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21.01.2020
Gerichtsbeschluss erklärt
vom: 
06.02.2019

Autor*in(nen):

Kindeswohlgefährdung im rechtlichen Sinne

Der Bundesgerichtshof erläutert in einem Beschluss die rechtlichen Bedingungen, unter denen von einer Kindeswohlgefährdung nach § 1666 und § 1666a BGB ausgegangen werden muss.

Der BGH bearbeitet in diesem Beschluss die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Entscheidung sorgeberechtigter Eltern z.B. zum Aufenthaltsort des Kindes eine Kindeswohlgefährdung darstellt. Wie hoch muss die Wahrscheinlichkeit sein, dass eine Kindeswohlgefährdung unter den gegebenen Umständen eintreten könnte? In welcher Form ist der Schutz des Familienlebens, das Recht der Eltern und der Wille des Kindes abzuwägen gegenüber einem Schutz des Kindes vor eventueller Gefährdung? Ab wann gilt der staatliche Eingriff der Inobhutnahme und Fremdunterbringung des Kindes als unverhältnismäßig und als nicht zu vertretender Eingriff in das Sorgerecht der Eltern? Unter welchen Voraussetzungen muss das Jugendamt den Eltern verschiedene Möglichkeiten der Hilfe zur Erziehung anbieten, um eine mögliche Gefährdung des Kindes im Blick zu haben und gleichzeitig die Familie zu unterstützen und zu stärken? Wo verlaufen hier die Grenzen und wann ist ein staatlicher Eingriff unumgänglich? 

Der BGH befasst sich hier mit einer Frage, die allen Beteiligten am Kinderschutz immer wieder vor Augen steht. Eine Frage, die eine Gradwanderung sein kann zwischen den verschiedenen Rechten und Vorstellungen der involvierten Personen, die aber letztendlich immer nur in einer Richtung zum unabdingbaren Schutz des Kindes zu beantworten ist

Auszüge aus den Leitsätzen des Bundesgerichtshofes zum Urteil

a) Eine Kindeswohlgefährdung im Sinne des § 1666 Abs. 1 BGB liegt vor, wenn eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr festgestellt wird, dass bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind dabei umso geringere Anforderungen zu stellen, je schwerer der drohende Schaden wiegt. 

b) Die Annahme einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit muss auf konkreten Verdachtsmomenten beruhen. Eine nur abstrakte Gefährdung genügt nicht.

c) Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer gerichtlichen Maßnahme nach § 1666 BGB ist auch das Verhältnis zwischen der Schwere des Eingriffs in die elterliche Sorge und dem Grad der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts für das Kind zu beachten. Die – auch teilweise – Entziehung der elterlichen Sorge ist daher nur bei einer erhöhten Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, nämlich ziemlicher Sicherheit, verhältnismäßig.

d) Die Differenzierung der Wahrscheinlichkeitsgrade auf der Tatbestandsebene und der Rechtsfolgenseite ist geboten, um dem Staat einerseits ein – gegebenenfalls nur nieder-schwelliges – Eingreifen zu ermöglichen, andererseits aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeit eine Korrekturmöglichkeit zur Verhinderung übermäßiger Eingriffe zur Verfügung zu stellen.


BGB § 1666 Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls

(1) Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.

(2) In der Regel ist anzunehmen, dass das Vermögen des Kindes gefährdet ist, wenn der Inhaber der Vermögenssorge seine Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind oder seine mit der Vermögenssorge verbundenen Pflichten verletzt oder Anordnungen des Gerichts, die sich auf die Vermögenssorge beziehen, nicht befolgt.

(3) Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach Absatz 1 gehören insbesondere

1. Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen,

2. Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen,

3. Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu nutzen, sich in einem bestimmten Umkreis der Wohnung aufzuhalten oder zu bestimmende andere Orte aufzusuchen, an denen sich das Kind regelmäßig aufhält,

4. Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen oder ein Zusammentreffen mit dem Kind herbeizuführen,

5. die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge,

6. die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge.

(4) In Angelegenheiten der Personensorge kann das Gericht auch Maßnahmen mit Wirkung gegen einen Dritten treffen.

 

BGB § 1666a Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Vorrang öffentlicher Hilfen

(1) Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, sind nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. Dies gilt auch, wenn einem Elternteil vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Nutzung der Familienwohnung untersagt werden soll. Wird einem Elternteil oder einem Dritten die Nutzung der vom Kind mitbewohnten oder einer anderen Wohnung untersagt, ist bei der Bemessung der Dauer der Maßnahme auch zu berücksichtigen, ob diesem das Eigentum, das Erbbaurecht oder der Nießbrauch an dem Grundstück zusteht, auf dem sich die Wohnung befindet; Entsprechendes gilt für das Wohnungseigentum, das Dauerwohnrecht, das dingliche Wohnrecht oder wenn der Elternteil oder Dritte Mieter der Wohnung ist.

