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Traumatisierungen von Kindern infolge häuslicher Gewalt
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Die Möglichkeit von Kindern, Außenreize aufzunehmen und zu verarbeiten, sind individuell verschieden und ändern sich entsprechend ihrer Entwicklung, dem Alter und ihren subjektiven Erfahrungen. Jedes Neugeborene hat jedoch bereits sein eigenes optimales Stimmungs-Niveau: Bei einer Unterschreitung beginnt der Säugling nach Reizen zu suchen, bei einer Überschreitung versucht er, dieser Situation auszuweichen. Ziel dabei ist es, das innere Gleichgewicht aufrecht zu erhalten bzw. das verloren gegangene emotionale Gleichgewicht wiederzufinden und die hierbei entstandene Angst zu überwinden. Denn diese ist unerträglich! Ist das kindliche Bindungssystem erregt durch unerträgliche Gefühle von Angst, Ärger, Wut oder Schmerz, so ist es wichtig, dass seine emotionale Erregung durch die feinfühlige Reaktion seiner Betreuungsperson wieder beruhigt wird.Siehe hierzu Grossmann und Grossmann (2004), 129. Bei fehlender „Ent-Ängstigung“ reagiert das Kind auf die Überforderungssituation mit physiologischem Stress.Dass negativer Stress in der frühen Entwicklung langfristig neurobiologische Folgen hat, belegt eindrucksvoll v. d. Kolk, 19 ff.
Wird die Reizschranke eines Kindes durchbrochen in einer Situation, in der es überwältigende Erfahrungen machen muss, es dem Kind also nicht – oder nicht schnell genug - gelingt, die drohende Gefahr der Angstüberflutung rechtzeitig abzuwenden und den Stress kontrollierbar zu machen, so schlägt seine Angst um in qualvolle Gefühle von extremer Hilflosigkeit und Ohnmacht, Wut und Verzweiflung.
Dreh- und Angelpunkt beim psychischen Trauma ist die traumatische Situation: In der traumatischen Situation versagen die individuellen Bewältigungsmöglichkeiten des Kindes.
Was geschieht, wenn ein Kind überwältigenden Erfahrungen ausgeliefert ist und niemanden hat, der es vor schwerer Angstüberflutung wirksam schützt?Nienstedt u. Westermann, 51 f. zum Verleugnungsprozess von Kindesmisshandlung: „Die Angst, die angesichts misshandelnder Eltern entsteht, wird durch die Identifikation mit dem Aggressor abgewehrt. Diese Angstabwehr lässt keinen Raum für die Identifikation mit dem Kind als Opfer elterlicher Aggression.“ In dieser extremen Belastungssituation sind wegen der unerträglichen Angstüberschwemmung alle normalen Anpassungsstrategien völlig überfordert. Das Selbstschutzsystem ist außer Kraft gesetzt: Handeln hat keinen Sinn mehr, Widerstand oder Flucht sind in dieser Situation unmöglich. Dem Kind bleiben nur noch Fluchtwege nach innen: Es verdrängt beispielsweise die beängstigenden Erfahrungen, idealisiert den misshandelnden Elternteil und identifiziert sich mit ihm als Aggressor.Den Vorgang der Introjektion, d.h. das In-sich-Aufnehmen der Gewalt durch das Opfer, den Ferenczi als Internalisierungsprozess beschrieben hat, ergänzt der Traumatologe Hirsch durch den der gewaltsamen Ich-Grenzen überschreitenden Implantation durch den Täter, welcher der Introjektion und (partiellen) Identifikation vorangestellt ist. Siehe hierzu Hirsch (2000), 126 ff.
Abwehrmechanismen wie: Identifikation mit dem Aggressor, Leugnung, Spaltung und Formen der Dissoziationvan der Kolk, 27 f. sind psychologische Notfallmaßnahmen, die dem Kind kurzfristig helfen, in einer unbewältigbaren Situation psychisch zu überleben. Doch der Preis dafür ist hoch: Seine psychische Integrität wird mitsamt der eigenen Lebendigkeit preisgegeben, die Realitätskontrolle (teilweise) außer Funktion gesetzt. Stattdessen entwickelt das Kind ein gefügiges falsches Selbst, hinter dem es seine innere Realität verbirgt.
Die identifikatorische Anerkennung der übermäßigen Gewalt bzw. die Unterwerfung unter sie ist somit ein Versuch, die traumatische Gewalt psychisch zu Bewältigung: Die Opfer nehmen die Gewalt in sich hinein, identifizieren sich mit dem Gewaltsystem und bleiben im Wiederholungszwang oft lebenslang Opfer (Verinnerlichung des Gewaltgeschehens).
Über den Vorgang der Introjektion kurz und prägnant die Formulierung von Heinrich Heine, aufgegriffen vom Traumatologen Hirsch: „Die Preußen haben den Stock verschluckt, der sie geschlagen.“Hirsch (1997), 99.
