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08.02.2013
Fachartikel

Vermittlung von Geschwisterkindern in Adoptiv- und Pflegefamilien

Die Vermittlung von Geschwisterkindern wird sehr kontrovers diskutiert. Für einige ist die Vermittlung leiblicher Geschwister in eine Adoptiv- oder Pflegefamilie kaum möglich. Andere sehen ein Anrecht der Kinder auf gemeinsame Vermittlung.

Die Vermittlung von Geschwisterkindern wird sehr kontrovers diskutiert. Für einige ist die Vermittlung leiblicher Geschwister in eine Adoptiv- oder Pflegefamilie kaum möglich. Andere sehen ein Anrecht der Kinder auf gemeinsame Vermittlung.

Bei Seminaren wurde ich immer wieder von Pflegeeltern angesprochen, die Geschwister aufgenommen hatten. Manche schilderten, dass das Jugendamt ihnen ihr jüngeres „Wunschkind“ angeboten habe. Dieses Kind habe halt aber noch ein größeres Geschwister, welches auch untergebracht werden müsse und man die Kinder eigentlich zusammen lassen wolle. Viele dieser so Befragten nahmen dann eben beide Kinder auf. Einige schilderten mir unter großer Betroffenheit, wie sie sich bemüht haben, dieser Aufgabe gerecht zu werden und wie schwierig das doch war. Andere erzählten, dass sie nur zu dem kleineren Kind eine Beziehung aufbauen konnten und das größere dann doch die Familie verlassen musste und in ein Heim kam.

Natürlich wurden Pflegeeltern auch in anderer Weise von den Vermittlungsstellen auf die Aufnahme von Geschwistern angefragt, verantwortungsvoll, informierend, auf die Familie schauend.

Für viele dieser Pflegeeltern war die Aufnahme von Geschwistern eine Freude. Sie waren der Überzeugung, dass es den Kindern so besser gehen würde – auch wenn es vielleicht mehr Mühe machen würde.

Immer wieder wurden die unterschiedlichen Sichtweisen diskutiert und je nach Erfahrungswerten deutlich vertreten.

Es wurde sehr klar: es gibt gelungene Vermittlungen von Geschwistern in Pflegefamilien und es gibt Vermittlungen, die nicht gelingen konnten.

Und ebenso deutlich wurde, dass „ideologische“ Entscheidungen – wir vermitteln nie, oder wir vermitteln immer Geschwister zusammen – keine Voraussetzungen für gute Vermittlungen sind und waren.
Die Vermittlung von Geschwisterkindern ist inzwischen ein Thema der Forschung geworden. Außerdem haben fachkundige Autoren bereits dazu geschrieben.

Ich habe Meinungen und Vorschläge zusammengesucht um Ihnen eine Auseinandersetzung mit dem Thema zu ermöglichen.

Adoption im Doppelpack? Chancen und Risiken gemeinsamer Vermittlung von Geschwisterkindern aus dem Ausland"

aus: Dr. Petra Kleinz - Fachartikel erschien in "Kindschaftsrecht und Jugendhilfe" Ausgabe 10-2008

Geschwisterbeziehungen sind die in der Regel am längsten dauernden Beziehungen im Leben eines Menschen. Sie können einen prägenden und modifizierenden Einfluss auf seine Entwicklung haben, und zwar in allen Lebensphasen, allerdings in unterschiedlicher Akzentuierung. Neben ihrer erzieherischen Bedeutung ist insbesondere ihre unterstützende Rolle bei der Identitätsentwicklung hervorzuheben.
Das Entdecken von Unterschieden, vor allem aber Ähnlichkeiten im Aussehen, bei typischen Charakterzügen sowie gleiche Erlebnisse und Erfahrungen durch das gemeinsame Aufwachsen helfen dabei, sich selbst besser kennen zu lernen und einschätzen zu können (vgl. Cierpka, M., 2001, S.444f.). Die große Bedeutung von Geschwistern bzw. des Fehlens von Geschwistern wird durch die Tatsache unterstrichen, dass ca. 20 bis 30 % der Kinder vom Vorschul- bis zum Jugendalter „imaginäre Gefährten“ (nur in der Phantasie existierende Geschwister) entwickeln. Dies betrifft auffällig viele Erstgeborene und Einzelkinder (Seiffge-Krenke, I., 2001, S.423).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Entstehung einer Bindung des traumatisierten Kindes an seine Adoptiveltern der Vorrang vor dem Erhalt von Geschwisterbeziehungen gebührt, die zwar unbestrittenermaßen bei der Eingewöhnung und bei der Bewältigung von Krisen hilfreich sein, aber für sich allein keine gesunde Persönlichkeitsentwicklung garantieren können.

Chancen der Geschwisteradoption

Geschwister besitzen unterstützende Bedeutung für die Identitätsentwicklung. Zudem wirken die gemeinsame Abstammung und identische Erfahrungen in Herkunftsfamilie oder Heim verbindend, fördern Solidarität und geben Sicherheit sowie Geborgenheit. „Ein Bruder ist wie eine Schulter“, sagt deshalb ein Sprichwort aus Somalia. Es kann daher bei einer Adoption, insbesondere einer Auslandsadoption, eine Erleichterung zumindest in der Anfangsphase für Geschwister sein, gemeinsam vermittelt zu werden. So kann ein Stück Kontinuität gewahrt bleiben und die Auswirkungen von Beziehungsabbrüchen, abruptem Wechsel von Kultur, Sprache, Klima usw. abgemildert werden.
Es gibt Studien, die nahe legen, dass bei älteren Kindern (über sechs Jahre) unter Umständen eine gemeinsame Vermittlung von Geschwistern zum Gelingen der Adoption beiträgt (Kasten, H., 2006, S. 246) Allerdings scheint die Forschung in dieser Frage nicht eindeutig zu sein. Eher selten trifft man in der deutschsprachigen Literatur und auch in mündlichen Berichten von Praktikern dagegen auf Beispiele gelungener Adoptionen von sehr jung adoptierten Geschwistern. [….] Praktiker von Vermittlungsstellen berichten gleichfalls gelegentlich von positiven Verläufen gemeinsamer Vermittlungen, wobei manchmal damit lediglich gemeint ist, dass kein Abbruch erfolgte. Offen bleibt die Frage, wie die Entwicklung der Kinder jeweils bei getrennter Vermittlung verlaufen wäre.

