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Care Leaver – stationäre Jugendhilfe und ihre Nachhaltigkeit
Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse
Themen:
An dem Projekt beteiligten sich bundesweit 28 Erziehungshilfeeinrichtungen. Die Auswertung basiert auf folgenden Stichprobenumfängen:
- 332 Fragebögen von Care Leavern;
- 476 Fragebögen von Fachkräften aus dem stationären Arbeitsbereich beteiligter Einrichtungen;
- 159 Fragebögen von Fachkräften aus dem ambulanten Arbeitsbereich beteiligter Einrichtungen.
Beteiligte Care Leaver:
Die befragten Care Leaver waren zum Zeitpunkt der Datenerhebung im Schnitt 23,5 Jahre alt. Ihre stationäre Hilfe lag dabei durchschnittlich 65 Monate zurück. 56,1 % der Care Leaver waren männlich, 43,3 % weiblich und 0,6 % unbestimmten Geschlechts. Etwas mehr als ein Viertel (25,9 %) der jungen Menschen kam als Flüchtling nach Deutschland, 77,8 % davon als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Die betreuten jungen Menschen waren bei Ende ihrer stationären Hilfe im Schnitt 18,7 Jahre alt. Rund zwei Drittel (67,8 %) der Care Leaver wurden nach Beendigung ihrer stationären Hilfe von einer Jugendhilfeeinrichtung ambulant nachbetreut. Dabei wurde die Nachbetreuung zumeist (87,7 %) von der Einrichtung durchgeführt, die auch schon für die stationäre Hilfe verantwortlich war.
Barrieren im Leaving Care-Prozess:
Die Bewilligungspraxis in Bezug auf die Gewährung von Hilfen für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII weist wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge erhebliche regionale Disparitäten auf1. Je nachdem, in welcher Region bzw. bei welchem Jugendamt ein entsprechender Hilfeantrag gestellt wird, sind die Chancen auf Bewilligung z. T. grundsätzlich hoch oder gehen gegen Null. Darüber hinaus sind Neu- bzw. Wiederaufnahmen von Hilfen nach Abschluss des 18. Lebensjahrs in der Praxis oftmals nicht möglich – auch wenn dies bis zur Vollendung des 21. Lebensjahrs vom Gesetzgeber ausdrücklich vorgesehen ist.
Abb. 1: Häufigkeiten von Erziehungshilfen nach Alter
Die Antragstellung für Hilfen nach § 41 SGB VIII ist in der Regel verbunden mit der Notwendigkeit zur ausführlichen Darstellung von Defiziten und Problemlagen der jungen Menschen, was im direkten Widerspruch zur sonst im pädagogischen Alltag vorherrschenden Ressourcenorientierung steht. Dies stellt die jungen Menschen häufig vor erhebliche psychische Probleme und wirkt eher demotivierend. Umgekehrt wird oft ein (zu) hohes Maß an Mitwirkungsbereitschaft der jungen Menschen im Rahmen des Antragsprozesses als Kriterium bei der Entscheidungsfindung vorausgesetzt. U. a. aufgrund dieser Barrieren gehen die Fallzahlen von Erziehungshilfen im Altersbereich ab 18 Jahren rapide zurück (s. Abb. 1).
Prozess- und Ergebnisqualität der untersuchten stationären Hilfen
Der größte Teil der untersuchten stationären Hilfen wurde als betreute Wohnform nach § 34 SGB VIII durchgeführt (93,7 %). Im Rahmen der Vorbereitung auf die Zeit nach Beendigung der stationären Hilfe wurden vor allem in den Bereichen Alltagsbewältigung (72,8 %), Wohnsituation (64,5 %), psychische/emotionale Situation (62,7 %), Finanzen (62,7 %) sowie schulische/berufliche Ausbildung (61,7 %) spezielle Maßnahmen durchgeführt. Eine Vorbereitung auf die komplexe und z. T. undurchsichtige rechtliche Situation von Care Leavern nach Hilfeende erfolgte dagegen in weniger als der Hälfte der untersuchten Hilfen (46,0 %). Insgesamt wird die Vorbereitung für die Zeit nach Beendigung der stationären Hilfe von den jungen Menschen aber sehr positiv bewertet (sehr gut: 35,2 %; weitgehend gut: 31,6 %).
