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01.06.2015
Fachartikel

Wirksame Hilfen für bindungsgestörte Pflegekinder

Auszug aus der Facharbeit "Psychologisch-pädagogische Qualität in der Begleitung von Pflegekindern unter dem Aspekt der Bindungsstörung". Autorin Corinna Jung schrieb – motiviert durch ihre eigenen Pflegekinder – diese Facharbeit für ihre Fachschule für Sozialpädagogik im März 2015.

Auszüge aus der Facharbeit "Psychologisch-pädagogische Qualität in der Begleitung von Pflegekindern unter dem Aspekt der Bindungsstörung"

Autorin Corinna Jung schrieb – motiviert durch ihre eigenen Pflegekinder – diese Facharbeit für ihre Fachschule für Sozialpädagogik im März 2015. Die Auszüge aus der Facharbeit für diese Veröffentlichung beinhalten besonders die eigenen Erfahrungen der Autorin und ihren Pflegekindern.

Die gesamte Facharbeit können Sie hier nachlesen

Einleitung

Als ich vor mehr als elf Jahren die Entscheidung traf, ein Pflegekind aufzunehmen, wusste ich in groben Zügen, welche Probleme diese Kinder haben können und dass sie deutlich höhere Anforderungen an die Bezugspersonen stellen als andere Kinder. Wie tiefgreifend die Störungen sein können und wie hoch die Anforderungen an das Umfeld der Kinder jedoch tatsächlich sind, war mir damals weder bewusst, noch war ich seitens des Jugendamtes darauf auch nur ansatzweise vorbereitet worden.

Inzwischen habe ich zwei Kinder mit erweitertem Förderbedarf in Dauerpflege und habe meine Berufstätigkeit aufgegeben, um mich dieser komplexen Aufgabe adäquat widmen zu können. Die Erfahrungen, die ich im Laufe dieser Zeit gemacht habe, sind äußerst viel-fältig und teilweise auch erschütternd, da sich zeigte, wie wenig unsere Gesellschaft wirklich imstande ist, mit schwierigen Kindern angemessen umzugehen. Seelische Behinderungen sind in der Regel äußerlich nicht erkennbar, so dass viele Pflegeeltern sich immer wieder gezwungen sehen, aufzuklären und für Verständnis zu werben. Dies bedeutet eine zusätzliche Belastung, die, zumal es sich häufig auch um Institutionen handelt, oftmals einem Kampf gegen Windmühlen gleicht.

Natürlich gibt es auch Pflegekinder, die erfreulicherweise nur geringe Einschränkungen aufweisen, aber das Gros der Kinder ist bindungsgestört und oft auch noch anderweitig traumatisiert. Daher konzentriert sich die vorliegende Arbeit auch nur auf Pflegekinder mit derartigen Störungen. Inwiefern sie anders sind als andere Kinder und warum sie auch so oft scheitern, soll diese Arbeit beleuchten. Vor allem ist mir wichtig aufzuzeigen, was notwendig wäre, um bindungsgestörten Pflegekindern eine wirklich effektive Hilfe zu teil werden zu lassen, d.h. wie eine wirksame psychologisch-pädagogische Begleitung möglichst aussehen sollte, um erfolgreich zu sein. Mir ist bewusst, dass ich mit dieser Fach-arbeit ein solch komplexes Thema nicht umfassend abhandeln kann. Aber mir geht es zunächst vor allem darum, Missstände aufzuzeigen, eine interessierte (Fach-) Öffentlichkeit zu sensibilisieren und eine Diskussion anzustoßen, die zum Umdenken im Umgang mit Pflegekindern führt. Eigene Beispiele habe ich der besseren Übersichtlichkeit wegen kursiv abgebildet. Aufgrund meiner persönlichen, ortsgebundenen Erfahrungen beschränke ich mich bei meinen Ausführungen auf Pflegekinder - auch wenn vieles von dem hier Genannten auf Adoptivkinder gleichermaßen zutrifft - und auf den Raum Berlin. Die Zusammenarbeit mit den Herkunftsfamilien habe ich aufgrund der Komplexität dieses Themas und wegen der Begrenztheit meiner Facharbeit auslassen müssen, gleichwohl kann diese sowohl in positiver, als auch in negativer Hinsicht eine bedeutende Rolle in der psychologisch-pädagogischen Begleitung von Pflegekindern spielen.