Risiken der Geschwisteradoption

Die Risiken gemeinsamer Vermittlung werden leicht unterschätzt. Schon ein einzelnes in der Vorgeschichte familiär traumatisiertes Kind, also ein Kind, dass nicht durch Unfall oder Katastrophe, sondern durch das Verhalten seiner Familienmitglieder traumatisiert wurde, kann seine Adoptiveltern an die Grenzen ihrer Belastbarkeit bringen. Es überträgt seine traumatischen Erfahrungen und seine psychischen Strategien zu ihrer Bewältigung, die sich als Auffälligkeiten äußern, in die neue Familie. Ein adäquater Umgang damit erfordert enorme Anstrengungen der Adoptiveltern, denen großes Einfühlungsvermögen sowie überdurchschnittliches pädagogisches und psychologisches Geschick abverlangt wird. So neigen viele Kinder zu Auffälligkeiten wie extremen Unruhe-zuständen oder emotionaler Starre, Apathie und Depression. Manche können Erregung, Affekte und Emotionen nicht regulieren oder zeigen eine Pseudoautonomie, indem sie die Kindrolle ablehnen und sich von den Adoptiveltern nichts sagen lassen, weder elterlichen Aufforderungen nachkommen noch Verbote befolgen („Pippi-Langstrumpf-Syndrom“).
Als Folge einer Traumatisierung kommt es nicht selten zur Spaltung (Dissoziation) von Gefühlen und Erinnerungen oder auch dem Einnehmen einer Opferrolle. Das Bindungsverhalten kann so nachhaltig gestört sein, dass das Kind keinen Unterschied macht zwischen Eltern und Fremden (Distanzlosigkeit). Möglicherweise ist es nicht in der age, Nähe und Zärtlichkeit zuzulassen, oder verhält sich extrem aggressiv, identifiziert sich mit dem früheren Aggressor.
Phasenweise reinszeniert das traumatisierte Kind alte Konflikte. In Übertragungssituationen werden die neuen Eltern mit den Herkunfts-eltern „verwechselt“; sie werden provoziert und getestet, wobei die Gefahr besteht, dass sie sich in ihrer Überforderung zu ähnlichen Verhaltensweisen hinreißen lassen, die das Kind von der Herkunfts-familie gewohnt war. So wird ihm die Chance genommen, korrigierende und damit heilende Erfahrungen zu machen. Stattdessen wird sein Trauma wiederbelebt und verfestigt.
Bei der gleichzeitigen Aufnahme zweier traumatisierter Kinder erhöhen sich die Belastungen für die Eltern erheblich. In vielen Fällen wechseln sich die Kinder in ihren problematischen Verhaltensweisen ab oder verstärken bzw. „triggern“ sich sogar gegenseitig, so dass den Eltern und auch den Kindern kaum Ruhepausen zur Erholung vergönnt sind.
Die Gefahr besteht, dass die Kinder sich auch in der neuen Familie gegenseitig unterdrücken und evtl. sogar physisch gefährden. Auf der anderen Seite kommt es nicht selten vor, dass zu enge Beziehungen zueinander, im Extremfall sogar symbiotische Beziehungen, erhalten bleiben. Manche Kinder bilden selbst in der Adoptivfamilie noch eine Notgemeinschaft und isolieren sich dadurch, insbesondere wenn durch die ausländische Herkunft zunächst eine Sprachbarriere zwischen Eltern und Kindern existiert. Auf diese Weise behindern sich die Geschwister gegenseitig im Bindungsaufbau zu den Adoptiveltern. Dies gilt auch dann, wenn sie sich wechselseitig an ihre dysfunktionale Herkunftsfamilie erinnern und dieser dadurch die Loyalität bewahren (vgl. Nienstedt, M./Westermann, A., 2007, S.350). Die Gewinnung von therapeutisch notwendiger sicherer Distanz zur Herkunftsfamilie und dort erlittener Traumatisierung wird so verhindert.
Nicht selten ist zu beobachten, dass ein Kind oder beide in der Anpassung oder im Agieren verharren und ihre Integration stagniert. Chronische Rivalitätskonflikte um die Zuwendung der Eltern können die Befriedigung primärer Bedürfnisse verhindern, so dass es trotz bester Absicht zu erneuten Mangelerfahrungen kommt. Besonders für ein älteres Kind ist es schwierig, seinen Nachholbedarf an Befriedigung existentieller Grundbedürfnisse zu decken und dazu phasenweise auf frühere Entwicklungsstufen zurückzufallen (zu regredieren), weil das jüngere Geschwisterkind altersbedingt intensivere Pflege und stärkere Zuwendung fordert. So kommt das ältere, das eigentlich die ungeteilte Zuwendung seiner Eltern benötigt, schnell zu kurz und kann seine Entwicklungsdefizite nicht ausgleichen. Diese Problematik verschärft sich noch, wenn das ältere Kind für das jüngere eine Elternrolle übernommen hat, denn dann wird es sehr schwer bis unmöglich sein, aus dieser Rolle wieder herauszukommen und eine altersentsprechende Kindrolle einnehmen zu können, wenn das jüngere Kind ständig zugegen ist. Dadurch verringern sich seine eigenen Chancen, in der Regression eine Möglichkeit zum Bindungsaufbau zu den neuen Eltern zu erhalten. Unter Umständen leidet das ältere Kind sogar, wenn die Adoptiveltern ihm die Versorgung des Geschwisters abnehmen. Es hat das Gefühl, dass ihm etwas genommen und es degradiert wird.
Manche ältere Geschwisterkinder werden in ihrem Selbstwertgefühl geschwächt, weil sie erkennen, dass sie lediglich „in Kauf genommen“ wurden, da die Eltern nur durch die „Adoption im Doppelpack“ das eigentlich begehrte jüngere Kind bekommen konnten.
Dies kann ein Grund sein, dass sich sowohl in der Wahrnehmung der Eltern als auch im Verhalten und in der Selbsteinschätzung der Kinder zwei extreme Rollen der Geschwister herausbilden: Das unkomplizierte und angenehme Kind und das anstrengende und auffällige Kind. Meist ist das jüngere das unproblematischere und das ältere das problematische Kind. Es ist nicht verwunderlich, dass bei einem Eskalieren der familiären Situation eher das ältere Kind aus der Familie genommen und z.B. in einem Heim untergebracht wird (vgl. Nowacki, K./Ertmer, H., 2002, S. 9)
Umgekehrt kann es passieren, dass ein jüngeres Geschwister „zu kurz kommt“ und ins Abseits gerät, weil die Eltern sich gezwungener Maßen hauptsächlich mit dem auffälligeren älteren Kind befassen müssen.
All diese Risiken und Belastungen können zum Scheitern der Adoption führen. In dem Schweizer Themenheft zur Geschwisteradoption wird so ein Fall anschaulich beschrieben. Ein Geschwisterpaar, 14 und 11 Jahre alt, wurde auf eigenen Wunsch gemeinsam vermittelt. Während sich der ältere Bruder recht gut integrieren konnte, fühlte sich die jüngere Schwester weiterhin der Herkunftsfamilie zugehörig und scheiterte als „schwarzes Schaf“, wie sie sich selbst empfand, in der Pflegefamilie. Sie verließ diese recht bald (Zatti, K.B., 2003, S. 8ff.). Allerdings stellt sich angesichts des recht hohen Alters der Kinder zum Zeitpunkt der Vermittlung die Frage, ob hier noch mit der Entstehung von Eltern-Kind-Bindungen im Sinne der Bindungstheorie gerechnet werden durfte.
In der Forschung deutet vieles trotz nicht eindeutiger Befunde darauf hin, dass bei jüngeren Kindern (unter 6 Jahren) Adoptiv- und Pflegeverhältnisse häufiger scheitern, wenn sie mit Geschwistern platziert werden (Kasten, H., 2006, S. 244) Diese Auswertung einer Literaturanalyse deckt sich mit Befunden einer Studie, in der die Daten des Pflegekinderdienstes der Stadt Herten über 15 Jahre ausgewertet wurden. Diese Studie kommt zu der Empfehlung, dass eine getrennte Unterbringung von Geschwistern, insbesondere bei jüngeren Kindern, vorzuziehen ist (Nowacki, K./Ertmer, H., 2002, S.41). Auch viele Praktiker von Adoptionsvermittlungsstellen berichten von erhöhten Abbruchquoten bei gemeinsamer Platzierung. Im Hinblick auf das Scheitern eines Adoptivverhältnisses ist zu bedenken, dass die Herausnahme eines Geschwisterkindes aus der Adoptivfamilie viel dramatischer erlebt wird, als wenn die Kinder von Anfang an getrennt untergebracht worden wären. Das herausgenommene Kind empfindet sich dann häufig als Versager und minderwertig, während das verbleibende Kind Schuldgefühle entwickelt.
Ein weiterer Aspekt verdient Augenmerk: Die besonderen Belastungen einer „Adoption im Doppelpack“ können zu chronischer Überlastung der Eltern bis hin zum Zerbrechen von Ehe und Familie oder der Entstehung von Erschöpfungszuständen und Erkrankungen führen. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Vermittlungsstellen auch eine gewisse Verantwortung für die Adoptivbewerber übernehmen, die die Risiken einer Geschwisteradoption nicht immer realistisch einschätzen können.

