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Zuhause gesucht
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Kinder, die nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen, stehen häufig vor Problemen, die sie alleine nicht bewältigen können. Literatur, die sich mit ihrer schwierigen Situation beschäftigt, kann hier Hilfestellung bieten.
Kinder, die nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen, habe eine besondere Lebenssituation. Diese Kinder haben zwar das gleiche „Grundübel“, nämlich die Lebenserfahrung, dass sie nicht in ihrer Herkunftsfamilie aufwachsen können. Die Lösung für diese Lebenssituation kann jedoch sehr unterschiedlich ausfallen: Ein Kind lebt in einem Heim, in einer Pflegefamilie oder in einer Adoptivfamilie.
Eine Adoptivfamilie ist klar ein Ersatz für die leibliche Familie. Die Adoption bedeutet, dass das Kind aus seiner Herkunftsfamilie herausgelöst wird und ein Kind der Adoptiveltern wird, mit allen juristischen Folgen. Natürlich bleibt die Tatsache des Angenommenseins bestehen und das Kind und seine Adoptiveltern müssen sich damit auseinandersetzen, je nach Alter des Kindes immer wieder. Das Kind gehört zwar juristisch nicht mehr seiner Herkunftsfamilie an, im tatsächlichen Heranreifen und Wachsen wird die Herkunftsfamilie jedoch präsent bleiben.
Eine Pflegefamilie kann ein Ersatz für die leibliche Familie sein, sie kann aber auch eine Familie auf Zeit sein. Die Mehrzahl der Pflegekinder bleibt in den Pflegefamilien viele Jahre oder sogar bis zur Verselbständigung. Diese Pflegekinder werden in ihrem Befinden und auch im Befinden der Pflegefamilie Familienangehörige. Kommt ein Kind erst älter in die Pflegefamilie, dann bleibt seine innere Heimat vielleicht mehr die Herkunftsfamilie und es fühlt sich in der Pflegefamilie eher wie ein Gast. Pflegekinder haben in vielen Fällen Kontakte zu ihren leiblichen Eltern und anderen Familienangehörigen wie Geschwister und Großeltern. Manche Kinder müssen erleben, dass sie mehrfach hin und her „gereicht“ werden – zurück zur leiblichen Familie, wieder in andere Pflegefamilien, ins Heim.
Ein Heim ist überwiegend ein zeitweiser Ort des Lebens für ein Kind. Kleinere Kinder werden eher in Pflegefamilien untergebracht, größere auch in Heimen. Aber ein Heim ist lange nicht mehr das, was wir vielleicht darunter noch verstehen oder wie wir es früher erlebt haben. Heim bedeutet heutzutage überwiegend die Unterbringung in familienähnlichen Gruppen mit Bezugserziehern. Es kann sogar das Leben mit einem Erzieher in dessen Familie bedeuten, es gleicht also mehr dem Leben in einer Pflegefamilie.
Heimkinder und Pflegekinder sind Kinder, die mannigfaltigste negative Erfahrungen mit Erwachsenen gemacht haben. Häufig in einem solch tief greifenden und umfassenden Ausmaß, dass sie Erwachsenen gegenüber kein Vertrauen mehr haben. Wenn sie überhaupt noch jemandem vertrauen, dann eher Gleichaltrigen.
Heimkinder und Pflegekinder mit Vorerfahrungen von Vernachlässigung und Misshandlungen, von Missbrauch und Trennungen werden zu Überlebenskämpfern. Ihr Leben ist Kampf, ihr Leben ist Angst, Misstrauen und Sehnsucht. Viele dieser Kinder sind traumatisiert.
In früheren Jahren wurden Kinder bei Familienproblematik früher aus ihren Herkunftsfamilien genommen und „fremduntergebracht“. Heutzutage wird als vorrangigste Aufgabe erst einmal die Stabilisierung der Familie gesehen. Die Hilfe suchende Familie bekommt umfangreiche Unterstützungsangebote mit dem Ziel, dass das Kind in der Familie verbleiben kann. In vielen Fällen gelingt diese Hilfe und das Kind muss die Familie nicht verlassen.
Aber auch eine Vielzahl familienstützender Maßnahmen kann erziehungsunfähige Eltern nicht dazu bringen, ihr Kind adäquat zu großzuziehen. So gibt es auch weiterhin immer wieder Kinder, die trotz Hilfen nicht in ihren Familien aufwachsen können, die jedoch aufgrund der längeren Hilfezeit in ihren Familien noch mehr belastende und tragische Erfahrungen gemacht haben.
Literatur als Kontaktaufnahme
Eine Vielzahl dieser Kinder haben Wahrnehmungsprobleme und sind darüber hinaus oft auch gar nicht in der Lage, ihre Erfahrungen und besonders ihre Gefühle zu benennen. Therapeuten, Heimerzieher, Pflege- und Adoptiveltern erleben diese Situationen und versuchen daher im Alltag den Gefühlen einen Namen zu geben.