Besonderheiten im Verhalten von Pflegekindern

Verhaltensbeobachtungen

Pflegeeltern erleben Situationen, die manchmal absurd erscheinen. Ihre Kinder zeigen scheinbar völlig unangemessene Reaktionen, ihr Verhalten ist oft nicht verständlich. Dann sind sie weder mit guten Worten zu erreichen, noch haben gängige pädagogische Maß-nahmen Erfolg. Dies führt oft zu Rat- und Hilflosigkeit („Warum tun sie das?“) bei allen Bezugspersonen und leider auch oft zu einer Odyssee durch die Institutionen unseres Bildungswesens. Schon in der Kita erhielt ich diverse Anrufe, bitte sofort zu kommen, da mein Sohn Scheiben zerschlagen, die Erzieherin oder andere Kinder geschlagen hätte und ich möge bitte etwas unternehmen, dass das nicht wieder vorkäme. Es gab keine geeigneten Kitas oder Schulen und so setzen sich die Erfahrungen in allen staatlichen Schulen, Privatschulen, Förderzentren, Heimschulen und Tagesgruppen fort, aus denen er durchschnittlich jährlich heraus geworfen wurde. Zu ihrem ohnehin schon problematischen Sozialverhalten erschweren solche ständigen Schulwechsel und damit verbundene Beziehungsabbrüche das Knüpfen von Freundschaften ganz erheblich. So äußerte mein Sohn kürzlich bei einer polizeilichen Vernehmung auf die Frage nach seinen Freunden nach kurzer Überlegung, dass er eigentlich gar keine hätte.

Aber was ist denn eigentlich anders bei diesen Kindern und was genau macht es so schwierig mit ihnen? Pflegeeltern müssen davon ausgehen, dass sie Kinder aufnehmen, die Entsetzliches erlebt haben, woran sich viele bewusst gar nicht erinnern können. Den-noch prägt dieses Erleben ihr gesamtes Fühlen und Handeln. Sie sind permanent auf Gefahr orientiert und befinden sich daher in einem ständigen Anspannungszustand, immer unter Hochdruck. Nächtliche Alpträume, Einkoten und Einnässen bis ins hohe Schulalter und extreme Ängste begleiten viele Pflegekinder jahrelang. Häufig sind ihr Wärme- und Kälteempfinden sowie ihr Schmerzempfinden wie auch ihr Hunger- und Sättigungsgefühl gestört. Sie suchen ständige Aufmerksamkeit, können sich an keine Regeln halten und benehmen sich oft grenzüberschreitend. Sie fühlen sich schnell bedroht und sind äußerst schreckhaft. Manchmal scheinen sie regelrecht erziehungsresistent zu sein, da trotz immer gleicher Konsequenzen keine Verhaltensänderungen eintreten. Viele lügen und stehlen, beleidigen und bedrohen ihre nahen Bezugspersonen bis hin zu körperlichen Attacken oder verletzen sich selbst. Im schulischen Bereich zeigen sie Lernstörungen. Sie provozieren und praktizieren Machtkämpfe um jeden Preis, die sie allzu oft sogar gewinnen. Bei unvorhergesehenen oder außergewöhnlichen Ereignissen, selbst wenn diese nur ein wenig vom gleichförmigen Alltag abweichen, haben sie Angst. Dann reagieren sie oftmals mit großer Aufregung. Sie sind dann überdreht oder gereizt, was leicht auch in Aggression oder gar eine explosionsartige Entladung münden kann.

Wenn ich nachts ganz leise das Zimmer meines Sohnes betrete, hebt er sofort den Kopf und fragt, was los sei. Er ist nie wirklich entspannt und kann sich nicht „fallen lassen“. Er geht bei Minusgraden mit kurzer Hose zur Schule und hat trotz seiner 87 kg mit 15 Jahren entsetzliche Angst vor der Dunkelheit, vor dem Alleinsein, vor Einbrechern und vor Spinnen. Er bekämpft, beleidigt und bedroht mich, wohl wissend, dass das Jugendamt ihn dann aus der Familie nimmt - seine allergrößte Angst seit 11 Jahren -, rational kann er dies aber nicht steuern. Meine Kinder belastende Termine muss ich stets sehr gut vorbereiten, mir sehr viel Zeit nehmen, Ablenkungs- oder Entspannungsmaßnahmen einsetzen und oft auch Hilfskräfte (Oma, Babysitter etc.) mit einspannen.