Risiken der gemeinsamen Geschwistervermittlung – Suche nach Lösungswegen

aus: Prof.August Huber - Bildungsangebote der Pflegeelternschule Baden-Württemberg

„Geschwisterkinder gehören zusammen“, ein schöner aber oft ein verhängnisvoller Grundsatz. Wie in Vielem zeigt sich auch hier, dass die Erfahrungen früher existentieller Not Geschwister zu bedrohlichen Rivalen machen können. Und dies vor allem dann, wenn die Notsituation durch die Unterbringung in der Pflegefamilie behoben ist. Die Kinder spüren mehr und mehr ihre eigenen übergroßen Bedürfnisse und kommen sich ins Gehege. Existenznot hat ihre Notgemeinschaft geschaffen; was vorher zusammengeschweißt hatte, fällt im sicheren Nest auseinander. Die Gefahr ist vorbei und die Kinder stellen ihren berechtigten Anspruch auf eine Mittelpunktsrolle in der Pflegefamilie. Deshalb sollte auf die ganz individuellen Nöte und Bedürfnisse der einzelnen Kinder geachtet und von dort aus die Einbettung in eine neue Familie geplant werden. Zusammenbleiben der Kinder Priorität einzuräumen verkennt deren vorrangigstes Bedürfnis nach konfliktfreier Geborgenheit. Gemeinschaftsfähigkeit setzt die Befriedigung der eigenen grundlegenden Bedürfnisse voraus. Im Seminar geht es um die Diskussion von Kriterien für problematische beziehungsweise gelingende Modelle von Geschwistervermittlung. Hierbei spielt selbstverständlich die Berücksichtigung der Altersstufe eine bedeutsame Rolle.

Sollen leibliche Geschwister gemeinsam untergebracht werden?

aus: Heinz Kindler - Handbuch Pflegekinderhilfe – „Die Entscheidung für die Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie“ S. 339-341

Eine intensive, teilweise emotional geführte Fachdiskussion hat sich um die Frage einer gemeinsamen oder getrennten Unterbringung von Geschwistern, die zum selben Zeitpunkt die Herkunftsfamilie verlassen müssen, entwickelt.
Im Hinblick auf die Eingewöhnung in der Pflegefamilie, den Beziehungsaufbau und den weiteren Entwicklungsverlauf gibt es in der deutschen Pflegekinderhilfe sowohl Stimmen, die eine regelhafte Trennung anraten, als auch Stimmen, die im Gegenteil eine gemeinsame Unterbringung als in den meisten Fällen fachlich anstrebenswerte Lösung empfehlen. Rechtlich scheint eine gemeinsame Vermittlung von Geschwisterkindern vorzugswürdig, jedoch können im Einzelfall durchgreifende kindeswohlbezogene Gründe auch eine Trennung rechtfertigen. In der Praxis der deutschen Pflegekinderhilfe scheinen Geschwisterpaaren bzw. -gruppen in einer substanziellen Minderheit von etwa 30% der Fälle gemeinsam in einer Pflegefamilie untergebracht zu werden. Da in der zugrunde gelegten Untersuchung der gemeinsame oder unterschiedliche Zeitpunkt der Fremdunterbringung der Geschwister nicht berücksichtigt werden konnte, wird vermutlich die Anzahl der Fälle unterschätzt, in denen sich die Fachkräfte der Pflegekinderhilfe bei gleichzeitig aus der Familie herausgenommenen Kindern erfolgreich um eine gemeinsame Unterbringung bemüht haben.

Im Rahmen der DJI-Fallerhebung wurde die Belastung durch Verhaltensauffälligkeiten und die eingeschätzte Integration in der Pflegefamilie für vier Gruppen von Kindern verglichen:

  • »doppelte« Einzelkinder, d.h. Kinder, die ohne andere Kinder in der Pflegefamilie leben und die auch keine Geschwister haben;
  • Kinder, die mit mindestens einem Geschwisterkind in der Pflegefamilie leben;
  • Kinder, die von allen Geschwistern getrennt sind und ohne andere Kinder in der Pflegefamilie leben;
  • Kinder, die von allen Geschwistern getrennt sind, aber mit anderen Kindern in der Pflegefamilie leben.

Unter statistischer Kontrolle des Alters zeigten Kinder, die mit Geschwistern in der Pflegefamilie lebten, die geringste Belastung durch Verhaltensauffälligkeiten. Allerdings waren die Unterschiede zu
den anderen Gruppen nicht gegen den Zufall abgrenzbar, wurden also nicht statistisch signifikant.

