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Traumatisierte Pflegekinder brauchen äußere und innere Sicherheit
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Gründe für Inobhutnahmen von Kindern sind nur in seltenen Fällen Krankheit oder Tod der Kindeseltern. Der Hauptteil dieser Kinder wird wegen Vernachlässigung, Misshandlung und/oder Missbrauch aus ihren Familien genommen. Oft werden gerade jüngere Kinder gern in Pflegefamilien vermittelt, weil die Hoffnung besteht, dass diese den Kindern durch ihre familiäre Struktur und ihr Bindungsangebot die Heilungschancen bieten können, die sie benötigen.
Bei der Betrachtung der Entwicklung von zuvor – durch Vernachlässigung, Gewalt und Bindungsabbrüche – traumatisierten fremd untergebrachten Kindern können wir immer wieder beobachten, dass diese die Chance, in einer sicheren neuen Umgebung mit neuen Beziehungsangeboten aufzuwachsen nur als Heilungs- und Entwicklungschance nutzen können, wenn dieses neue Angebot sicher ist. Aus der Psychotraumatologie wissen wir, dass eine grundsätzliche Voraussetzung zur Verarbeitung von Traumafolgestörungen die äußere Sicherheit ist, d.h. die Gefahr muss vorüber sein. Erst auf dieser Basis können Menschen verstehen lernen, dass es im Außen anders ist als zuvor. Erst dann können sie innere Sicherheit herstellen und fühlen lernen und ebenso wahrnehmen lernen, dass die Menschen, die ihnen neue Beziehungsangebote machen, sie nicht verraten, verlassen oder verletzen werden.
Die Strukturen im Pflegekinderbereich sind in vielen Ländern jedoch nicht ausreichend geeignet, den Kindern diese so dringend benötigten Voraussetzungen zu bieten. Viele Pflegekinder wachsen in einem Spannungsfeld zwischen Herkunfts- und Pflegefamilie auf, in dem sie ständig spüren, dass ihr Verbleib in der Pflegefamilie nicht sicher ist. Dies hängt von familienrechtlichen Gegebenheiten ab (Sorgerecht, Umgangsrecht), von der Haltung der Herkunftsfamilie, der Sozialarbeiter (Pflegekinderdienst, Jugendamt, Politik), der Pflegeeltern und ihren Einstellungen und Ressourcen.
Kinder, die immer wieder erleben, aus den Zusammenhängen gerissen zu werden, die Rückführungen und Inobhutnahmen erfahren, werden hierdurch retraumatisiert. Sie hören bei Umgangskontakten – und das oft über Jahre –, dass die leiblichen Eltern sie zurückholen werden oder werden sogar bei Umgangskontakten bedroht. Leider zeigt die Erfahrung, dass auch der begleitete Umgang dies nicht immer verhindern kann.
Laura, deren Eltern sie sexuell missbraucht und schwer misshandelt hatten und sie im Alter von 1 – 5 Jahren regelmäßig an fremde Männer verkauft hatten, wurde mit 5 J. in einer Pflegefamilie untergebracht. Das Jugendamt erhoffte sich das Aufholen der Entwicklungsverzögerungen und die Verbesserung der Verhaltensauffälligkeiten. Die leiblichen Eltern hatten sich gegen die Fremdunterbringung heftig gesträubt und schließlich zögerlich eingewilligt und unterschrieben. Um die Eltern ruhig zu stellen und ein Gerichtsverfahren zu vermeiden (vor dessen Ausgang sich die Sozialarbeiterin wegen der Vehemenz der Eltern fürchtete), wurde den Eltern ein umfangreicher begleiteter Umgang, auch in der Wohnung der Pflegeeltern, zugesichert. Dieser wurde dann später auf Bestreben der Pflegeeltern größtenteils aus der Wohnung verlegt. Nach einem Jahr durften die Eltern Laura für einen Tag mit sich nehmen. Da Laura sich nicht entwickelte und nach den Umgängen starke Verhaltensauffälligkeiten zeigte, wurde schließlich ein betreuter Umgang durch einen Träger festgelegt. Die Bedenken der Pflegeeltern gegen den Umgang wurden tendenziell als deren Bindungsintoleranz eingeschätzt. Aufgrund sehr günstiger Entwicklungen in der Therapie und der Beziehung zwischen Laura und ihrer Pflegemutter gelang es Laura im Alter von 8 Jahren mitzuteilen, dass sie die Eltern nicht mehr sehen wolle. Sie wurde vom Jugendamt jedoch zu weiteren Umgängen überredet. Erst als Laura vom sexuellen Missbrauch durch die Eltern und fortgesetztem sexuellem Missbrauch während des unbegleiteten Umgangs berichtete, wurde der Umgang ausgesetzt. Ab diesem Zeitpunkt konnte Laura sowohl ihre Therapie als auch das Bindungsangebot in der Pflegefamilie für sich nutzen und entwickelte sich zusehends. Später berichtete sie, dass die Kindesmutter während des betreuten Umgangs ihr immer wieder in unbeobachteten Momenten erklärt habe, dass die Pflegeeltern mit ihr befreundet seien und sie bestraft würde, wenn sie vom Missbrauch erzähle. Diese und viele andere Andeutungen und extra gesetzte Trigger bedeuteten für das Kind in seinem Erleben eine Fortsetzung der Unsicherheit. Dazu trug die Tatsache bei, dass die Pflegeeltern die Täter (leibliche Eltern) in ihre Wohnung gelassen hatten und mit ihnen normal umgegangen waren, ihnen das Kind überlassen und (wenn auch unwissend) dem erneuten Missbrauch ausgesetzt hatten, ebenso wie sie der permanenten Bedrohung und Aussicht auf Rückführung (Andeutungen Kindesmutter) nichts entgegen setzen konnten. Wegen des Schweigegebots hatte Laura auch nicht die Möglichkeit, sich andere Informationen zu holen und die Unterstellung von Mittäterschaft der Pflegeeltern so korrigieren zu können. Die relative Sicherheit in der Pflegefamilie konnte nicht als solche von Laura erlebt werden. Laura lebte weiter im Überlebensmodus. Erst, als der Umgang ausgesetzt und das Sorgerecht entzogen worden war, begann eine Entwicklung, sowohl emotional, geistig als auch körperlich. Laura, bei der psychosozialer Minderwuchs diagnostiziert worden war, und bei der selbst die Fingernägel nur zwei Mal im Jahr hatten geschnitten werden müssen, wuchs plötzlich körperlich (und ihre Nägel wurden wöchentlich geschnitten).
