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Aussetzung einer sorgerechtlichen Entscheidung zum Aufenthaltsbestimmungsrecht
Themen:
Entstehung des Gerichtsverfahrens
Beide Eltern des Kindes waren aufgrund langjähriger Betäubungsmittelkonsumation und psychiatrischer Behandlungen der Mutter mit der Erziehung des im April 2019 geborenen Kindes überfordert. Das Kind wurde aus diesem Grund in Obhut genommen und in einer Bereitschaftspflegefamilie untergebracht. Anschließend wurde auf Antrag des Jugendamtes den Eltern im Rahmen eines einstweiligen Anordnungsverfahrens vorläufig die elterliche Sorge in den Teilbereichen Aufenthaltsbestimmung, Regelung ärztlicher Versorgung und Recht zur Beantragung von Jugendhilfemaßnahmen entzogen. Auf die Beschwerde der Eltern bestätigte das Oberlandesgericht die familiengerichtliche Entscheidung.
Im Hauptsachverfahren wurde den Eltern das Sorgerecht gem. § 1666 BGB entzogen. Hiergegen legten die Eltern getrennt voneinander Beschwerde ein.
Da der Vater zwischenzeitlich drogenfrei und psychisch stabiler geworden war, hob das OLG den Beschluss des Amtsgerichtes auf und übertrug wesentliche Teil des Sorgerechtes auf den Vater. Weiterhin ordnete es den Verbleib des Kindes "bis auf Weiteres" im Haushalt der Pflegeeltern, "längstens bis zum 11. April 2022" an.
Mit der Verfassungsbeschwerde richtet sich die Verfahrensbeiständin des Kindes als Beschwerdeführerin gegen diesen Beschluss und rügt die Verletzung der Grundrechte des Kindes aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 2
Art 2 GG Deutschland
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
in Verbindung mit Art. 6 Abs. 2 S. 2
Artikel 6 Abs. 2
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.
sowie in Verbindung mit Art 20 Abs. 3 GG.
Artikel 30 Abs. 3
(3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.
Das Gericht führte auf, dass die Nachteile, die im Falle des Erlasses der einstweiligen Anordnung drohen würden, weniger schwer wiegten als die durch mehrfache Ortswechsel drohende erhebliche Kindeswohlbeeinträchtigung, die sich bei dem Kind im Falle der Versagung des Erlasses der einstweiligen Anordnung realisieren könnten.
Dies bedeutet nun, dass das Kind nicht vor einem endgültigen Beschluss eine mögliche Veränderung seines bisherigen Lebensmittelpunktes in der Pflegefamilie ertragen muss. Entweder es kann bei seiner Pflegefamilie verbleiben - dann hat es gar keinen weiteren Wechsel verkraften müssen - oder es geht in einem angemessenen Zeitraum zurück zu den Eltern - dann hat es nur diese eine weitere Trennung zu verkraften. Es war das Bestreben der Verfahrensbeiständin, dem Kind ein traumatisierendes Hin und Her zu ersparen. In diesem Ansinnen gab des Bundesverfassungsgericht ihr Recht.
Aus dem Beschluss des BVerFG-Beschlusses
Die Beschwerdeführerin ist aufgrund ihrer Bestellung als Verfahrensbeiständin auch berechtigt, Verfassungsbeschwerde einzulegen und mit dieser ‒ ausnahmsweise - für sie fremde Rechte des Kindes in eigenem Namen geltend zu machen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 3. Februar 2017 - 1 BvR 2569/16 -, Rn. 35).
Erginge die einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich später die Verfassungsbeschwerde aber als begründet, so würde das Kind zumindest zweimal einem Wechsel seiner engsten Betreuungspersonen sowie seines vertrauten Lebensumfelds ausgesetzt. Das wäre in Anbetracht seines Alters von nicht drei Jahren und seiner erhöhten Vulnerabilität durch den bereits erfahrenen Wechsel seiner Bezugspersonen mit erheblichen psychischen Belastungen verbunden. Das Kind müsste zunächst in Vollziehung des Beschlusses des Oberlandesgerichts bis spätestens zum 11. April 2022 an den Vater, mit dem er momentan nur Umgang von wenigen Stunden in der Woche pflegt, herausgegeben werden. Dies wäre neben dem Verlust seiner engsten Bezugspersonen in Gestalt seiner Pflegeeltern und seiner in deren Haushalt lebenden Halbschwestern auch mit einem Wechsel des ihm vertrauten häuslichen Umfelds verbunden. Nach Stattgabe der Verfassungsbeschwerde und Aufhebung der gerichtlichen Entscheidung vom 6. Dezember 2021 würde das Kind dann wiederum in Obhut genommen und zurück in die Pflegefamilie verbracht. Damit müsste es ein weiteres Mal einen Wechsel seiner Betreuungspersonen und seiner persönlichen Umgebung verkraften.
Dabei wäre bis zu einer erneuten Entscheidung des Oberlandesgerichts offen, ob es entweder bei der Fremdunterbringung bliebe oder das Herausgabeverlangen des Vaters doch erfolgreich wäre und erneut eine Rückführung an diesen angeordnet würde. Das Kind müsste also eventuell noch ein drittes Mal die Belastungen einer Änderung seiner engsten Kontakte und seines Lebensumfelds erleiden. Die insoweit drohenden mehrfachen Wechsel des Zuhauses und der unmittelbaren Bezugspersonen beeinträchtigten das Kindeswohl in erheblichem Maße
Erginge die einstweilige Anordnung, wäre die Verfassungsbeschwerde aber nicht erfolgreich, so verbliebe das Kind zunächst im Haushalt der Pflegeeltern in seiner vertrauten Umgebung. Durch dieses Fortdauern der Trennung von Eltern und Kind würde bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Hauptsache weiterhin in das Elternrecht des Vaters aus Art. 6 Abs. 2 und Abs. 3 GG eingegriffen. Erwiese sich die Verfassungsbeschwerde nachfolgend als unbegründet, würde die vom Oberlandesgericht angeordnete schrittweise Rückführung des Kindes in den Haushalt des Vaters beginnen. Es verzögerte sich also die Rückkehr des Kindes und damit auch die vollständige Ausübung des Elternrechts durch den Vater, dies jedoch lediglich für einen überschaubaren Zeitraum.
Wägt man die Folgen gegeneinander ab, so wiegen hier die Nachteile, die im Falle des Erlasses der einstweiligen Anordnung drohen, weniger schwer als die durch mehrfache Ortswechsel drohende erhebliche Kindeswohlbeeinträchtigung, die sich bei dem zweieinhalbjährigen Kind im Falle der Versagung des Erlasses der einstweiligen Anordnung realisieren könnte.
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Zwischenruf der IGfH anlässlich der Debatte um die Wirksamkeit ambulanter Hilfen im Kontext von Kindeswohlgefährdungen