Auch bei der eingeschätzten Integration in die Pflegefamilie ergaben sich keine statistisch bedeutsamen Gruppenunterschiede, wenngleich die eingeschätzte Integration der mit Geschwistern untergebrachten Kinder etwas höher lag als die der von allen Geschwistern getrennten Kinder. Wurde die Analyse auf Kinder beschränkt, bei denen eine Kindeswohlgefährdung zur Fremdunterbringung geführt hatte, so änderte sich das Befundbild nicht wesentlich.
Die Ergebnisse der DJI-Fallerhebung geben damit keinen Anhalt für eine aus psychologischen Gründen generell erforderliche Geschwistertrennung. Solche Hinweise ergeben sich auch nicht aus der internationalen, allerdings nicht sehr umfangreichen Befundlage.
Geschwistertrennungen als im Regelfall fachlich zu bevorzugender Option sind daher zurückzuweisen.
Dies schließt allerdings nicht aus, dass es Fallkonstellationen gibt, in denen eine Geschwistertrennung anzuraten sein könnte. Ein gutes Beispiel hierfür bietet eine amerikanische Längsschnittstudie, in der
bei gemeinsam platzierten Kindern positive Geschwisterbeziehungen einen Vorteil für die weitere Entwicklung und konfliktreiche Geschwisterbeziehungen eher einen Nachteil boten. Im Verhalten zu Beginn der Platzierung sehr belastete Kinder konnten häufiger zu einer positiven Verhaltensanpassung finden, wenn sie im Verlauf von Geschwistern getrennt wurden. Im Verhalten anfänglich wenig auffällige Kinder litten hingegen eher unter einer Geschwistertrennung und erschienen nachfolgend stärker problembelastet. Vor dem Hintergrund solcher Befunde lassen sich einige Vermutungen äußern, unter welchen Umständen eine Geschwistertrennung vertretbar sein kann. Dies betrifft Kinder mit ausgeprägten Verhaltensstörungen, sehr konfliktträchtiger oder von erheblichen Übergriffen gekennzeichneter Beziehung zueinander sowie Geschwister, die aufgrund der Vorgeschichte keine gefestigte Beziehung zueinander aufbauen konnten. Für die fachliche Vorgehensweise bedeutet dies, dass im Rahmen der Vorbereitung der Fremdunterbringung mit Erwachsenen und Kindern gesprochen
werden muss, welche Beziehung gleichzeitig fremd unterzubringende Geschwister bislang zueinander gepflegt haben.
Mehr zum Handbuch Pflegekinderhilfe

Das Jugendamt hat wegen der Aufnahme von Geschwisterkindern angefragt! Was tun?

aus: Alice Ebel - Praxisbuch Pflegekind S. 84-85-86

Natürlich wäre es für das einzelne Kind ein zusätzlicher Trennungsschmerz, sich auch noch von dem/den Geschwister/n verabschieden zu müssen. Und natürlich haben die Kinder schon so viel durchgemacht, dass ihnen dies nicht auch noch zugemutet werden soll. Ich stimme dem auch zu, vor allem bei Kindern, die nur für eine begrenzte Zeit in einer Pflegefamilie leben und dann zu ihrer Herkunftsfamilie zurückkehren sollen und auch bei Geschwistern, die gemeinsam gelebt haben und eine gelungene annehmende und einander stützende und fördernde Beziehung entwickeln konnten. Auch bei Geschwisterkindern, die bisher gar nicht zusammen gelegt haben z.B. weil das ältere Kind bereits vor der Geburt des leiblichen Geschwisters in der Pflegefamilie lebt oder die Kinder in getrennten Heimen aufgewachsen sind, ist der Gedanke einer gemeinsamen Unterbringung einleuchtend.
Bei misshandelten und traumatisierten Kindern, die dauerhaft untergebracht werden sollen und die bisher gemeinsam in der Herkunftsfamilie gelebt haben, sieht es anders aus. Denn Kinder, die zusammen schwere Zeiten durchgemacht haben, entwickeln eine sehr eigene, nicht unbedingt entwicklungsförderliche Dynamik. Sie waren gezwungen, um in einer sehr ungünstigen bis hin zu schwer traumatisierenden Lebenssituation möglichst unbeschadet zu „überleben“, sich auf eine Art miteinander zu verbi(ü)nden, die nicht einer „normalen“ gelungenen Geschwisterbeziehung entspricht. Oft haben sie „pathologische“ Beziehungsmuster gebildet. Zum Beispiel hat eins der Kinder die Mutterrrolle für die/das Geschwister übernommen oder die Kinder lebten in harter Konkurrenz, und das wenige, was es in der Herkunftsfamilie gab; oder eins war in der Herkunftsfamilie das „gute“ geliebte und das andere das „schlechte“ abgelehnte Kind. etc. […]
Solche Rollenverteilungen führen häufig zu hartnäckigen Verhaltensauffälligkeiten und sind oft sehr „resistent“ gegen jede Art von pädagogischer Intervention, selbst wenn sie in der Pflegefamilie nicht
mehr nötig oder nicht mehr angemessen sind. Die Entstehung von Bindungsbeziehungen zu den Erwachsenen wird dadurch erschwert. Die Kinder suchen nach Sicherheit in den alten, vertrauten Rollen.
[…]
Es ist sehr wichtig zu berücksichtigen, was die Aufnahme von Geschwistern für die leiblichen Kinder der Pflegefamilien bedeuten würden. Sowohl die Anzahl der Geschwisterkinder, wie auch ihr Alter
und ihre Störungsbilder sind entscheidend. […]
Nicht nur für die Pflegefamilie ist die gemeinsame Aufnahme von Geschwistern eine besondere Herausforderung, auch für die aufgenommen Kindern hat die Sache einen Haken. Die Anwesenheit des Geschwisterkindes sorgt nämlich nicht nur dafür, dass es für das einzelne schwer ist, aus seiner alten „pathologischen“ Rolle herauszukommen. Sie sorgt darüüber hinaus außerdem dafür, dass sich die Kinder ständig gegenseitig an gemeinsam erlittene frühere Traumata erinnern. Nicht im aktiven Sinne durch Erzählungen, sondern Kraft ihrer Anwesenheit und ihres Auslebens der alten Rolle, die ja durch die überlastende, oft ernsthaft traumatisierende Lebenssituation geformt wurde. Dies erschwert es den Kindern sehr, die neue Familie als echte neue Chance zu nutzen, korrigierende Beziehungserfahrungen zu machen und ihre Traumata aufzuarbeiten. Sie behindern sich dann eher in ihrer jeweiligen Entwicklung, als dass sie einen wirklichen Nutzen von der gemeinsamen Unterbringung haben.

Mehr zum Praxisbuch Pflegekind

Darf man Geschwister bei der Vermittlung trennen?

aus: Paula Zwernemann - Praxisbuch Pflegekinderwesen 2. Auflage S. 114 ff.