(2) Die gesamte Personensorge darf nur entzogen werden, wenn andere Maßnahmen erfolglos geblieben sind oder wenn anzunehmen ist, dass sie zur Abwendung der Gefahr nicht ausreichen.

Das BGH befasste sich in diesem Beschluss mit der Frage der Kindeswohlgefährdung anhand eines Einzelfalles, in dem die Entscheidung aufkam, ob es rechtmäßig ist, einer sorgeberechtigten Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre Tochter zu entziehen, weil sie mit einem Mann zusammen lebt, der als Sexualstraftäter verurteilt worden war. 

Das Jugendamt sah eine Gefährdung des Kindeswohls, nahm das Mädchen in Obhut und brachte sie in einer Einrichtung unter. Das Amtsgericht entzog der Mutter das Aufenthaltsbestimmungsrecht, das OLG bestätigte dies.

Der BGH entschied, dass diese Maßnahme nicht den Anforderungen an eine Kindeswohlgefährdung entsprach, das sowohl Gutachter als auch Verfahrensbeistand eine Rückführung des Mädchens in die Familie befürworteten, weil sie der Überzeugung waren, dass die Mutter - aber auch ihr Partner selbst - keine Gefährdung des Mädchens sahen.

Der BGH beschrieb ausführlich die rechtlichen Gründe, warum die Entscheidungen der Vorgerichte in diesem speziellen Verfahren nicht angemessen waren und eine Rückkehr des Mädchens in die Familie zu Mutter und Partner nicht kindeswohlgefährdend sei und verweist dabei besonders auf die Bereitwilligkeit der Mutter und ihres Partners:

Auszug aus dem Beschluss

Bezogen auf die vom Oberlandesgericht angedachten Weisungen, die das Zusammenleben der Familie einschränkten, verweist die Rechtsbeschwerde zu Recht auf die Bereitschaft des Lebensgefährten, aus seiner Wohnung auszuziehen und sogar seine Beziehung zur Mutter aufzugeben. Nur der Vollständigkeit halber weist der Senat allerdings darauf hin, dass in Anbetracht der bisherigen Erwägungen Maßnahmen unverhältnismäßig erschienen, die darauf abzielten, dass entweder die Mutter mit ihrer Tochter oder deren Lebensgefähr-te selbst aus der Wohnung auszieht, die also ein Zusammenwohnen der Familie unmöglich machten. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass die Familie ausweislich der getroffenen Feststellungen der Tochter Halt gibt und ihre bisherige Entwicklung erheblich gefördert hat.

Anders als das Oberlandesgericht meint, lässt sich den Feststellungen vielmehr entnehmen, dass sich die Mutter und ihr Lebensgefährte kooperativ verhalten haben. Zwar haben sie tatsächlich nicht immer offengelegt, dass der Lebensgefährte wegen Sexualdelikten zum Nachteil Minderjähriger verurteilt worden ist. Daraus und aus dem Umstand, dass er unter seine Verurteilung gerne einen Schlussstrich ziehen würde, kann aber nicht zwingend gefolgert werden, dass sie den Ernst der Lage nicht erkannt hätten, gerade auch unter dem Eindruck dieses Sorgerechtsverfahrens. Der Verfahrensbeistand, Rechtsanwältin B., hat hierzu in der Anhörung vor dem Oberlandesgericht ausgeführt, sie habe die Mutter und ihren Lebensgefährten in dem Gespräch als offen erlebt. Für sie sei ihre Kooperationsbereitschaft kein Lippenbekenntnis gewesen. Sie seien auf das Alte, auf die früheren Erlebnisse zurückgeworfen worden und hätten sich damit auseinandergesetzt. Sie habe keine Bagatellisierung erlebt. Der Lebensgefährte habe vielmehr zum Ausdruck gebracht, dass es ihm bewusst sei, wie sich seelisches Leid von Eltern anfühle, und dies habe er in Bezug zu seinen früheren Taten gesetzt. Sie hätten in dem Gespräch deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie bereit seien, alles zu unternehmen, damit sie weiter als Familie zusammenleben könnten. Wenn die Mutter in Anbetracht der für sie schwer verständlichen Fremdunterbringung von S. insbesondere gegenüber dem Jugendamt mitunter ablehnend reagiert hat, erscheint dies vor dem Hintergrund des gesamten Verfahrens noch nachvollziehbar.