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10.10.2022
Fachartikel

Was ist ein Trauma?

Der Begriff „Trauma“ ist allgemein bekannt. Doch seine Bedeutung genau zu analysieren kann helfen, ein traumatisiertes Kind zu erkennen und sich entsprechend auf ungewöhnliche Reaktionen einzustellen.

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Definition

Trauma wird in der ICD 10 definiert als „kurz- oder langanhaltendes Ereignis oder Geschehen von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß, das nahezu bei jedem Menschen tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde“.

Die ICD 10 ist ein Ordnungssystem oder Klassifikationssystem, welches Krankheiten erfasst, beschreibt, speichert und das Wiederfinden von Krankheiten möglich macht. In Deutschland wird die ICD 10 verwendet.

Ein Trauma kann in jeder Lebenssituation geschehen. Und vor dem Hintergrund des Identitätsargumentes und des Embryonenschutzes ist jede Phase eines Menschenlebens relevant für die Identität, auch die früheste Existenzphase.

Nicht umsonst wird die Präimplantationsdiagnostik (künstliche Befruchtung) durch Gesetze in der BRD gesteuert und beaufsichtigt. Zur Erkenntnisforschung dürfen in Deutschland Stammzellen, die sich in einen vollständigen Organismus entwickeln können nicht selber gewonnen werden, auch wenn die Einfuhr und Verwendung nicht erlaubt ist.

Nicht vergessen sollten wir, dass ein Kind bereits 9 Monate alt ist, wenn es auf die Welt kommt (vgl. Ruppert, F., 2014, S.11). Nicht nur sein physisches Leben hat vor der Geburt begonnen auch sein psychisches. Letzteres ist nur den Wenigsten bekannt oder gilt nicht unbedingt als allgemein gültiges Wissen.

„Ungeborene sind wahrnehmende, fühlende und erkennende Wesen. Was sie während der Schwangerschaft und während des Geburtsprozesses erleben, hat eine prägende Wirkung auf ihre weitere körperliche wie psychische Entwicklung. Es können gute und liebevolle Erfahrungen sein, die ein solides Fundament legen für eine stabile und in sich ruhende Persönlichkeit. Es können aber auch Erfahrungen von Stress bis hin zu traumatisierenden Erlebnissen sein, die dann möglicherweise ein ganzes Leben negativ prägen.“ (Ruppert, F., 2014, S.11)

Für den Beweis dieser Theorie wurden von namenhaften Trauma Therapeuten zahlreiche Studien erhoben, die Forscher dazu bringen ein objektives Phänomen wie eine physische Krankheit in Wirklichkeit als Folge zwischenmenschlicher Beziehungserfahrung aufgeschlüsselt werden kann (Ruppert, F., 2014, S.18).

Traumatisierung durch Naturgewalten gibt es viele. Dennoch erscheint diese Form für den Menschen leichter zu verkraften sein, als Traumatisierungen durch Menschen. Naturkatastrophen aktivieren meist zwischenmenschliche Hilfe und Fürsorge (vgl. Ruppert, F., 2014, S. 21).

Traumatisierungen im Mutterleib sind genauso prägend und belastend wie Traumatisierungen nach der Geburt.

„Aus den Befunden der prä- und perinatalen Psychologie ergibt sich eindeutig, dass der menschliche Organismus von Beginn an nicht nur eine Ansammlung von biologischen Zellstrukturen, sondern ein Lebewesen ist, dessen psychische Qualitäten ebenfalls von Anfang an vorhanden sind…

Wahrnehmen, fühlen, denken, wollen, erinnern, sich seiner selbst bewusst werden sind psychischen Vorgänge, die nicht erst nach der Geburt einsetzen. Sie sind bereits in den ersten Schwangerschaftswochen bei dem werdenden Kind im Entstehen und nehmen in ihrem Umfang und in ihrer Qualität bis zum Zeitpunkt der Geburt rasant zu. Dabei ist zu bedenken, dass »Psyche« nicht mit »Bewusstsein« gleichzusetzen ist. Der Großteil aller psychischen Prozesse läuft unbewusst ab. Nur ein geringer Prozentsatz unseres Wahrnehmens, Fühlens und Denkens wird uns bewusst und kann später bewusst erinnert und sprachlich ausgedrückt werden. Das gilt für unser gesamtes Leben…“ (Ruppert, F., 2014, S. 41)

Die Beschreibungen frühkindlicher Traumata während der Schwangerschaft bzw. bereits bei der Zeugung eines Kindes von Franz Ruppert aus seinem Buch „Frühes Trauma, Schwangerschaft, Geburt und die ersten Lebensjahre“ sind ausgesprochen aufschlussreich in der weiteren Betrachtung von Kindern aus Familienpflege.