Früher galt die eiserne Regel: Geschwister dürfen nicht getrennt werden. Geschwisterbindung hat für Kinder eine große Bedeutung, sie darf jedoch nicht undifferenziert idealisiert werden.
Die Familienstruktur, in der Geschwister bisher gelebt haben, ist ausschlaggebend. Geschwister mit traumatischen Vorerfahrungen sind anders zu bewerten als Geschwister, deren Eltern bei einem Unfall ums Leben kamen und die Geschwister bisher in einer intakten Familie befriedigende Beziehungen entwickelt haben. Konnten, vor dem Verlust der Eltern, liebevolle geschwisterliche Bande entwickelt werden, entspricht in der Regel die Geschwistertrennung nicht dem Wohl der Kinder, zumal sie gemeinsam die Trauer erleben und sich hier in einem tiefen Verständnis begegnen können. Die Geschwister können sich in diesem Fall gegenseitig helfen, und der Geschwisterbindung kann ein hoher Stellenwert im Leben dieser Kinder zukommen.
Bowlby spricht bei Geschwistern von einer „Nebenbindung“. Er weist auf die hierarchische Ordnung der kindlichen Bindungsstruktur hin. Geschwister haben eine nebengeordnete, wenn auch wichtige
Bedeutung für die Entwicklung des Kindes.
Klußmann sagt, dass die Hauptbezugsperson die vitalen Lebensbedürfnisse des Kindes befriedigen
und die Geschwister die darüber hinausgehenden Entwicklungsbedürfnisse. Das Kind kann im Hinblick auf seine seelische Unversehrtheit auf die Hauptbezugsperson nicht verzichten, wohl aber auf
Geschwister, da deren Funktionen von anderen „Nebenfiguren“ übernommen werden können.
Monika Nienstedt / Arnim Westermann weisen darauf hin, dass den Geschwisterbindungen ein prägender Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes zukommt, jedoch nicht die Grundlage für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes sind, weil diese durch die Eltern-Kind-Beziehungen gelegt werden, die den Geschwisterbeziehungen vorgeordnet sind.
Geschwistersolidarität kann über Krisen hinweghelfen. Im Märchen Hänsel und Gretel stehen die Geschwister einander in der Not bei, bis sie nach der Überwindung dieser Notsituation zum liebenden Vater zurückkehren und „in lauter Freude zusammenleben“.
Diese Notsituation kann, nach der Trennung und der Aufnahme in einer Bereitschaftspflegefamilie in der Klärungsphase, den Kindern helfen, mit weniger Angst in der neuen Situation zu leben.
Wenn Kinder innerhalb des für den kindlichen Zeitbegriff tolerierbaren Rahmens nicht in die Herkunftsfamilie zurück können, sind die zuvor erlebten familiendynamischen Beziehungen ausschlaggebend für die Beurteilung, ob Geschwister getrennt werden müssen, um jedem Kind gerecht werden zu können. Es ist auch zu beachten, dass die Geschwister, von Zwillingen abgesehen, aufgrund des unterschiedlichen Alters einen unterschiedlichen Zeitbegriff haben, in dem eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie möglich erscheint. Was für das sechs Jahre alte Geschwisterkind ein noch tolerierbarer Zeitrahmen sein kann, ist es für das als Baby vermittelte Kind nicht mehr.
Kinder mit chaotischen Familienerfahrungen können zum einen wegen des unterschiedlichen Zeitempfindens aber auch wegen der unterschiedlichen Verarbeitungsmöglichkeiten der bisherigen Familienerfahrungen nicht zusammen gekettet werden.
Bei Kindern, die vernachlässigt wurden, ist dem ältesten Geschwister oft die Rolle des Versorgers zugekommen. Es musste in der Notgemeinschaft für die jüngeren Geschwister die Elternrolle übernehmen und war damit in eine extreme Überforderungssituation geraten.
Ein schwer vorgeschädigtes Kind braucht seine neuen Eltern oft allein für sich. Für solche Fälle haben sich vor allem kinderlose Ehepaare bewährt. Hier ist es manchmal möglich, auch Geschwister unterzubringen.
Trotzdem kann es leicht zu einer Überforderung sowohl der Pflegeeltern wie auch der einzelnen Kinder kommen. Wenn Geschwister aus ideologischen Gründen nicht getrennt untergebracht werden, kommt es häufig vor, dass sie am Ende in ein Heim gegeben werden. Im Nachhinein habe ich oft hören müssen, dass die Geschwister nicht in der gleichen Heimgruppe betreut werden konnten. Es ist die Frage zu stellen, welche die weniger schädliche Alternative ist.
In meiner beruflichen Praxis wurden in zwei Fällen jeweils fünf Geschwister in ein Kinderdorf gegeben, um dort zusammen zu leben. Beides Mal ist die Integration gescheitert, weil die Kinder die alten krankmachenden Strukturen und Verhaltensweisen in die neue Gruppe hineingetragen haben. Die Voraussetzungen waren zumindest in einem Fall hervorragend. Eine erfahrene Kinderdorfmutter bekam zusammen mit einem Erzieher ein schönes Häuschen für die Kinder und sich. Heilpädagogische Hilfen waren alle vorhanden. Trotz Erfahrung, Hilfen und gutem Willen brach die Kinderdorfmutter bald unter der Last der Erziehung dieser fünf traumatisierten Kinder zusammen. Die Kinder lebten ihr eigenes Leben und die Einflussmöglichkeiten der Erzieher waren so gering, dass eine Beziehung zu der Kinderdorfmutter nicht entstehen konnte.
Ich erinnere mich zudem an zwei Geschwister, die gemeinsam eine gute Entwicklung in einer kinderlosen Familie hatten, bis später das dritte Geschwisterkind in die gleiche Familie gegeben wurde. Diese Geschwister kannten sich nicht. Ein Jugendamt hatte aus ideologischen Gründen trotzdem von „Geschwistertrennung“ gesprochen und konnte das getrennte Aufwachsen nicht akzeptieren. Das brachte das ganze Familiensystem zum Kippen.
Hier ist wichtig, dass das Jugendamt über eine Fachkraft verfügt, die spezialisierte Kenntnisse im Pflegekinderwesen hat. Allein die biologische Abstammung, bei fehlender Geschwisterbindung, kann kein Kriterium für eine gemeinsame Vermittlung sein.
Die Wahrscheinlichkeit, dass sich bei der Aufnahme von Geschwisterkindern die Geschwister gegenseitig in der Aufarbeitung der Vorerfahrungen und der Entwicklung neuer Eltern-Kind-Beziehungen behindern, ist so hoch, dass in der Regel Geschwister, die auf Dauer in eine Pflegefamilie integriert werden sollen, getrennt zu vermitteln sind.
Diese von Nienstedt/Westermann vorgeschlagene Geschwistertrennung kann aufgrund meiner Erfahrung nur dort zu umgehen sein, wo besonders gute Voraussetzungen auf Seiten der Kinder und auf Seiten der Pflegefamilie vorliegen, also bei Kindern, die sehr gute Verarbeitungsmöglichkeiten haben und die in der neuen Familie nicht in Rivalitätskonflikten mit Geschwistern konfrontiert werden.
Wenn Geschwisterkinder in eine Familie mit bereits in der Familie lebenden Kindern gegeben werden und die in der Familie lebenden Kinder nicht wesentlich älter sind, ist es die Regel, dass sich zwei
Geschwistergruppen bilden, die sich gegeneinander abschotten. Die neu hinzu gekommenen Pflegekinder haben kaum eine Chance, befriedigende Eltern-Kind-Beziehungen aufzubauen. Die Pflegekinder erleben, dass die in der Familie lebenden Kinder eine enge Beziehung zu den Eltern haben, die sie selbst noch nicht einmal ansatzweise entwickeln konnten, und sie kommen sofort in eine Konkurrenzsituation, in der sie nur Verlierer sein können.
Geschwister, die aus chaotischen Familiensituationen heraus kommen, setzen ihre alten Verhaltensmuster in der Regel in der neuen Familie fort.
Ich denke an zwei Mädchen, sechs und acht Jahre alt, die zu einem pädagogischen Fachehepaar vermittelt wurden. Sie suchten zunächst Zuwendung bei den neuen Eltern, setzten jedoch ihre alten Verhaltensmuster bis hin zu einem für die Pflegeeltern nicht zu akzeptierenden Sprachgebrauch fort. Als die Kinder die Erfahrung machen mussten, dass sie mit ihrem bisherigen Verhalten auf Kritik stießen, zogen sich die Mädchen in ihr Zimmer zurück und versuchten ein Eigenleben innerhalb der Familie zu führen, was zum Scheitern des Pflegeverhältnisses führte. Die Kinder konnten sich nicht integrieren und sie konnten keine neuen Verhaltensmuster lernen
Ein anderes Beispiel:
Fünf Geschwisterkinder verloren ihre Eltern durch einen Unfall. Die Familie galt bereits vorher als Problemfamilie. Die Kinder waren vernachlässigt, es fand bereits vor dem Unfall eine Rollenumkehr
statt, das älteste Mädchen übernahm die Versorger-Rolle. Das jüngste Kind war ein Baby, das älteste Mädchen 12 Jahre alt. Die beiden jüngsten Geschwister kamen zu einer Tante, die drei älteren Kinder zu einer erfahrenen Pflegefamilie. Das 12-jährige Mädchen übernahm sofort die Führung der Geschwister, verbot den Geschwistern, auch als diese das wünschten, zu den Pflegeeltern Mama und Papa zu sagen und falls die in ihrer Pflegefamilie lebenden Geschwister dies doch einmal taten, machte sie ihnen heftige Vorwürfe und förderte Schuldgefühle den verstorbenen Eltern gegenüber. Das Gleiche versuchte das Mädchen bei den zwei jüngsten Geschwistern, die bei der Tante lebten. Die Familie der Tante wusste sich schließlich nicht anders zu helfen, als den Kontakt mit den großen Geschwistern zu unterbinden. Diese beiden Kinder nahmen eine gute Entwicklung, wurden die Kinder dieser Familie, während die drei großen Geschwister unter der Anleitung der Ältesten trotz guter Voraussetzungen in der Pflegefamilie Fremde blieben.
Dass auch Heime mit Geschwistern überfordert sein können, wurde oben beschrieben.
Immer wieder kommt es vor, dass nachgeborene Kinder aus grundsätzlichen Erwägungen heraus in die Pflegefamilie vermittelt werden, in der das ältere Geschwister lebt. Hier kann nicht von Geschwisterzusammenführung gesprochen werden. Diese Kinder sind sich genauso fremd wie andere Kinder, was nicht heißt, dass im Einzelfall eine Vermittlung in diese Familie sinnvoll sein kann.
(Paula Zwernemann verweist in ihrem Buch mit Fußnoten auf weitere Literatur.)
Das Praxisbuch Pflegekinderwesen auf Moses Online

