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Aus der Praxis

Gastfamilien und ehrenamtliche Vormundschaften im Kreis Euskirchen

Im Kreis Euskirchen liegt ein Schwerpunkt bei der Versorgung und Integration der unbegleiteten ausländischen Minderjährigen (UAM) in der starken Einbeziehung der Bürgerschaft.

Bürgerschaftliches Engagement professionell unterstützen - Gastfamilien und ehrenamtliche Vormundschaften im Kreis Euskirchen

Im Kreis Euskirchen liegt ein Schwerpunkt bei der Versorgung und Integration der unbegleiteten ausländischen Minderjährigen (UAM) in der starken Einbeziehung der Bürgerschaft. Mehr als die Hälfte der untergebrachten Jugendlichen finden bereits heute Platz in einer Familie, für nahezu alle kann eine ehrenamtliche Vormundschaft eingerichtet werden. Die Erfahrungen sind sehr positiv und zeigen, welches enorme Potenzial in einer breiten Einbeziehung der Bürgerschaft liegt.

Integration - ein wichtiges Handlungsfeld im Kreis Euskirchen

Bereits seit 2007 richtet man im Kreis Euskirchen die Aufmerksamkeit auf die Veränderungen durch den demographischen Wandel. Der Integration von neuen Bürgern kommt dabei eine große Bedeutung zu. Der Kreis Euskirchen hat als ein Leitziel formuliert, dass "Zuwanderer (…) im Kreis Euskirchen in ihrer kulturellen und sprachlichen Vielfalt und mit ihren beruflichen und persönlichen Kompetenzen sowie ihrem Engagement willkommen" sind. "Ziel ist es, dass alle im Kreis Euskirchen lebenden Menschen in gegenseitigem Respekt zusammen leben und gemeinsam ihre Zukunft zum Wohle aller gestalten können." An diesem Leitziel orientieren sich schon seit Jahren Projekte, die der Integration dienen. Um den Herausforderungen noch besser begegnen zu können, wurde Anfang 2014 im Geschäftsbereich III (Bildung, Gesundheit, Jugend und Soziales) eine neue Organisationseinheit geschaffen, das "Kommunale Bildungs- und Integrationszentrum (KoBIZ). In dieser Einheit werden die unterschiedlichen Förderprogramme "Regionales Bildungsnetzwerk", "Kommunale Koordinierung" und "Kommunales Integrationszentrum" zusammengefasst.

Integration durch Begegnung - die Grundidee des Ansatzes

Die Grundlage der Planungen besteht in der Annahme, dass die Integration von unbegleiteten ausländischen Minderjährigen erheblich erleichtert werden kann, wenn ein möglichst intensiver alltäglicher Kontakt zur Bürgerschaft besteht. Dieser intensive Kontakt kann insbesondere in zwei wichtigen Bereichen erfolgen: der ehrenamtlichen Vormundschaft sowie dem Leben in Gastfamilien. Dabei gehen wir nicht davon aus, dass jeder jugendliche Flüchtling in einer Gastfamilie untergebracht werden soll. Das Ziel ist aber, möglichst für und mit jedem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling eine differenzierte Entscheidung im Rahmen der Hilfeplanung zu treffen, sei es für das Leben in einer Gastfamilie, in betreuten Wohnformen oder in einer Heimgruppe.

Nachdem sich abzeichnete, dass die gesetzliche Neuregelung voraussichtlich erheblich früher als erwartet in Kraft treten könnte und auch die Anzahl der voraussichtlich zu betreuenden Jugendlichen viel höher sein könnte als bis dahin vermutet, wurde im September 2015 über die Presse die Bevölkerung um Mithilfe gebeten ("Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge - wer hilft mit"). Die Resonanz war überwältigend: zur ersten Infoveranstaltung kamen über 160 Menschen, die sich vorstellen konnten, sich in der einen oder anderen Art persönlich zu engagieren. In der Folge fanden noch zwei weitere Abende statt, zu denen weitere rund 100 Interessierte kamen.

Über differenzierte Fragebögen gab es einen raschen Rücklauf. Während für die ehrenamtlichen Vormundschaften zeitnah zu Schulungsmaßnahmen durch die Amtsvormünderinnen eingeladen wurde fanden bei allen interessierten Gastfamilien innerhalb von wenigen Wochen Hausbesuche durch erfahrene Leitungskräfte im ASD statt, um einen unmittelbaren Eindruck von der Familie und ihren Voraussetzungen zu bekommen.