Häufig wird nämlich dieser Aspekt bei der Diagnostik vergessen. Wenn einem Kind FASD diagnostiziert wird, hat es in jedem Fall ein pränatales Trauma erlebt, welches unterschwellig mitwirkt. Diese Prägungen und Male, mit denen das Kind nach seiner Geburt die Welt für sich organisiert, sind unbewusst ein Teil seiner Psyche geworden, mit denen es arbeitet. Dies darf nicht übersehen werden.

Nicht nur die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung ist ein Krankheitsbild, auch wenn die Bedeutung Trauma in anderer Form nicht in der ICD 10 klassifiziert und erläutert wird.

Trauma an sich ist keine Krankheit. Nur die Symptome, die aus ihm resultieren, können zu schwerwiegenden Krankheiten führen. Es ist das krankmachend, was daraus entstehen kann, d.h. die daraus entstehenden Denkschemata und Reaktionen auf unsere Umwelt.

Im nachfolgenden Teil wird der Begriff Trauma noch einmal aufgeschlüsselt und näher analysiert.

Quelle: Ruppert, Franz, 2014, Frühes Trauma, Schwangerschaft, Geburt und die ersten Lebensjahre, Klett-Cotta, Stuttgart

Trauma: Das Zusammentreffen eines Menschen mit einem Ereignis, welches er nicht verkraften konnte:
  • lebensbedrohliche Situation
  • überwältigende Gefühle von Hilflosigkeit und Angst
  • unverarbeitete Erlebnisse
  • dauerhafte Erschütterung von Selbst – und Weltverständnis

→ die Hilfe nach dem Erleben ist entscheidend (Resilienzfaktoren): stabiles Umfeld, stabile Lebenssituation, Abstand zu der traumaauslösenden Situation oder Person, kognitive Reife (Intelligenz)

Folgen von traumatischen Ereignissen:
  • Auffälligkeiten im Umgang mit Gefühlen, Einschränkungen in der Gefühlsregulation
  • Veränderungen im Kontakt zu sich selbst und zu anderen
  • Gewissen geht verloren
  • Spezielle Belastungen und Reaktionen durch Erinnerungen der traumatischen Ereignisse
  • Gefühlszustände aus früheren Zeiten vermischen sich in das Erleben von Heute
Symptome:
  • Ängste, Phobien, selbstverletzendes Verhalten, häufiges Weinen, Reizbarkeit, Überaktivität
  • Einnässen, Einkoten
  • Unaufmerksamkeit
  • Phantasiewelt
Instabile Identität:
  • Die Kontinuität des Ichs ist nicht immer präsent
  • Kleinkinder sehen sich mit den Augen der anderen
  • Teilpersönlichkeiten sind möglich
  • Die feste Vorstellung vom eigenen „Ich“ fehlt
Weltenwechsel bedeutet Identitätsverlust

Das Selbstbild ist bei Bezugspersonen eingespielt, ändert sich die Bezugsperson, dann ändert sich auch das Selbstbild

Bindung

Innerer Kampf zwischen Bindungsstreben und Bindungsangst

Bindungsangst:

