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17.12.2018
Gerichtsbeschluss erklärt
vom: 
26.11.2017

Autor*in(nen):

Kein Anspruch auf Opferentschädigung wegen Alkoholkonsum während der Schwangerschaft

Das Landessozialgericht Bremen hat in seinem Beschluss die bisherige Rechtsmeinung unterstützt, dass der Alkoholkonsum der Mutter während der Schwangerschaft kein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff iSv § OEG § 1 OEG ist und daher auch keinen opferentschädigungsrechtlichen Anspruch auslöst.

Das geschädigte Kind ist 2001 geboren und lebt in einer Pflegefamilie. Seine Pflegeeltern haben für ihn im März 2012 beantragt, Schädigungsfolgen festzustellen und Versorgungsleistungen zu gewähren. Zur Begründung haben sie darauf hingewiesen, die leibliche Mutter des Kindes habe während der Schwangerschaft Alkohol, Cannabis und Nikotin zu sich genommen. Dies habe zu einer Schädigung des Kindes im mütterlichen Leib geführt. Das Kind sei daher Opfer einer schädigenden Einwirkung im Sinne des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) geworden.

Nach einem ablehnenden Bescheid, gegen den Widerspruch eingelegt wurde, lehnte das beklagte Land den Widerspruch im Juni 2012 ebenfalls ab. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass es sich bei den angeschuldigten Verhaltensweisen der leiblichen Mutter des Kindes nicht um eine schädigende Einwirkungen iSd des OEG handele.

In der darauf folgenden Klage wurde - wie schon im Verwaltungsverfahren – ein Schreiben eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie K. vorgelegt. Dieser hatte bei dem Kind eine hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens, eine emotionale Störung des Kindesalters mit Hinweisen einer Bindungsstörung sowie ein embryofetales Alkoholsyndrom diagnostiziert.

Einige grundlegende Rechtspositionen aus dem Urteil:
  • Das SG B hat die Klage mit Urteil vom 19.6.2014, welches dem Kl. am 16.7.2014 zugestellt worden ist, abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, bei den angeschuldigten Einwirkungen handele es sich nicht um Tatbestände des OEG. Zum einen handele sich schon deshalb nicht um einen tätlichen Angriff iSd OEG, weil es insoweit an einem strafbaren Verhalten fehle. Hinsichtlich der Körperverletzungstatbestände ergebe sich dies schon daraus, dass es hier nicht zu einem Angriff auf eine andere Person im Sinne des Strafrechts gekommen sei. […] Die angeschuldigten Verhaltensweisen könnten auch nicht als Vergiftung iSd OEG verstanden werden.
  • Die schwangere Frau kann also in Ausübung ihrer Grundrechte autonom entscheiden, ob sie während der Schwangerschaft etwa Alkohol zu sich nimmt. Sie hat die grundrechtliche Freiheit, den Umgang mit ihrem Körper während der Schwangerschaft im Rahmen der geltenden Gesetze selbst zu gestalten – auch wenn dies aus der Sicht anderer möglicherweise unvernünftig oder sogar unethisch erscheint. Aus der Literatur ergibt sich auch, dass dies ca 27 % der schwangeren Frauen tun
  • Zunächst hat das Sozialgericht zutreffend darauf hingewiesen, dass die Mutter des Kl. nicht rechtswidrig gehandelt hätte, wenn unterstellt wird, sie hätte die drei angeschuldigten Substanzen während der Schwangerschaft konsumiert. Die leibliche Mutter hätte damit gegen keine Norm des geschriebenen Rechts verstoßen, da es keine Norm gibt, die ihr ein solches Verhalten verbieten würde.
  • Dass zur Rechtswidrigkeit des Angriffs iSv OEG § 1 noch die „feindselige Willensrichtung“ der Täterin hinzutreten müsse. Mit diesem, dem „Angriff“ im Wortsinn immanenten Merkmal grenzt das Opferentschädigungsrecht sozial adäquates und gesellschaftlich noch toleriertes Verhalten von einem auf Rechtsbruch gerichteten Handeln der Täterin ab, welches allein zur Entschädigung eines Opfers führen kann.
  • Nach diesem Maßstab handeln Schwangere, die Alkohol trinken – oder wie hier unterstellt Cannabis oder Nikotin konsumieren –, nicht „rechtsfeindlich“. Embryonal durch Substanzkonsum ihrer Mütter geschädigte und deshalb behindert geborene Kinder haben also auch mangels „Rechtsfeindlichkeit“ der schädigenden Handlung keinen Anspruch auf Feststellung von Schädigungsfolgen und Zuerkennung von Beschädigtenrente nach dem OEG.
  • Danach beginnt die Rechtsfähigkeit des Menschen mit der Vollendung der Geburt. Vor der Geburt lassen sich die Mutter und der Embryo personal noch nicht differenzieren. Das BSG weist darauf hin, dass das werdende Kind vor der Geburt mit der Mutter eine biologische Einheit bildet.