selbstschädigung oder Selbstverletzung ist facettenreich; die Einstellung der sozialen Eltern dazu nicht minder. Manche Pflege- oder Adoptiveltern erleben Nägelkauen als Selbstverletzung, andere nicht. Es muss sich nicht um aktives Verhalten handeln. Vielfach schaden sich Kinder durch das was sie nicht tun: durch die eigene Hilflosigkeit, dadurch, dass sie in Konflikten immer wieder in die Opferrolle geraten, durch wenig Zutrauen in ihre eigenen Fähigkeiten. Andere überschätzen sich oder schaden Freundschaften durch Angeberei und Übertreibungen.
Es gibt eine Reihe sozial akzeptierter Formen selbstverletzenden Verhaltens, wie zum Beispiel das Rauchen. Bei Jugendlichen oder jungen Heranwachsenden sind Modetrends wie Piercing, Branding oder Cutting mit Selbstschädigung verbunden. Diese Formen von Selbstverletzung dienen der Steigerung der eigenen Attraktivität, für sich selbst oder für andere. Wichtig für Pflege- und Adoptiveltern erscheint es, auf Formen selbstschädigender oder selbstverletzender Handlungen zu sehen, mit denen Kinder oder Jugendliche eher ihr negatives Bild von sich selbst zu bestätigen versuchen.
Mit dem Blick weg von einer Schuld der leiblichen Eltern auf die Chancen für Veränderungen, die das Kind hat, oder die ihm gegeben werden, verlagert sich der Focus auf den Umgang der Pflege- und Adoptiveltern mit selbstschädigenden Verhaltensweisen ihrer Kinder. Die Wahrnehmung des Kindes, seiner Erfahrungen, Gründe und Lösungen ist wichtig, um angemessene und passende Veränderungen zu ermöglichen. Es kann hilfreich sein, dem Kind selbstverletzendes Verhalten einfach zu verbieten. Andere, insbesondere ältere Kinder steuern ihr Verhalten mehr über ihre intellektuellen Fähigkeiten. Die Frage der eigenen Kontrolle spielt in vielen Fällen eine große Rolle. So erschreckend es klingen mag, ist selbstverletzendes Verhalten eine Möglichkeit, die Kontrolle über den eigenen Körper wiederzugewinnen, die verloren gegangen scheint; so wird in einigen Fällen bei Mädchen selbstverletzendes Verhalten in einem zeitlichen Zusammenhang mit dem Einsetzen der Menstruation beobachtet.
Grundsätzlich sollten Pflege- und Adoptiveltern vorsichtig damit umgehen, selbstverletzendes Verhalten zu verbieten oder beispielsweise durch das Tragen von Handschuhen Kratzwunden zu verhindern. Es kann passieren, dass die zu Grunde liegende Problematik erhalten bleibt und das Kind in andere, vielleicht heimliche Formen selbstverletzenden Verhaltens flüchtet. Eine Symptomverschiebung bedeutet für das Kind lediglich, sich einen anderen Weg suchen zu müssen, Selbsthass oder Selbstzweifel zu äußern. Ziel könnte sein, dass das Kind sein selbstschädigendes Verhalten für einen früheren Kontext als sinnvoll akzeptiert, aber im aktuellen Kontext der Adoptiv- oder Pflegefamilie verändern darf. Neues Verhalten soll alte Verhaltensmuster ablösen, aber in Stresssituationen, bei wichtigen Veränderungen, vor allem in Entscheidungs- und Einsamkeitssituationen greifen Kinder und Jugendliche eher auf frühere Verhaltensweisen zurück. Eine frühzeitige Vorbereitung auf diese Situationen und die Erarbeitung alternativer Verarbeitungsstrategien können hilfreich sein.
Insgesamt muss am Selbstkonzept des Kindes gearbeitet werden. Das Kind muss sich als liebenswerten, lebenstüchtigen, angenommenen Menschen erleben und selbst annehmen. Das Kind, dass massive Übergriffe und Grenzüberschreitungen durch seine leiblichen Eltern erlebt hat, muss die Nähe und Distanz zu anderen Menschen zumindest zu einem guten Teil selbst bestimmen können. Aber es muss auch seine Körpergrenzen erleben: durch viel Körperkontakt, Knuddeln, Streicheln und Kuscheln. Mehr und mehr muss es die Verantwortung für seine körperliche Unversehrtheit erhalten. Dazu gehört sicher eine entsprechende Vermittlung von Werten und Orientierungen.
Pflege- und Adoptiveltern müssen darauf achten, dass sie sich durch selbstverletzende Verhaltensweisen des Kindes nicht zu sehr von ihrer Angst und Ohnmacht bestimmen lassen. Es ist schwierig, aber unumgänglich, zu einem aktiveren und souveränen Umgang zu finden. Mit neuem und unberechenbaren Verhalten erhöhen sie ihre eigene Flexibilität und Gestaltungsmöglichkeit in der Beziehung und rufen damit Verunsicherungen beim Kind hervor. Die Balance zwischen erfüllbarer Anforderung und unerfüllbarer Überforderung zu finden, wird nicht immer leicht sein, aber die einsetzende Denkpause bei den Kindern lässt häufig ein Ausbrechen aus gewohnten Abläufen zu. Neue Möglichkeiten können ausprobiert werden, mit denen Kinder und Jugendliche wiederum mehr Kontrolle über ihr Verhalten erleben. Sie werden zu aktiven Gestaltern in ihrer Beziehung zu sich und zu den Pflegeeltern, Adoptiveltern und den leiblichen Eltern.
Literatur
Geuter, U.: Im Mutterleib lernen wir die Melodie unseres Lebens. Psychologie Heute, 1/2003, 20-26
Hopp, H./Lambeck, S./Hüther, G./Siefert, S.: Traumatisierte Kinder in Pflegefamilien und Adoptivfamilien. Ratingen 2002
Lambeck, S., 1998: Eine fürsorgliche Kindesmisshandlung. In: Paten 15 Jg., H. 2, S.14-15
Müller-Schlotmann, R.M.L., 1997a: Integration vernachlässigter und misshandelter Kinder in Pflegefamilien. Regensburg
ders., 1997b: Beziehungsstörungen von Jugendlichen als Folge von Vernachlässigung. In: Sozialpädagogik 39. Jg., H. 3, S. 119-125
ders., 2003: Aspekte selbstschädigenden Verhaltens bei Pflegekindern, Adoptivkindern und Stiefkindern. Unsere Jugend H. 5, 224-235
Mummendey, H. D., 2000: Psychologie der Selbstschädigung. Göttingen, Bern Toronto, Seattle
Rohmann, U./Elbing, U., 1999: Selbstverletzendes Verhalten. Dortmund
Schmeißer, S., 2000: Selbstverletzung. Münster
Sachsse, U., 1997: Selbstverletzendes Verhalten. Göttingen
Temmes, L./Weiß, H.: Früherkennung von Entwicklungsgefährdungen in sozialen Brennpunkten und anonymen Armutslagen. In: Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung e.V. (Hg.): Früherkennung von Entwicklungsrisiken, München 1993, s. 91 -96
Thyen, U., 1987: Kindesmisshandlung und -vernachlässigung. Lübeck
Weiß, W.: Phillip sucht sein Ich. Weinheim, Berlin, Basel 2003