Durch das Erleben der äußeren Sicherheit, die nun tatsächlich erst nach Sorgerechtsentzug und Umgangsaussetzung geschaffen worden war, gelang es Laura zusehends innerlich wahrzunehmen, dass sie nun (außen) sicher war. Ebenso konnte sie sich schrittweise auf das Bindungsangebot der Pflegeeltern einlassen. Auf dieser Basis konnte sie ihre Ressourcen ausbauen und schließlich in einer Traumatherapie die abgespaltenen Traumatisierungen, die sie langsam erinnerte, verarbeiten und integrieren, ihre Bindung zu den Pflegeeltern weiter intensivieren und nach und nach in einem jahrelangen schwierigen Prozess Entwicklungen zum großen Teil nachholen.
Wenn wir wissen, dass oft die politischen, rechtlichen, personellen und anderen Bedingungen dazu führen, dass systemimmanent eine äußere Sicherheit für Pflege- und andere fremd untergebrachte Kinder nicht gegeben ist, so bedeutet das für Pflegeeltern, Sozialarbeiter und Therapeuten, dass sie mit diesem Faktor bewusst umgehen sollten. Dies heißt einerseits, die systemimmanenten Probleme realistisch zu betrachten und im Einzelfall jeweils achtsam hiermit umzugehen. Das ist eine erste Voraussetzung, die dennoch vorhandenen Möglichkeiten zu finden, ein uns anvertrautes Kind auf seinem schwierigen Weg zu begleiten. Die Bereitschaft, hinzusehen und immer wieder neu zu justieren, kostet Mühe, die sich auszahlen kann. Pflegeeltern benötigen hierbei kompetente Begleitung, Fortbildung, Supervision und Entlastung (Selbstfürsorge). Denn ein wichtiger Faktor für die äußerlich und innerlich erlebte Sicherheit eines Pflegekindes liegt in der Person der Pflegeeltern, deren Beständigkeit, Gelassenheit und Einfühlsamkeit.
Andererseits ist es wichtig, uns als Praktiker und Menschen, die Veränderungserfordernisse in den Bedingungen erkennen, immer wieder im Rahmen unserer jeweiligen Möglichkeiten konstruktiv hierfür einzusetzen, damit erforderliche strukturelle Veränderungen mittel- und langfristig wachsen können.
Ford, J. (2011), Neurobiologische und entwicklungspsychologische Forschung und ihre klinischen Implikationen. In Courtois, C. A. & Ford, J. D. [Eds.]. Komplexe traumatische Belastungsstörungen und ihre Behandlung: Eine evidenzbasierte Anleitung, Jungfermann: Paderborn.
Perry, B. & Szalavitz, M. (2008). Der Junge, der wie ein Hund gehalten wurde. Kösel Verlag: München.
Dipl.-Päd. Anne Schmitter-Boeckelmann, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, niedergelassen in Ludwigsfelde, Ausbildung in tiefenpsychologisch fundierter Kinderund Jugendlichenpsychotherapie, analytischer Säugling-Kleinkind-Elterntherapie, spezieller Psychotraumatherapie und EMDR, Körperpsychotherapie. Ausbilderin, Dozentin, Supervisorin.
Dipl. Soz. Päd. Katja Paternoga, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, niedergelassen in Rathenow. Ausbildung in Verhaltenstherapie, spezieller Psychotraumatherapie und EMDR, Vorsitzende des Aktivverbund e. V. (bis 2014), Dozentin und EMDR Supervisorin KJ, Pflegemutter,
Erstveröffentlichung: Trauma & Gewalt, Heft 4/Nov. 2013
(Originaltitel: "Pflegekinder brauchen äußere und innere Sicherheit – Überlegungen zu strukturimmanenten Bedingungen und ihre Bedeutung für die Entwicklung traumatisierter Pflegekinder" wurde aus technischen Gründen hier gekürzt und angepasst)