Die "Chaos-Phase"

Während dieser Zeit wurde der Kreis plötzlich bereits vor dem 01.11.2015 für rund 30 Jugendliche zuständig, die in Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes im Kreis angetroffen wurden. Da seitens der Anbieter der stationären Jugendhilfe keine nennenswerten Kapazitäten für die Inobhutnahmen zur Verfügung gestellt werden konnten, wurde zur Vermeidung von Obdachlosigkeit zunächst auf das vorhandene Netz von Bereitschaftspflegestellen zurück gegriffen. Auch mussten Unterbringungen in geprüften Gastfamilien in einigen Fällen nahezu ohne Anbahnungsphase stattfinden, allerdings immer mit professioneller Begleitung durch Fachkräfte der ambulanten Jugendhilfe. Dies war für alle Beteiligten eine schwierige Phase mit vielen Stolperstellen aber auch mit hohem Lernfaktor: die Betreuung dieser Jugendlichen in unterstützten Familien ist in den meisten Fällen vom pädagogischen Bedarf her gut möglich. Mit Hochdruck wurde daran gearbeitet, eine Aufnahmegruppe zu installieren, um von dort aus die Vermittlung in Gastfamilien, noch zu schaffenden Heimgruppen oder betreuten Wohnformen gemeinsam mit den Jugendlichen zu planen.

Phasen der Einleitung der passenden Jugendhilfemassnahme Kreis Euskirchen

"Willkommen im Kreis Euskirchen" - Kennen lernen in einer Aufnahmegruppe

Anfang Dezember konnte eine provisorische Aufnahmegruppe eingerichtet werden, in der bis zu 22 Jugendliche Platz finden. Die Jugendlichen erhalten bereits in der Aufnahmesituation eine muttersprachliche Information insbesondere darüber, dass das Jugendamt sich für sie einsetzen will und jetzt mit ihnen zusammen die nächsten Schritte planen wird, wenn man sich kennen gelernt hat. Über die ehrenamtlichen Vormundschaften und das Gastelternprojekt wird ebenfalls informiert. Derzeit erarbeiten wir eine weitere Information ähnlichen Inhalts, die die Jugendlichen an ihre Familien verschicken können. Ab dem ersten Tag haben die Jugendlichen in der rund um die Uhr betreuten Einrichtung eine Tagesstruktur (Sprachunterricht, Kulturvermittlung, Freizeitangebot). In diesen ersten Wochen lernt der Jugendliche "seine" ASD-Mitarbeiter kennen und der ASD den Jugendlichen. Da die Jugendlichen in der Regel einen hohen Tatendrang verspüren, sind sie sehr daran interessiert zu erfahren, wie es nun weiter geht. Sofern möglich, erfolgt auch bereits die Seiteneinsteigerberatung zur Beschulung, damit sich möglichst zeitnah auch außerhalb der Aufnahmegruppe eine Perspektive und Tagesstruktur abzeichnet. Inzwischen sind es auch vor allem die (gut vernetzten) Jugendlichen untereinander, die die Erfahrungen mit den verschiedenen Folgemaßnahmen kommunizieren - der "Renner" unter den dort untergebrachten Jugendlichen sind die Gastfamilien.

Ein tragfaehiges Netz buergerschaftliches Engagement professionell unterstuetzt Kreis Euskirchen

Vermittlung in Gastfamilien

Aus unseren Erfahrungen könnte der weit überwiegenden Anzahl der Jugendlichen in Familien geholfen werden, was aber aus Kapazitätsgründen nicht möglich ist. Wenige Jugendliche zeigen Verhaltensweisen, die zumindest vorerst eine stationäre Maßnahme notwendig macht, in einigen Fällen "erlaubten" die Herkunftsfamilien den Jugendlichen das Einlassen auf die Gastfamilie zunächst nicht, was sich aber durch direkten Kontakt mit den Familien klären ließ. In Fällen, wo dies aber in Frage kommt (Alter, Verhalten, Passung zur Gastfamilie) schlägt der ASD eine Vermittlung vor und es kommt zu einem Kennenlernen (Gespräche mit Dolmetscher, Ausflüge, Besuche), zum Teil auch unter Einbeziehung der Fachkraft, die auch die ambulante Betreuung übernehmen wird. In den meisten Fällen erfolgt eine zeitnahe Aufnahme: wenn sich Gastfamilie und Jugendlicher füreinander entschieden haben liegt es beiden Seiten am Herzen, schnellstmöglich zusammen zu kommen. Gerade die Anfangsphase wird mit ca. 4-6 Fachleistungsstunden wöchentlich in den Familien unterstützt, um das Kennen lernen im Familienalltag zu erleichtern. Sofern noch kein Schulbesuch stattfinden kann, können die Jugendlichen auch an der Tagesstruktur in der Aufnahmegruppe teilnehmen. Die ehrenamtlichen Vormünder (zumeist die Gasteltern) werden bei auftretenden Fragen fachlich durch die Amtsvormünderinnen im Jugendamt unterstützt, damit es nicht zu Überforderungssituationen kommt.