Fremdunterbringung – gemeinsam oder getrennt? Risiken und Chancen

aus: Daniela Reimer - Pflegekinderstimme S. 110-112

In wenigen Situationen muss die Entscheidung eindeutig für eine getrennte Unterbringung fallen. Eine Interviewpartnerin wurde von ihrem älteren Bruder sexuell missbraucht. In diesem Fall wäre es unverantwortlich, die Kinder gemeinsam in einer Pflegefamilie unterzubringen.
In einer Zusammenschau der Interviews wird aber deutlich, dass in den meisten Fällen beide Entscheidungen sowohl Risiken als auch Chancen bergen.
Ein Risiko bei einer gemeinsamen Unterbringung ist, dass die in den desolaten Situationen in der Herkunftsfamilie erlernten Rollen weitergeführt werden und sich die Geschwister dadurch in ihrer Entwicklung hemmen. Die Herkunftsfamilie bleibt mit den gemeinsam untergebrachten Geschwistern ständig präsent und es ist schwieriger, die Geschwister in die Familie zu integrieren. Oft schaffen es
die Geschwisterpaare nicht, sich aus ihren alten Rollen zu lösen. […]
Dem gegenüber stehen die Chancen der gemeinsamen Platzierung in einer Pflegefamilie. Eine Fremdunterbringung ist für Kinder ein einschneidendes Erlebnis, das – insbesondere zu Beginn – die Kinder verwirrt. Viele berichten davon, dass sie sich ausgeliefert fühlten und dabei ihre ganze Sicherheit verloren haben. Geschwister als zentrale Bezugspersonen können sich in dieser Situation gegenseitig Rückhalt geben.
Auch eine getrennte Unterbringung birgt Chancen und Risiken. Die große Chance besteht darin, dass sich Kinder, wenn sie alleine – von den Geschwistern getrennt – untergebracht werden, schneller an
andere Personen, also Pflegegeschwister und andere Erwachsene binden und sich leichter in die Familie integrieren lassen. Insbesondere die älteren Schwestern, die oft die Sorgefunktionen für die jüngeren übernommen haben, berichten darüber, dass sie es in der Pflegefamilie genießen konnten, endlich nicht mehr verantwortlich zu sein, endlich „Kind zu sein“ und sich von erwachsenen Bezugspersonen verwöhnen zu lassen.
Gleichzeitig besteht das Risiko, dass es trotz getrennter Unterbringung den Kindern nicht gelingt, sich von der Verantwortung für ihre Geschwister zu lösen. Dies verstärkt sich, wenn jüngere Geschwister
in der Herkunftsfamilie zurück bleiben. […]
Aus der (im Buch vorhergehenden) Textpassage wird deutlich, wie die ältere Schwester in der Sorge um den jüngeren Bruder verblieben ist und damit wiederum nicht alle Entwicklungschancen, die sich ihr in der neuen Pflegefamilie geboten haben, vollständig nutzen konnte. Ähnliche Sorgen machen sich ältere Geschwister regelmäßig, wenn sie davon erfahren, dass die leiblichen Eltern weitere Kinder nach der Fremdunterbringung bekommen haben. Wenn Kontakt zu den Herkunftseltern besteht und
die Kinder sehen, dass sich ihre jüngeren Geschwister dort wohl fühlen und gut entwickeln, dann stellen sie sich oft die Frage, warum sie selbst nicht dort leben können, werden neidisch auf die Geschwister und zweifeln an sich.

Pflegekinderstimme auf Moses Online

Geschwisterbeziehungen bei Pflegekindern - Kriterien zur gemeinsamen oder getrennten Unterbringung

aus Annegret Freiburg - „Kindheit in Pflegefamilien“ S. 92 ff. Auszug S. 104 Zusammenfassung und Ausblick

Der Artikel geht vor einer vernachlässigten Kategorie im Pflegekinderwesen aus: Welche vergleichbaren Kriterien führen zur gemeinsamen oder zur getrennten Unterbringung von Kindern in Pflegefamilien.
Dazu wurden drei Ansätze vorgestellt:

  1. Die Psychoanalytische Sichtweise, die Rivalitäten unter Geschwistern voraussetzt. Eine konsequente Umsetzung dieser Annahmen vermittelt Geschwisterkindern wegen der gegenseitigen

Behinderung nicht gemeinsam

  1. Die systemische Familienforschung, die im Subsystem der Kindern eigene Potentiale erkennt und sich bisher lediglich außerhalb des Pflegekinderwesens mit Geschwisterbeziehungen befasst hat.
  2. Die Bindungstheorie, die zwischen Kind und Mutter ein lebenssicherndes Band annimmt und in sekundären Bindungen Geschwisterbeziehungen beleuchtet.