Sicherheit, Vertrauen und liebevolle Zuwendung

Die wichtigste Maßnahme, Kinder aus einer gefährdenden Situation heraus in Sicherheit zu bringen, ist mit der Herausnahme aus der Herkunftsfamilie nur objektiv erfüllt. Bindungsgestörte Kinder benötigen aber vor allem auch das Gefühl von Sicherheit. Und dies zu vermitteln ist ein sehr langwieriger Prozess. Da das Gehirn eines Kleinkindes bei der Trennung von seiner Mutter noch keine Möglichkeit hat, diese unbeschreiblichen Angst- und Ohnmachtsgefühle zu verarbeiten, bleiben diese Gefühle noch jahrzehntelang präsent, die Kinder verharren quasi in dieser Anspannungshaltung. Folgen dieser ersten Trennung noch weitere, im Falle meines Sohnes noch vier weitere, bedeutet jede erneute Trennung ein weiteres Trauma. Ihr Vertrauen in die Welt und in die Menschen wird dann immer wieder zutiefst erschüttert.

Pflegeeltern stehen dann vor der großen Herausforderung, den Kindern das so dringend benötigte Gefühl von Sicherheit zu vermitteln und das Vertrauen in die Erwachsenen zurück zu geben, dies aber vor dem Hintergrund einer möglichen Rückführung und mit einer vom Jugendamt erwarteten distanzierten Haltung dem Kind gegenüber. Das kann nicht gelingen und ist meiner Überzeugung nach auch schädlich. Die Pflegekinder sehnen sich einerseits so sehr nach einer verlässlichen, liebevollen Beziehung, gleichzeitig trauen sie dieser aber nicht, da sie ständig befürchten, auch dieses Zuhause wieder zu verlieren. Deshalb stellen sie uns Pflegeeltern ständig auf die Probe. Bei jedem Umzug äußerte mein Sohn die bange Frage, ob er denn auch mitkäme. Und immer wieder hatte er nach einem Konflikt seine Schuhe angezogen, war vor die Tür gegangen und sagte: „Dann gehe ich eben wieder.“, wobei er die Tür stets offen ließ. Allein verbale Beteuerungen, dass er bleiben dürfe und zur Familie gehöre, reichten nicht aus. Erst als ich ihm zu seinem 10. Geburtstag einen Gutschein überreichte, auf dem stand, dass er zur Familie gehöre und immer bleiben dürfe, hörte das Vor-die-Tür gehen auf. Diese Karte bewahrte er zwei Jahre unter seinem Kopfkissen auf und nahm sie auch auf jeder Reise mit. Sie war quasi seine Lebensversicherung.

Zur Gesundung ihrer verwundeten Seelen brauchen bindungstraumatisierte Kinder die unbedingte Zusicherung, bleiben zu dürfen. Hierzu müssten auch Rahmenbedingungen geschaffen werden, die die ständigen Rauswürfe aus den Einrichtungen vermeiden. Und sie brauchen Pflegeeltern, die unerschütterlich, hundertprozentig hinter ihnen stehen, auch bzw. gerade im Konfliktfall. Der Kinderpsychiater meines Sohnes erklärte mir gegenüber, dass ich der „Fels in der Brandung“ sei, bzw. der Anker, der meinem Sohn den notwendigen Halt gibt. Um den Kindern das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln, ist es wichtig, vor allem selbst ruhig und gelassen zu sein und für ausreichend Ruhe und Entspannung bei den Kindern zu sorgen. Nach meiner Erfahrung ist es besonders wichtig, Hektik zu vermeiden, da diese Druck und Anspannung erzeugt und ganz schnell zur Eskalation führen kann. Unruhe, Unsicherheit und Angst lassen sich bei meinen Pflegekindern sofort reduzieren, wenn ich mir viel Zeit nehme und ihnen meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenke. Leicht angespannte Situationen kann ich schnell auflösen, indem ich beispielsweise regelmäßig Spiele mit ihnen durchführe. Sehr entspannend wirken auch Rückenmassagen sowie das „Pizza-Backen“ oder Bilder malen auf dem Rücken. Aber auch den Igelball habe ich häufig eingesetzt. Ebenso beruhigend sind warme Fußbäder am Abend während ich daneben sitze und wir uns über den Tag austauschen. Positive Erfahrungen habe ich auch mit Musik gemacht. Während mein Sohn inzwischen sogar äußert, dass er beim Musikhören runterkommt, hat meine Tochter große Freude am Klavierspielen. Sie ist nicht nur talentiert im Nachspielen, sondern drückt auch ihre Stimmung über erstaunliche Improvisationen aus. Daher musizieren wir selbst oder hören viel Musik zu Haus.