69,5 % der Care Leaver haben bis zum Abschluss ihrer stationären Hilfe einen Schulabschluss erreicht – überwiegend in Form eines Hauptschulabschlusses (60,1 %). 16,2 % befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch in einer schulischen Ausbildung.
Die Beziehung zur Hauptbezugsperson wird von den jungen Menschen überwiegend positiv beschrieben (sehr gut: 68,0 %; weitgehend gut: 23,1 %) und rund drei Viertel (73,4 %) geben an, dass sie sich in ihrer Einrichtung zumindest weitgehend zuhause bzw. beheimatet gefühlt haben. In 74,6 % der Hilfen wurden Anträge auf Hilfen für junge Volljährige gestellt – meist zur Verlängerung laufender Maßnahmen (74,5 %).
Fast zwei Drittel der befragten Care Leaver (64,3 %) geben an, dass ihnen ihre letzte stationäre Hilfe aus aktueller Sicht geholfen hat. Dementsprechend beurteilen sie die langfristige bzw. nachhaltige Wirksamkeit ihrer letzten stationären Hilfe insgesamt auch sehr positiv (sehr gut: 46,9 %; weitgehend gut: 30,1 %).
Wirkfaktoren
Im Rahmen der Studie wurde auch überprüft, welche Faktoren für eine gelingende Nachhaltigkeit stationärer Erziehungshilfen verantwortlich sind.
Deutlich erkennbar ist dabei, dass insbesondere die Qualität der Beziehungen zwischen den jungen Menschen und ihren Betreuungspersonen sowohl im Rahmen der stationären Hilfe als auch innerhalb der ambulanten Betreuung von zentraler Bedeutung ist. Auch eine von den Care Leavern als adäquat und qualitativ hochwertig beurteilte fachliche Nachbetreuung durch eine Jugendhilfeeinrichtung wirkt sich nachweisbar auf die Nachhaltigkeit aus: Ist dies der Fall, werden die Wirkungen der stationären Hilfe von den jungen Menschen als nachhaltiger und damit ihr weiteres Leben langfristiger positiv beeinflussend erlebt (s. Abb. 2).
Abb. 2: Einfluss der Durchführung einer Nachbetreuung auf die Nachhaltigkeit der stationären Hilfe
Neben diesen beiden zentralen Wirkfaktoren kommt vor allem den folgenden Aspekten eine besonders positive Bedeutung zu:
- Qualität der Vorbereitung im Rahmen der stationären Erziehungshilfe;
- Art der Beendigung der stationären Hilfe und Abschiedsgestaltung;
- Partizipation an der Hilfeplangestaltung der Zeit nach Beendigung der stationären Hilfe.
Empfehlungen
Aus den vorliegenden Ergebnissen lassen sich nachstehende Empfehlungen ableiten:
- Aufrechterhaltung von Kontakten und Beziehungen;
- Einrichtung/Finanzierung offener Anlaufstellen für Care Leaver;
- Verbindliche Organisation einer flexiblen Nachsorge durch öffentliche Träger;
- regelmäßige Dokumentation der Entwicklung von Care Leavern (Monitoring);
- verbindliche Klärung der rechtlichen Zuständigkeit, z. B. Übertragung der Verantwortung an Träger der stationären Hilfe („Lotsenfunktion“).
Zukünftige Qualitätsentwicklungsinitiativen sollten diese Aspekte besonders beachten und entsprechende Rahmenbedingungen schaffen, um erreichte Erfolge stationärer Hilfen langfristig zu sichern und den betroffenen jungen Menschen nachhaltig verbesserte Chancen auf eine faire gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.
Mainz, 15. Oktober 2019
Joachim Klein & Prof. Dr. Michael Macsenaere, Institut für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ)
von:
Brennglas Corona - DigitalPakt für die Kinder- und Jugendhilfe