Die beiden letzten Ansätze haben zwar eine große Anzahl von Untersuchungen und Veröffentlichungen zu Geschwisterbeziehungen initiiert, sich jedoch nicht dem speziellen Gebiet der Geschwisterbeziehungen von Pflegekindern zugewandt.
Die Komplexität der Problematik konnte hier ( im o.a. Artikel) nur ansatzweise vorgestellt werden, folgendes Erkenntnisinteresse kann jedoch festgehalten werden: Es ist notwendig, Geschwisterbeziehungen im Pflegekinderwesen einen deutlicheren Wert zuzumessen, um Kontinuitäten im Kinderleben und im kindlichen Erleben zu erhalten und zu stärken. Je desolater und chaotischer Abschnitte in der Kindheit verlaufen, desto notwendiger ist es für die seelische Gesundheit des Menschen, dass Geschwisterbeziehungen erhalten bleiben können.
Das Buch Kindheit in Pflegefamilien auf Moses Online

Gründe für die gemeinsame Vermittlung von Geschwistern und Geschwister bei Vermittlung trennen?

aus: Irmela Wiemann - 'Adoptiv- und Pflegekindern ein zuhause geben' Seiten 184-187

Geschwister sind Teil der Welt, gehören zum Leben. […]
Untersuchungen haben ergeben, dass die gemeinsame Vermittlung von Geschwistern in eine neue familiäre Umgebung angstreduzierend wirkt. Die Kinder können sich dann langfristig besser stabilisieren, weil sie sich nicht komplett entwurzelt haben. […]
Durch gemeinsame Vermittlung bekommen Geschwisterkinder die Chance, eine frühe Bindung in ihrem Leben zu bewahren. Durch die Trennung von Geschwistern, die Tag und Nacht in enger Abstimmung miteinander gelebt haben, wird Kindern eine weitere seelische Verwundung zugefügt, was ihre innere Vereinsamung und ihr Misstrauen gegenüber neuen Bezugspersonen verstärken kann.
Geschwister werden häufig von den Vermittlungsdiensten getrennt untergebracht. Zum einem fehlt es an Pflege- und Adoptivfamilien, die Geschwister aufnehmen. Zum anderen gibt es auch fachliche Positionen, die die Trennung von Geschwistern ausdrücklich befürworten. Sie argumentieren, die Kinder seien so verhaltensauffällig und verletzt, dass ein Elternpaar die Bedürfnisse von zwei oder mehreren Kindern nicht abdecken könne. …
Ein weiteres Argument der Befürworter von Geschwistertrennung lautet, ein Kind, das allein in eine Familie kommt, ließe sich besser integrieren. Käme es hingegen zusammen mit einem Geschwister zu neuen Eltern, so wäre der Beziehungsaufbau zu den Erwachsenen erschwert. Mit anderen Worten: Ein Kind lässt sich besser auf neue Menschen ein, wenn wir es zuvor nochmals verwunden und vereinsamen?
[…]
Ein anderes Argument lautet: Geschwister wurden oftmals gemeinsam traumatisiert und beim weiteren Zusammenleben könnten die alten Wunden nicht heilen. Doch die frühere Zeit hat nicht nur aus Schmerz und Bedrohung bestanden, die Kinder haben sich auch gegenseitig Schutz, Trost und Halt gegeben. Die Vertrautheit und Solidarität und den Geschwistern, das gemeinsame Integrieren der furchtbaren Erfahrungen in das weitere Leben sind wertvolle Schutzfaktoren.
Manchmal wird auch begründet, die Kinder behinderten sich gegenseitig. Sie hätten starke Rivalität, würden sich erbittert streiten, wären missgünstig untereinander. […]
In Normalfamilien kommt niemand auf die Idee, Geschwister für ihr restliches Leben zu trennen, auch wenn sie sich durch Rivalität, Dominanz oder durch heftige Streitigkeiten das Leben schwer machen.
Zuweilen heißt es auch, dass das ältere Kind daran gewöhnt sei, für das jüngere zu sorgen. Es müsse aber lernen wieder Kind zu sein. Hat ein älteres Kind in der Herkunftsfamilie zu viel Verantwortung für die jüngeren Geschwister getragen, so kann die abrupte Fortnahme dieser Aufgabe dieses Kinder eher belasten. Seine bisherigen Überlebensfähigkeiten werden plötzlich nicht mehr gebraucht. Dieser erzwungene Rollentausch führt bei Kinder oft zur Verwirrung. Sie benötigen kleine Übergangsschritte.
Auch wird oft übersehen: Die Ursache für belastende Geschwisterbeziehungen sind die Einflüsse der Eltern. In einer neuen Umgebung mit neuen Bindungspersonen und neuen Vorbildern ändert sich
meist auch das eingespielte Verhalten der Geschwister. Nach einem Umgebungswechsel kann das destruktive Element oft korrigiert werden. Dies sollte auf alle Fälle versucht werden, bevor eine Trennung von Geschwister erwogen wird.
"Wann ist eine getrennte Vermittlung sinnvoll?"
Getrennte Vermittlung von Geschwistern ist überall dort möglich und nicht schädlich, wo die Kinder keinen „hohen Zugang“ zueinander hatten:

  • Kinder, die nicht miteinander gelebt haben
  • Kinder, die schon lange getrennt waren
  • Neugeborene, wenn die älteren Kinder sich vergewissern können, wo das Kind lebt

"Kinder sollten getrennt vermittelt werden bei":

  • Erlittene Gewalt durch ein älteres Geschwisterkind
  • Sexueller Misshandlung durch einen älteren Bruder oder einer älteren Schwester
  • Extrem aggressiven, destruktiven Verhaltensmustern mit geringer Besserungsprognose

Wurden Geschwisterkinder getrennt untergebracht, so ist –außer bei zurückliegenden Misshandlungssituationen – sicher zu stellen, dass die annehmenden Familien den Geschwistern häufigen Kontakt zueinander ermöglichen.
Das Buch bei Moses Online