Für die Pflegekinder mindestens genauso wichtig, wie das Gefühl von Sicherheit, ist das Gefühl, geliebt zu werden. Auch hier reicht nicht allein die Beteuerung; Pflegekinder müssen die Zuneigung spüren können, soweit sie nicht aufgrund eines deaktivierten Bindungs-verhaltens keine Nähe zulassen können. In diesem Fall müssen dann andere Formen gefunden werden, Halt, Orientierung und Beziehung anzubieten.

Um diesem Bedürfnis nach Wärme, Nähe und Geborgenheit nachzukommen und gleichzeitig ihren großen Wunsch nach ungeteilter Aufmerksamkeit zu erfüllen, habe ich seit einigen Jahren feste Zeiten am Abend eingeführt, während derer ich mich nur jeweils einem Kind widme. Diese halbe Stunde gehört dann ausschließlich ihm. Während dessen lesen, reden oder singen wir, wobei ich das Kind im Arm halte oder ihm den Kopf bzw. Rücken kraule. Manchmal spielen wir auch Rollenspiele mit den Kuscheltieren. Gerade für meinen Sohn waren dies gute Gelegenheiten, schwierige Situationen noch einmal mit etwas Abstand zu beleuchten und besser zu verstehen. Dies allein reicht aber bei weitem nicht aus.

Bindungsgestörte Pflegekinder müssen die bedingungslose Liebe permanent im Alltag auch durch Gesten, Blicke und Mimik erfahren, da sie gerade im emotionalen Bereich so große Defizite aufweisen. Nach Perry ist eine Heilung von einem Trauma oder von Vernachlässigung und das Wiederherstellen von Vertrauen, Zuversicht und dem Gefühl von Sicherheit nur durch dauerhafte, liebevolle Beziehungen zu anderen möglich. Und dies ist ein jahrelanger Prozess, weshalb die Kontinuität in der Begleitung dieser Kinder ein ganz wesentlicher Faktor ist.

Aufgrund ihres geringen Selbstwertgefühls glauben bindungsgestörte Pflegekinder oft, es nicht wert zu sein, geliebt zu werden. Sie missverstehen die Ablehnung eines gezeigten Verhaltens immer als Ablehnung ihrer Person und reagieren bei kritischen Bemerkungen zutiefst verletzt. Oft kommt meine Tochter jammernd aus der Schule und beklagt sich, dass niemand sie mehr leiden könne oder sie schreit mich nach einer kritischen Bemerkung an, ich würde sie ja gar nicht mehr lieb haben, sondern nur hassen und sie könne ja ausziehen. Und mein Sohn fragt mich nicht nur nach einer Auseinandersetzung, sondern häufig einfach zwischendurch, ob ich ihn denn noch lieb hätte oder er behauptet, dass er gar nichts wert sei. In solchen Momenten versuche ich mir viel Zeit zu nehmen, alles andere, wenn möglich stehen zu lassen, suche den Körperkontakt zu ihnen (als sie noch kleiner waren habe ich sie mir auf den Schoß gesetzt, heute streichel ich Ihnen den Rücken oder Arm), um sie erst mal zu beruhigen, suche den Blickkontakt und widerspreche ihnen sehr liebevoll, aber entschieden. Ich zähle ihnen ihre Stärken auf, sage ihnen, was für wunderbare Menschen sie sind und dass ich sie unendlich liebhabe und sehr stolz auf sie bin. Und dass sie auch stolz auf sich sein dürfen. Für den Moment sind sie dann wieder versöhnt und kuscheln sich an. Bei meiner Tochter habe ich mir jetzt sogar zur Gewohnheit gemacht, vor jeder kritischen Äußerung ihr erst zu versichern, dass ich sie immer lieb habe, selbst dann, wenn ich mal schimpfen würde.