  • Gebunden sein bedeutet ausgeliefert sein, Abhängig sein ist lebensbedrohlich
  • Trennungserfahrungen
Ansatzpunkte:
  • Bedrohung meines Selbst → wenn ich kein festes Selbst habe und ich mich aus Sicht der anderen definiere, tritt bei kleinster Kritik das Gefühl auf: Alles ist aus!
  • Ich bin nichts wert
  • Ich bin verloren
  • Ich bin allein auf der Welt
Hilflosigkeit gegenüber Leistungsanforderungen:
  • Ohnmachtsgefühle, Unterlegenheitsgefühle
  • Selbstzweifel
  • Überforderung durch Reize
Heilungschancen / Hilfen
  • Mit dem Kind sprechen: Dein Herz hat zwei Kammern, das eine möchte hier bei uns sein und mit uns spielen und den tollen Kindergarten erleben. Das andere hat Angst und ist wütend. Vielleicht hast du auch nicht so gut geschlafen und fühlst dich nicht gut.
  • Den Ort verlassen und in eine ruhige Ecke gehen: Das Kind fest an die Hand nehmen, so dass es keine Möglichkeit hat die Situation zu verlassen. (oder auf den Arm nehmen) „Ich zeige dir den Weg aus diesen Gefühlen heraus“
  • Therapiekiste: Dem Kind die Möglichkeit geben sich zu spüren, Feinheiten wieder spüren zu können. Die Wut und die Angst lassen wir in dieser Kiste zurück. Wenn es dir besser geht kommst du wieder zu uns in die Gruppe!
  • Nach Rückkehr des Kindes das Gespräch suchen und an das Gewissen appellieren. Das hat mir weh getan, das hat mich traurig gemacht … Und ich weiß, dass du eigentlich ein liebes Kind bist und nicht haust. … wir sind doch Freunde und du willst auch nicht geschlagen werden … gib mir das Versprechen, dass du,... Hand drauf! (manchmal hilft es ihr, wenn man sie dabei nicht ansieht)

Kinder zeigen durch ihr fremdverletzendes Verhalten natürlich Überforderung, aber auch, dass sie sich im Beziehungsaufbau befinden. „Den Menschen, den ich gehauen habe, fange ich an lieb zu haben und dem zeige ich wie schlecht ich mich fühle, weil ich ihm vertraue!“

Kinder versuchen Grenzen und Beziehungen auszutesten. (Wo ist mein Platz in dieser Gruppe, wie stehen die Menschen hier zu mir?)

Vor allem aber zeigt das Kind, dass sich sein Selbstbild festigt. Das Kind fängt an, sich in einer fremden Umgebung so zu verhalten, wie zu Hause! Das ist ein großer Fortschritt.

Wichtig ist, dass man in dieser Situation erkennt, dass nicht das ganze Kind ein unerwünschtes Verhalten gezeigt hat, sondern nur ein Teil von ihr. Wichtig ist, dem Kind klar zu machen, dass nur dieser Teil nicht willkommen ist, nicht das ganze Kind. (Matruschka – Püppchen)

Man muss dem Kind deutlich zeigen, dass das nicht in Ordnung ist, was es macht und dass es die Situation „heute“ nicht geschafft hat, aber „morgen“ alles wieder gelingen kann und dass es Hilfe hat um diesen Teil in sich zu überwinden.

Der sichere und ruhige Ort hilft dem Kind aus dem Wirrwar der Gefühle herauszukommen, die Stimmen, Eindrücke und Gefühle der anderen Menschen zu orten und wieder bei sich selbst anzukommen. Die Gegenstände in der Kiste helfen ihr dabei die negativen Gefühle umzuwandeln. Ihre negativen Reaktionen auf bestimmte Reize werden an einen Ort gebracht (Therapiekiste) und mit positiven Reizen gekoppelt. Es passiert häufig, dass Kinder nach anfänglicher positiver Anpassung an neue Situationen, zurückfallen in alte destruktive Verhaltensmuster.

Manche Kinder zeigen als Leitlinie nach außen getragene und präsentierte Gefühle. (kleiner Schauspieler) Sie neigen dazu sich ihren Gefühlen hinzugeben und sie über körperliche Symptome auszudrücken (Beinweh, Bauchweh, kann nicht laufen... usw.) Auch finden manche traumatisierten Kinder aus diesen Gefühlen oft nicht heraus. (Das Verhalten findet sich häufiger bei Mädchen, als bei Jungen. In der ICD10 wird diese Auffälligkeit als Konversionsstörung bezeichnet.) Dieses Verhalten kann sich durch die kognitive Entwicklung noch ändern, indem sie lernen Gefühle zu benennen, statt sie durch wirre Gefühlsausbrüche zu zeigen.

Wir Menschen haben ein natürliches Bedürfnis den Mitmenschen zu denen wir uns zugehörig fühlen gefallen zu wollen. Traumatisierte Kinder haben mitunter noch kein tiefsitzendes Zugehörigkeitsgefühl zu der Gruppe in die sie angebunden werden. Das entwickelt sich auch erfahrungsgemäß langsamer als bei nicht traumatisierten Kindern.

Autorin: Stephanie Kirchner, 47, Sozialarbeiterin und Heilpraktikerin für Psychotherapie, Langjährige Erfahrung in der Pflegekinderhilfe

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