Geschwister in der stationären Erziehungshilfe

Besonders intensiv beschäftigt sich eine Broschüre des Sozialpädagogischen Institutes der SOS Kinderdörfer mit der Frage der Vermittlung von Geschwisterkindern aufgrund der Auswertung vorhandener Forschungsergebnisse:
"Geschwisterbeziehungen in der außerfamilialen Unterbringung.
Erkenntnisse und Entwicklungsbedarf"

aus: Maja Heiner und Sibylle Walter - Materialien 8 „Geschwister in der stationären Erziehungshilfe“ Seite 7:
Angesichts der zentralen Bedeutung, die Geschwister füreinander einnehmen können, ist der Befund ernüchternd. Die Wissenslage zum Thema „Geschwisterbeziehungen“ in der Kinder- und Jugendhilfe,
und da wiederum im Bereich der Fremdunterbringung ist nur unzureichend erschlossen und dokumentiert.
Weder wird dieses Thema von der offiziellen Statistik erfasst, noch liegen in nennenswertem Umfang Praxisberichte oder empirische Studien vor, die die Bedeutung dieser natürlichen Nahebeziehungen im Rahmen der Hilfen zur Erziehung gezielt in den Blick genommen und bearbeitet hätten.
Auch im Herzstück der Kinder- und Jugendhilfe, dem Hilfeplanverfahren, kommen die Beziehungen unter Geschwistern ehe am Rande und informell zu Sprache, geschweige, dass sie bei Entscheidungen
zur Fremdplatzierung systematisch berücksichtigt würden
In dieser Broschüre werden Ergebnisse von Forschungen ausgewertet und aufgeführt. Aufgrund der vielen Benennungen ist es schwierig, einen zusammenhängenden Text zu zitieren. Kurze Auszüge veranschaulichen die Arbeit daher besser:
S. 16 / 17:
Den maßgeblich positiven Einfluss von Geschwistern auf das psychische Wohlbefinden bestätigen die meisten anderen Forscherinnen und Forscher sowohl für Mädchen wie auch für Jungen. Sie kamen auch zu dem Ergebnis, dass Geschwister gerade dann wichtig sind, wenn sich Familienstrukturen verändern:
Im Prozess der Reorganisation der Familie stehen sie für Kontinuität und wirken bestärkend, wo nicht mehr zu tragen scheint. […]
Somit kann gemeinsame Unterbringung auch dazu beitragen, dass Kinder sich mit der neuen familiären Situation leichter arrangieren […]
Insbesondere beim Verlust der primären Bezugsperson wird der Beziehung der Geschwister zueinander ein positiver Effekt zugeschrieben. ….. bezeichneten im Sinne der Bindungstheorie die Funktion, die ältere Geschwisterkinder hierbei für jüngere übernehmen können, als eine Art sichere Basis, von welcher aus das weitere soziale Umfeld erkundet wird. […]
Einige Forschungsarbeiten weisen zudem darauf hin, dass eine gemeinsame Unterbringung von Geschwistern insgesamt die Stabilität der Betreuungsverhältnisse fördern und die Gefahr von Abbrüchen mildern kann. […] Dies gilt insbesondere für Kinder ab zirka 6 Jahren.
Hartmut Kasten (u.a.) kam zu dem Ergebnis, dass bei jüngeren Kindern eine gemeinsame Platzierung dagegen eher zur Instabilität der Unterbringung beiträgt und bei ihnen Abbrüche häufiger vorkommen. Die Einschätzung, ob eine gemeinsame oder getrennte Unterbringung angemessen wäre, wird zusätzlich dadurch erschwert, dass biografische Veränderungen (zum Beispiel Trennung oder Scheidung der Eltern, elterliche Auseinandersetzungen zu einer (vorübergehenden) Veränderung der Geschwisterbeziehungen führen können.
R. Folmann zeigte in ihrer qualitativen Studie, dass insbesondere Kinder, die im Alter zwischen acht und vierzehn Jahren ihre Herkunftsfamilie verlassen mussten, den Verlust der Geschwister als traumatische Erfahrung beschreiben. Dazu gehört ein starkes Verlustempfinden und Sehnsucht nach den Geschwistern.
Auch M.Ward betont die starken emotionalen Auswirkungen einer Geschwistertrennung:
Diese führt … zu denselben Angstgefühlen wie die Trennung von den Eltern, in einigen Fällen bewirkt die Trennung von den Geschwistern sogar noch heftigeres Leid […]
Eine positive Geschwisterbeziehung, geprägt von gegenseitiger Nähe und Wärme, kann zu einem geringeren, eine negative Geschwisterbeziehung mit Konflikten und Rivalitäten dagegen zu einem deutlicheren Problemverhalten der Kinder in naher Zukunft führen. Chronische Geschwisterkonflikte gelten als entscheidende Risikofaktoren für die weiteren Verhaltensentwicklung.
Das Buch bei Moses Online: www.moses-online.de/node/10284

Anforderungen an die Praxis

Durch Berichte von Pflegeeltern wurden einige Anforderungen besonders notwendig:

  1. Die Vermittlung von Geschwistern muss deutlich als Vermittlung von zwei oder mehreren Kindern dargestellt werden – es darf nicht ein Kind als Zugabe zu einem erwünschten Kind vermittelt werden. Hier entsteht ein massiver emotionaler Druck auf die Pflegeeltern.
  2. Die Geschwister sind kein Doppelpack, sowohl nicht in ihren persönlichen Empfindungen, als auch nicht in dem Erleben und Verarbeiten ihrer bisherigen Erfahrungen. Jedes Kind ist ein Individuum und als solches zu betrachten.
  3. Ideologische Sichtweisen auf die Vermittlung von Kindern müssen unterbleiben. Es gilt allein die Frage der möglichen Vermittelbarkeit zu möglichen geeigneten Pflege- oder Adoptiveltern.
  4. Die Pflege- oder Adoptiveltern müssen wissen, auf was sie sich bei der Vermittlung dieser Geschwister einlassen würden.
  5. Von besonderer Bedeutung ist das Wissen der aufnehmenden Pflege- oder Adoptiveltern über die unterschiedlichen „Rollen“ der Kinder in ihrer Herkunftsfamilie.
  6. Die schon in der Pflege- oder Adoptivfamilie lebenden Kinder sind unbedingt und auch hier wieder in ihrer individuellen Situation in die Überlegungen mit einzubeziehen.
  7. Die annehmende Familie muss in ihrer Gesamtheit vor und während der Unterbringung von Geschwistern umfassend, zuverlässig und wertschätzend begleitet und betreut werden.
  8. Diese Betreuung und Begleitung muss jedes der Geschwisterkinder als eigene Persönlichkeit sehen. Für jedes einzelne Kind wäre daher eine eigene Hilfeplangestaltung angemessen. Ebenso können Zusatzhilfen für das einzelne Kind notwendig sein.

Links zum Thema

Rechtliche Fragen zur Geschwistervermittlung

www.sos-fachportal.de/linkableblob/85104/data/spimaterialien10-data.pdf

Zur getrennten Vermittlung von Geschwisterkindern in Pflegefamilien

www.kjp-muehlhausen.de/download/voelker2.pdf

Vermittlung von Geschwistern in Pflegefamilien

www.pflegeeltern.at/fileadmin/user_upload/Zeitschrift/02-2010_Getrennt_oder_gemeinsam_-_Vermittlung_von_Geschwistern_in_Pflegefamilien.pdf

Gemeinsame Vermittlung von Geschwistern

www.irmelawiemann.de/seiten/papiere.htm#geschwister