Menschen, die befähigt sind, mit ihnen umzugehen

Persönliche Eignung

Nach meiner Erfahrung sind bindungsgestörte Pflegekindern nur über Beziehung erreichbar. Die besten Voraussetzungen für den Umgang mit ihnen erfüllen daher nicht zwangsläufig die Personen mit den besten Studienabschlüssen in Sozialpädagogik, sondern gestandene, reife Persönlichkeiten, die bereit sind, sich auf diese Kinder wirklich einzulassen. Der Beruf ist zunächst zweitrangig. Vielmehr kommt es auf ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen an. Erst als ich anfing, mich in meine Pflegekinder hinein zu denken und zu fühlen und die Dinge aus ihrer Perspektive zu sehen, war es mir möglich, sie wirklich zu verstehen und manche Reaktionen zu antizipieren, ehe die Situation eskalierte. Die Bereitschaft und Fähigkeit, liebevolle Zuwendung zu geben sollte möglichst mit einer natürlichen Autorität gepaart sein. Meine Kinder haben immer wieder gezeigt, dass sie solchen Persönlichkeiten nicht nur problemlos folgen, sondern sie auch bewundern, nachahmen und für sie schwärmen. Es ist hilfreich für Pflegeeltern, sich mit möglichst vielen solcher Persönlichkeiten zu umgeben, da das Verhalten der Pflegekinder in deren Beisein meist deutlich besser ist. Beispielsweise habe ich für meinen Sohn einen hoch moralischen, empathischen, aber gleichzeitig auch Respekt gebietenden jungen Mann rekrutiert, die ihn zweimal wöchentlich trainiert. Mein Sohn lässt sich von ihm nicht nur sportlich drillen, sondern folgt ihm aufs Wort, weil er ihn bewundert und als Vorbild annimmt.

Fachliche Qualifikation

Als ich im Laufe der Jahre immer deutlicher realisierte, dass gängige pädagogische Maß-nahmen bei meinem Pflegesohn häufig gar nicht greifen und dass auch die hochqualifizierten Fachkräfte in den Einrichtungen oftmals ratlos waren und letztlich nur noch mit dem Rauswurf reagierten, begann ich in der Literatur und in Seminaren über Pflegekinder sowie im Austausch mit anderen Pflegeeltern nach Antworten zu suchen. Ich fand heraus, dass Pflegekinder tatsächlich anders „ticken“. Allzu häufig werden die Reaktionen von traumatisierten Kindern fehlinterpretiert: Nach Perrys Überzeugung sind viele posttraumatische psychiatrische Symptome tatsächlich eher durch Dissoziations- oder Übererregungsreaktionen bedingt, die bei der Erinnerung an Traumata auftreten. Die Dissoziation weist eine auffallende Ähnlichkeit mit der Diagnose Aufmerksamkeitsdefizitstörung auf und die Übererregungsreaktionen mit den Diagnosen Hyperaktivität bzw. Störung des Sozialverhaltens mit oppositionell-aufsässigem Verhalten. Aggression und Impulsivität, die den Körper auf Kampf- oder Fluchtbereitschaft ausrichten, können leicht als Unfolgsamkeit oder Auflehnung fehlgedeutet werden. Tatsächlich handelt es sich aber dabei um Rudimente einer früheren Überlebensstrategie. Manche Pflegekinder wollen mit trotzigem, destruktivem Verhalten auch nur heftige Reaktionen erzwingen, weil ihnen diese vertrauter sind und sie weniger ängstigen. Sicherlich ist nicht jedes aggressive Verhalten auf frühere Traumata zurück zu führen. Aber genau dieses unterscheiden zu können, ist so wichtig, denn wenn traumabedingte Reaktionen missverstanden werden, können sie die Probleme der Kinder noch weiter verschärfen und den Teufelskreis in Gang setzen.