Warum ein geschädigtes Kind seinen Eltern gegenüber oftmals nicht mit Entsetzen, Empörung, Ablehnung, Wut oder Hass reagiert, sondern ihm nichts anzumerken ist und es stattdessen manchmal ängstlich deren Nähe sucht, wird im Fall des 2-jährigen Benjamin-Pascal aus Stresow deutlich. Bei dem von seinen Eltern schwer vernachlässigten und an Unterernährung zu Tode gekommenen Jungen war die zuständige Familienrichterin trotz der insgesamt sieben Anträge des Jugendamtes nicht zu einem Entzug bzw. zur Einschränkung der elterlichen Sorge zu bewegen mit der Begründung, dass die Kinder - d.h. Benjamin-Pascal und seine Geschwister - doch ihre Eltern lieben würden. Vom Leiter des Jugendamtes Jerichower Land erfuhr ich, dass die überlebenden Geschwister erst über ihre schlimmen Erfahrungen zu sprechen begonnen hätten, nachdem sie erfahren hatten, dass ihre Eltern in Haft seien und sie nicht mehr zu ihnen zurückkämen. Siehe hierzu Niestroj (2009), 122 ff.; zum Leidensweg des Benjamin-Pascal S. siehe Niestroj (2007) im Internet. Sowie Artikel in der Frankfurter Rundschau von Micha Hilgers vom 28. Aug. 2003: „Wir wurden gut behandelt“ - Opfer identifizieren sich häufig mit den Tätern.
Nach einer neueren Theorie, die als Äquivalent zur „Identifizierung mit dem Aggressor“ angesehen werden kann,Vgl. Braten, dargelegt von Dornes (2006), 95 ff. erlebt und lernt ein Säugling Misshandlung auf folgende Weise: Im Geschlagenwerden nimmt er an der Schlageaktivität des Anderen in gefühlter Unmittelbarkeit teil und erfährt so nicht nur, wie es ist, geschlagen zu werden, sondern auch wie es ist, zu schlagen, wobei die Schlagebewegungen gefühlt werden, als wenn sie mitausgeführt würden. „Die vorliegende Theorie erlaubt deshalb die schreckliche Schlussfolgerung, dass der Säugling als Opfer der Misshandlung zusammen mit dem Misshandler an der Verletzung teilnimmt - zumindest so lange, bis Abwehrmechanismen ins Spiel kommen.“Dornes (2006) zitiert Braten, 100. Der Säugling ist also nicht einfach Opfer der Misshandlung, sondern gezwungen, sich als Teilnehmer der misshandelnden und verletzenden Aktivität zu fühlen.
Zu den Folgen früher Traumen ist festzustellen, dass deren Auswirkungen umso gravierender sind,
- je früher die Misshandlung beginnt,
- je schwerer sie ist und
- je länger sie anhält.Dornes (1997), 231.
Dass ein Kind bereits in seiner frühen Säuglingszeit psychisch traumatisiert werden kann, davon ist auszugehen. Denn: „Traumatisch wirksam ist ein Ereignis, das die psychischen Verarbeitungsmöglichkeiten aufgrund seiner Intensität und Plötzlichkeit übersteigt.“Küchenhoff zur Frage: Was heißt „frühes Trauma“?, 15. Ein kleines Kind ist nicht unempfindlicher, sondern wegen der fehlenden angemessenen Verarbeitungsmöglichkeiten verletzlicher. Seine individuellen Bewältigungsmöglichkeiten sind noch stark begrenzt. Die lebensgeschichtlich sehr frühen Traumatisierungen sind von daher – entgegen landläufiger Annahme – massiv und kumulativ.Küchenhoff, 23.
Die Folgen eines psychischen Traumas sind umso intensiverFischer und Riedesser, 255, unterscheiden bei ihrem Verständnis von Symptomen und Krankheitsprozessen zwischen inner- und außerfamiliärer Traumatisierung: „Nichtfamiliäre Traumata erschüttern das kindliche Verständnis von der Sicherheit einer Welt, in der es selbst als von mächtigen Elternfiguren beschütztes Wesen wohlbehütet aufwachsen kann, nicht fundamental.,
- je größer der Altersabstand zwischen Opfer und Täter ist;
- je größer die verwandtschaftliche Nähe ist;
- je jünger das Kind bei Beginn der Traumatisierung war;
- je mehr Gewalt angedroht oder angewendet wurde;
- je vollständiger die Geheimhaltung war;
- je weniger schützende vertrauensvolle Beziehungen bestehen (zu einer verlässlichen feinfühligen Bezugsperson).
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Langzeitwirkung belastender Kindheitserfahrungen. Besteht für einen Menschen die Chance, die Folgen vollständig zu überwinden? „Es ist allgemein bekannt, dass Ängste, die in der frühen Kindheit erworben wurden, im weiteren Lebenslauf verschwinden können. Aber sie verschwinden nicht spurlos. So scheint es nur. Unter Stressbedingungen tauchen sie erneut auf.“Jacobs u. Nadel zitiert nach Dornes (2000), 147.
Psychische Traumata sind für am Geschehen unmittelbar Beteiligte nur schwer zu erkennen. Gefühle und Fakten scheinen sich zu widersprechen. „Es gelingt dem Beobachter kaum, ruhig zu bleiben, einen klaren Kopf zu bewahren, mehr als einige wenige Bruchstücke des Geschehens gleichzeitig zu erkennen, alle Einzelheiten aufzubewahren und richtig zusammenzusetzen. Noch schwieriger ist es, die richtigen Worte zu finden, um das Beobachtete überzeugend und umfassend zu schildern. Wer versucht, die Gräuel in Worte zu fassen, die er gesehen hat, setzt seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Wer über Gräueltaten öffentlich spricht, zieht unweigerlich das Stigma auf sich, das dem Opfer immer anhaftet“.Hermann, 10.
Wuppertaler Appell an den "Runden Tisch sexueller Kindesmissbrauch"