Hier bietet sich natürlich im hohen Maße die Kinder- und Jugendliteratur an. Es wird das Leben, wie die Kinder es kennen, beschrieben. Es werden Geschichten von Kindern und Jugendlichen erzählt, die durch dieses Leben hindurch gegangen sind und für sich Wege gefunden haben. Es werden Handlungen und Gefühle benannt – Gefühle, in denen sich das Kind bzw. der Jugendliche wiederfinden. Von besonderer Bedeutung ist, dass es Worte für Gefühle gibt, etwas bekommt einen Namen und wird dadurch begreifbarer. Es wird ebenso deutlich, dass auch andere diese Gefühle kennen.
Wie bereits beschrieben haben Pflegekinder und Heimkinder häufig ein großes Misstrauen Erwachsenen gegenüber. Erwachsene werden von ihnen missachtet, verachtet und bekämpft.
In manchen Büchern kann ein Erwachsener diese Mauer durchbrechen. Dieser Erwachsene zeigt sich selbst als Suchender, als Schwacher, als wirklich Verstehender und das Kind lässt zu, von diesem Erwachsenen berührt zu werden. Dies ist dann ein großer Schritt, verbunden mit vielen Ängsten und Sorgen, und als solcher wird er dort auch benannt. Diese Bücher zeigen einem Pflege- oder Heimkind, dass es vielleicht doch Erwachsene geben könnte, denen man vertrauen kann – ein bisschen zumindest.
Dazu gehört viel Mut, aber offensichtlich kann es gelingen. Eindrucksvoll zu lesen in dem Buch von Richard F. Minter „Mike“. Minter beschreibt die wahre Geschichte eines tief greifend emotional gestörten Jungen, der im Spätsommer über die Familie des Autors „hereinbrach“. Irgendwann erkennen die Pflegeeltern ein Muster in Mikes Verhalten, lernen, dass nach Phasen relativer Ruhe und Harmonie ein neuer emotionaler Strudel kommt. Mike kann die emotionale Zuwendung der Pflegeeltern kaum ertragen und sie bemühen sich, ihn nicht damit zu überfordern.
Freundschaft zu Gleichaltrigen
Freundschaft zu Gleichaltrigen ist ein weiteres immer wieder beschriebenes Thema in der Jugendliteratur. Wenn schon Erwachsene für mich mit Vorsicht zu genießen sind, dann hilft es mir, in Büchern zu lesen, dass Gleichaltrige wichtig sein können und dass ein Schritt in eine freundschaftliche Beziehung zu einem Mädchen oder Jungen im Heim mir mein Leben dort erleichtern kann.
In Mirjam Günters "Heim" spielt gerade diese Freundschaft die größte Rolle für die Ich-Erzählerin. Die Freunde werden zunehmend die Familie der 15-Jährigen. Hier ist sie zuhause. Es gelingt ein paar Erwachsenen, von ihr akzeptiert zu werden. Zu diesen Erwachsenen gehören aber auf keinen Fall Personen aus dem Erzieher- oder Jugendhilfebereich. Das sind die Menschen, von denen sie nur in Ruhe gelassen werden möchte. Wirklich wichtig sind nur die paar Freunde, für die sie alles tut und tun würde.
"Wenn das Glück kommt muss man ihm einen Stuhl hinstellen" von Mirjam Presslers beschreibt ebenfalls den Wert der Freundschaft. Die zwölfjährige Protagonistin wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich bei ihrer Tante Lou leben zu dürfen. Diese Tante ist für das Jugendamt nicht akzeptabel und so muss sie in einem Heim leben. Sie versteht diese Entscheidung nicht und kapselt sich ab. Erst als sie die Freundschaft zu Renate zulässt, weiten sich ihre Welt und ihre Empfindungen.
Ein Weg zur Aufklärung
Heimkinder wissen um ihre Familie. Sie haben meist längere Zeit mit ihnen verbracht und haben alles in Erinnerung. Diese Familie bleibt ihre Familie, es gibt nur diese eine. Oft schämen sie sich aber für diese Familie, die es nicht geschafft hat, einfach ganz normal wie die anderen zu leben. Sie schämen sich und lieben diese Familie. Sie sehnen sich wieder zurück und schauen voll Hoffnung, aber auch Enttäuschung auf die Entwicklung in ihrer Familie.
Sehr junge Kinder, die in Adoptiv- oder Pflegefamilien vermittelt werden, haben keine oder nur geringe Zeit in der Herkunftsfamilie verbracht. Für sie gibt es nur die Familie, in der sie jetzt leben. Das ist ihr Alltag. Trotzdem sind sie besondere Kinder, angenommene Kinder. Angenommen zu sein ist ein besonderes Lebensschicksal. Das Kind lebt mit diesem Schicksal. Als junges Kind wertfrei, später macht es sich seine Gedanken und Vorstellungen. Wir wissen, dass die Art und Weise, wie die Adoptiv- oder Pflegeeltern mit dieser Situation umgehen, eine entscheidende Rolle für die Bewältigung dieses Angenommensein spielt.