Neben der notwendigen persönlichen Eignung sowie den grundlegenden sozialpädagogischen Kenntnissen ist es aus meiner Sicht daher unerlässlich, dass alle mit bindungsgestörten Pflegekindern arbeitenden Fachkräfte eine zusätzliche Qualifikation erwerben. Diese sollte insbesondere die Erkenntnisse der Hirnforschung auf diesem Gebiet, die Auswirkungen von Bindungsstörungen und traumatischen Ereignissen sowie die Erfah-rungen der auf diese Zielgruppe spezialisierten Therapeuten beinhalten. Für die Jugendämter hielte ich zudem eine Bündelung der Kompetenzen bei wenigen, auf Pflegekinder spezialisierten Mitarbeitern für sinnvoll.

Starke und kompetente Pflegeltern

Bindungsgestörte Pflegekinder benötigen belastbare, absolut verlässliche Pflegeeltern, die sie in jeder Lebenslage unterstützen und ihnen dauerhaft zur Verfügung stehen. Pflegeeltern betreuen ihre Kinder an 365 Tagen im Jahr 24 Stunden täglich. Dies ist eine große Herausforderung.

Seit vielen Jahren manage ich das Helfersystem meiner Pflegekinder. Hierzu habe ich in Eigenregie nach geeigneten, Kitas, Schulen und Tagesgruppen gesucht, nach hilfreichen und geeigneten Freizeitaktivitäten wie z.B. Fussballverein, Judoschule, Freiwillige Jugendfeuerwehr, fachlich betreuten Kinderreisen etc., und habe viel Zeit in die Suche nach erfahrenen Therapeuten für meine Kinder investiert. Ich hatte über viele Jahre einen männlichen Babysitter engagiert und seit zwei Jahren einen jungen Mann rekrutiert, der einmal wöchentlich mit meinem Sohn „Männeraktivitäten“ durchführt. Immer wieder musste ich mich mit Ämtern und Behörden auseinandersetzen, habe diverse Stellungnahmen, Widersprüche und Beschwerden geschrieben, mich zweimal hilfesuchend an den/die Schulsenator/in gewandt, um meinen Pflegekindern zu ihrem Recht zu verhelfen. Neun Monate lang habe ich meinen Pflegesohn zu Hause selbst beschult. Aktuell führe ich stell-vertretend für alle Pflegeeltern sogar einen Rechtsstreit vor dem Verwaltungsgericht, um eine Grundsatzentscheidung zu erwirken. Die für all dies aufgewendete Zeit und Energie hätte ich lieber in meiner Kinder investiert.

Um dieser starken Beanspruchung auf Dauer standhalten zu können, ist es sehr wichtig, gut für sich selbst zu sorgen. Ich habe einen belastbaren kleinen Kreis mit empathischen, aber auch kritikfähigen Freunden aufgebaut, die mit meinen Kindern gut umgehen können. Mit denen unternehmen wir viel gemeinsam und ich hole mir regelmäßig Feedback. Auch mit den Therapeuten meiner Kinder und mit der Betreuerin von Familien für Kinder tausche ich mich regelmäßig aus. Zur eigenen Entspannung verreisen wir häufig, Wellnesswochenenden gönne ich mir dann ohne Kinder mit einer Freundin. Auch Sport treiben, Saunabesuche, vorm Kamin ein gutes Buch lesen, ins Kino, Theater oder Essen gehen sowie mein Garten tun mir sehr gut. Zur besseren Realisierung solcher Auszeiten wären jedoch deutlich stärkere Unterstützungsleistungen wünschenswert, z.B. in Form von regelmäßiger Supervision für Pflegeeltern, einer partiellen Entlastung durch beispielsweise eine Haushaltshilfe oder Kinderbetreuung sowie mehr Fortbildung. Die besten Tipps habe ich stets von anderen Pflegeeltern erhalten, daher ist es besonders empfehlenswert, sich Netzwerke aufzubauen oder auch spezifische Internetforen zu nutzen. Vor allem aber wäre es in den Institutionen wichtig, Pflegeeltern endlich als Experten für ihre Kinder anzuerkennen und ihnen die notwendige Achtung und Akzeptanz auf Augenhöhe entgegen zu bringen. Nur gemeinsam kann diese schwierige Aufgabe bewältigt werden.