Erste Erfahrungen

Von den derzeit 66 untergebrachten Jugendlichen befinden sich aktuell (15.03.2016) 36 in Gastfamilien. Da auch aufgrund der öffentlichen Aufmerksamkeit weitere Bewerbungen von möglichen Gasteltern eingehen, halten wir die Betreuung von ca. 50 Jugendlichen in Gastfamilien perspektivisch für realistisch. Zwischenzeitlich haben wir eine erste Auswertung anlässlich eines Treffens der Gastfamilien gemacht: die Erfahrungen sind meist sehr gut. Die Jugendlichen werden als höflich, respektvoll, zuverlässig und strebsam beschrieben, die z.B. in der Schule und in ihren Deutschkenntnissen erstaunliche Fortschritte machen. Einige vormalige Bereitschaftspflegefamilien, die aufgrund des Alters für die Betreuung kleinerer Kinder nicht mehr zur Verfügung stehen wollen, sind begeistert von den neuen Erfahrungen, die sie mit diesen Jugendlichen machen. Weder die ärztliche Versorgung noch die Integration in das soziale Umfeld der Familie (u.a. auch Vereinsleben) bereiten nennenswerte Probleme.

Die Gastfamilien, die häufig auch Vormund sind, setzen sich allerdings enorm für ihre Jugendlichen ein, was eine Schule, ein Ausländer- oder das Jugendamt auch fordern kann.

Für manche Gastfamilien ist es schwierig, dass sich die Jugendlichen nicht so öffnen, wie man es von eigenen Kindern kennt. Auch ist die unklare Bleibeperspektive insbesondere bei den Jugendlichen aus Afghanistan für alle belastend.

Sowohl die Gastfamilien als auch die Jugendlichen sind inzwischen gut vernetzt: die Jugendlichen kennen sich aus der Aufnahmeeinrichtung und halten den Kontakt untereinander, die jeweiligen Gasteltern lernen sich darüber ebenfalls kennen und können füreinander häufig eine wichtige Ressource sein.

Ernste Probleme bestanden vor allem für die ersten Jugendlichen und ihre Gastfamilien, die so gut wie keine Anbahnungsphase hatten. In Einzelfällen kam es hier auch zu begleiteten Wechseln in andere Familien und in andere Jugendhilfeangebote.

Viele Jugendlichen sind erheblich belastet durch die Ansprüche, Vorstellungen und Forderungen der Herkunftsfamilien. Deshalb ist es wichtig, für den Jugendlichen und seinen Herkunftsfamilien möglichst von Anfang an die Realitäten der neuen Lebenssituation zu verdeutlichen.

In diesem Jahr werden regelmäßige Gastelterntreffen zum persönlichen Austausch sowie Schulungen zu Schwerpunktthemen angeboten.

Die häufig diskutierten "Standards der Jugendhilfe" waren und sind natürlich in Teilen nicht eingehalten worden (wenn man sie für universell hält). So konnten die Gasteltern nicht in einer mehrmonatigen modularen Schulungsmaßnahme auf ihre Aufgabe vorbereitet werden, in der Anfangszeit gab es in der Aufnahmegruppe einen relativ hohen Anteil von Betreuungspersonal ohne pädagogische Ausbildung und die Unterbringung erfolgte z.T. in Mehrbettzimmern mit zu geringer Größe. Viel wichtiger aber ist nach unseren Erfahrungen die Haltung, mit der den Jugendlichen von allen Beteiligten begegnet wird und das darauf aufbauende Betreuungskonzept in Zusammenarbeit von Fachkräften, engagierten fachfremden Betreuungspersonal, Gasteltern und den Jugendlichen.

Fazit

Für alle Beteiligten sind es die guten Bilder vom Gelingen, die Orientierung und Motivation bringen: entgegen den Prophezeiungen einiger Fachleute bleiben die Jugendlichen auf dem Land und wollen durchaus in Gastfamilien leben. Wichtig ist, dass die Jugendlichen sich angenommen fühlen und professionell begleitet aktiv eine Perspektive entwickeln können, die ihre hohe Motivation nutzt. Dazu bieten gerade die Gastfamilien mit ihrem Engagement und ihrem sozialen Umfeld oft hervorragende Möglichkeiten, auch wenn wichtige Fragen insbesondere bezüglich der schulischen und beruflichen Integration noch offen stehen.

Ein Nebeneffekt sei hier nicht unerwähnt: diese Form der Hilfe ist zudem erheblich weniger kostenintensiv und bindet deutlich weniger Fachkräfte als andere stationäre Formen. Dies könnte - je nachdem, wie die Entwicklung in 2016 weitergeht - eine noch größere Rolle spielen, als das sie es jetzt schon tut.

Erdmann Bierdel, Abteilungsleiter Jugend und Familie des Kreises Euskirchen
Telefon: 02251/15641
erdmann.bierdel@kreis-euskirchen.de

Letzte Aktualisierung am: 
05.07.2016

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