Ein frühes Wissen um das Angenommensein wird heutzutage empfohlen. Gerade in dieser Hinsicht nutzen die Eltern Kinderliteratur, um das Thema für das Kind aktuell zu machen. Kinderbücher über Adoption sind Türöffner für Gespräche und Erzählungen der Eltern mit ihren Kindern. Sie leisten gute Hilfe und bieten den Eltern einen sicheren Einstieg in ein für sie häufig unsicheres Thema.
Suche nach dem Ich
Wo bin ich zuhause – wo ist meine Heimat? Da, wo ich lebe? Da, wo ich herkomme? Da, wo meine Familie herkommt? Da, wo meine beiden Familien herkommen? Kann ich mir mein Zuhause gestalten? Gibt man mir mein Zuhause oder mache ich es mir? Kann ich mein Zuhause wechseln? Was macht ein Zuhause aus?
Pubertät und die Zeit der jungen Volljährigkeit sind Phasen des Umbruchs und der Neugestaltung. Kinder, die nicht in ihren Herkunftsfamilien aufgewachsen sind, erleben diese Zeit als besonders irritierend. Sie müssen erhöhte Anstrengungen unternehmen, um sich selbst zu sichern und zu stabilisieren. Adoptiv- und Pflegekinder müssen sich nicht nur von einem Elternpaar, sondern gleich von zwei Elternpaaren lösen und beide in ihre Identität einpassen.
Eine zusätzliche Aufgabe müssen Kinder leisten, die aus dem Ausland adoptiert wurden und „anders“ aussehen. Das anders aussehen ist ihnen schon bald aufgefallen, nun, immer älter werdend, müssen sie sich auch mit der anderen Kultur ihrer Herkunftsfamilie beschäftigen und beide Lebensformen in sich vereinen.
Auch hier hilft die Jugendliteratur. In einigen Büchern werden Wege der Suche beschrieben und Ängste, Sorgen, Überraschungen, Erfolge und Misserfolge erzählt.
Ich bin nicht allein
Anders sein ist für Kinder und Jugendliche problematisch. Sie möchten nicht anders sein, möchten ein ganz normales Leben führen. Anders sein wird dann weniger unnormal, wenn einige andere auch anders sind, wenn es noch andere Heimkinder, andere Pflegekinder, andere Adoptivkinder gibt. Am besten ist, wenn dies hautnah erlebt wird.
In der Praxis gibt es Treffen von Adoptiv- und Pflegeeltern mit dem Ziel, dass ihre Kinder andere angenommene Kinder kennen lernen. Für Kleinere reicht einfach das Wissen darum, für Größere ist es wichtig, mit den anderen die eigene Besonderheit zu besprechen.
Zunehmend gilt Biografiearbeit als ein Weg der Erarbeitung des eigenen Lebensweges. Und natürlich bieten sich hier entsprechende Bücher an. Viel gelesen wurde das Buch von Charly Kowalzyk: „ Mama und Papa sind meine richtigen Eltern“ und die oben bereits erwähnten Bücher „Mike“ und „Mein liebes Selbst“. Diese Bücher zeigen auf, dass es spannend sein kann, sich mit sich und seiner Vergangenheit zu beschäftigen, zeigen auf, dass das bisherige Leben ein Teil des zukünftigen Lebens ist.
Bücher zeigen, dass man nicht allein ist, sondern dass es auch andere Kinder und Jugendliche in der gleichen Lebenssituation gibt.
Werden diese „Problembücher“ gelesen?
Natürlich werden sie das. Oft erst von den Erwachsenen. Die verstehen dann manches besser. Selbstverständlich lesen auch Kinder und Jugendliche in Adoptiv- und Pflegefamilien und in Heimen. Die Frage ist dabei die: Gilt ein Buch (noch) etwas im Umfeld des Kindes? Wenn ja, beschäftigt sich das Kind wahrscheinlich damit. Wenn nein, wird es schwieriger.
Zur Literaturdatenbank von moses-online
Auf entsprechende Bücher wird in Therapien und Beratungen hingewiesen. Adoptiv- und Pflegeelterninitiativen beschäftigen sich damit. Viele Bücher sind bei Jugendämtern und Vereinen auszuleihen. Und natürlich die Bibliotheken nicht zu vergessen. Eine Bibliothek hat sogar auf Bitten einer Elterninitiative eine gesonderte Liste spezieller Bücher für den Bereich der Adoptiv- und Pflegekinder zusammengestellt. In der Literaturliste von Moses-online gibt es eine umfassende Liste über Kinder- und Jugendbücher für den Bereich der Pflegekinder, Adoptivkinder und Heimkinder. Der Bedarf ist da und wird zunehmend auch mit qualitätvollen Titeln abgedeckt.
von:
Gastfamilien - Hilfsbereitschaft nutzen oder ausnutzen?