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Wechsel der Pflegeeltern
C. I. § 1632 IV BGB ist verfassungskonform dahin auszulegen, dass dem Herausgabeverlangen der Eltern oder eines Elternteils, mit dem nicht die Zusammenführung der Familie, sondern ein Wechsel der Pflegeeltern bezweckt wird, nur stattzugeben ist, wenn mit hinreichender Sicherheit eine Gefährdung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes ausgeschlossen werden kann.1. Die Beschlüsse, gegen die sich die Verfassungsbeschwerde richtet, beruhen auf der Anwendung des § 1632 I, IV BGB. Die sorgeberechtigten Eltern haben nach § 1632 I BGB das Recht, die Herausgabe des Kindes von jedem zu verlangen, der es ihnen widerrechtlich vorenthält. Das folgt aus der Befugnis, den Aufenthalt des Kindes gem. § 1631 I BGB zu bestimmen. Dieser Herausgabeanspruch wird in § 1632 IV BGB dahin modifiziert, dass die Herausnahme des Kindes aus einer Pflegefamilie zur Unzeit vermieden werden soll, um sein persönliches, insbesondere seelisches Wohl nicht zu gefährden. Die Vorschrift enthält keine schematische Beschränkung der elterlichen Rechte, sondern macht die Entscheidung der Gerichte von den Verhältnissen des einzelnen Falles abhängig. Sie entspricht damit dem Grundsatz, dass individuelle Massnahmen zur Abwehr einer Gefährdung der Kinder den Vorrang vor generellen Regelungen haben.2. Das Grundgesetz ist als ranghöchstes innerstaatliches Recht nicht nur Massstab für die Gültigkeit von Rechtsnormen aus innerstaatlicher Rechtsquelle; jede dieser Rechtsnormen ist im Einklang mit dem Grundgesetz auszulegen. Sie empfängt daraus im Namen ihres Wortlauts gegebenenfalls einen ergänzenden Sinn oder ist, wenn die übrigen Voraussetzungen hierfür erfüllt sind, im Einklang mit dem Grundgesetz fortzubilden. Denn das Grundgesetz ist Teil der Gesamtrechtsordnung, die als Sinnganzes verstanden werden muss und jeglicher Auslegung innerstaatlichen Rechts zugrunde zu legen ist (vgl. BVerfGE 51, 304, 323).Bei einer Entscheidung nach § 1632 IV BGB, die eine Kollision zwischen dem Interesse der Eltern oder des allein sorgeberechtigten Elternteils an der Herausgabe des Kindes und dem Kindeswohl voraussetzt, verlangt die Verfassung eine Auslegung der Regelung, die sowohl das Elternrecht aus Art. 6 II S. 1 GG als auch der Grundrechtsposition des Kindes aus Art. 2 I i. V. mit Art 1 I GG Rechnung trägt. Im Rahmen der erforderlichen Abwägung ist bei der Auslegung von gesetzlichen Regelungen im Bereich des Art. 6 II GG in gleicher Weise wie bei Entscheidungen des Gesetzgebers zu beachten, dass das Wohl des Kindes letztlich bestimmend sein muss (vgl. BVerfGE 85, 39,41+).a) Das Verhältnis des Elternrechts zum Persönlichkeitsrecht des Kindes wird durch die besondere Struktur des Elternrechts geprägt. Dieses ist wesentlich ein Recht im Interesse des Kindes, wie sich schon aus dem Wortlaut des Art. 6 II S. 1 GG ergibt, der vom Recht zur Pflege und Erziehung des Kindes spricht und auf diese Weise das Kindesinteresse in das Elternrecht einfügt (vgl. BverfGE 82, 570 LS+). Es entspricht auch grundsätzlich dem Kindeswohl, wenn sich ein Kind in der Obhut seiner Eltern befindet; denn die Erziehung und Betreuung eines minderjährigen Kindes durch Mutter und Vater innerhalb einer harmonischen Gemeinschaft gewährleistet am ehesten, dass das Kind zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit heranwächst (vgl BVerfGE 81, 429, 436+). Dieser Idealzustand ist aber nicht immer gegeben und liegt dann nicht vor, wenn Kinder in einer Pflegefamilie aufwachsen. Dabei kann die Begründung eines Pflegeverhältnisses auf einem freiwilligen Beschluu der Elternoder des allein sorgeberechtigten Elternteils beruhen; häufig wird es jedoch behördlich angeordnet sein. Unabhängig von der Art ihres Zustandekommens ist in Übereinstimmung mit Art. 6 II S.1 GG anzustreben, Pflegeverhältnisse nicht so zu verfestigen, dass die leiblichen Eltern mit der Weggabe in nahezu jedem Fall den dauernden Verbleib ihres Kindes in der Pflegefamilie befürchten müssen. Das schliesst indessen nicht aus, dass § 1632 IV BGB selbst Entscheidungen ermöglichen muss, die aus der Sicht der Eltern nicht akzeptabel sind, weil sie sich in ihrem Elternrecht beeinträchtigt fühlen ( 1 BvR 284/84 3b#).b) Wie sich aus den Gutachten Fthenakis und Lempp ergibt, sind im Bereich der Kinderpsychologie und Kinderpsychatrie selbst früher als gesichert geltende Erkenntnisse über die Auswirkungen einer Trennung, die Kleinkinder von ihren unmittelbaren Bezugspersonen betrifft, aufgrund neuerer Forschungsergebnisse in Frage zu stellen. Unabhängig davon ist aber nach wie vor unbestritten, dass ein derartiger Vorgang eine erhebliche psychische Belastung für ein Kind darstellt, deren Bewältigung von seiner Persönlichkeitsstruktur und den Begleitumständen abhägt, unter denen sich der Wechsel vollzieht. Allgemein ist nach den vorliegenden Gutachten jedenfalls davon auszugehen, dass für sein Kind mit seiner Herausnahme aus der gewohnten Umgebung ein schwer bestimmbares Zukunftsrisiko verbunden ist. Die Unsicherheiten bei der Prognose dürfen zwar nicht dazu führen, dass bei der freiwilligen Begründung eines Pflegeverhältnisses oder bei einer Wegnahme des Kindes von seinen Eltern mit anschliessender Unterbringung in einer Pflegefamilie durch die Behörde die Zusammenführung von Kind und Eltern grundsätzlich dann ausgeschlossen ist, wenn das Kind seine "sozialen" Eltern gefunden hat. Bei der Abwägung zwischen Elternrecht und Kindeswohl im Rahmen von Entscheidungen nach § 1632 IV BGB ist es indessen von Bedeutung, ob das Kind wieder in seine Familie zurückkehren soll oder ob nur ein Wechsel der Pflegefamilie beabsichtigt ist. Danach bestimmt sich das Mass der Unsicherheit über mögliche Beeinträchtigungen des Kindes, das unter Berücksichtigung seiner Grundrechtsposition hinnehmbar ist. Die Risikogrenze ist generell weiter zu ziehen, wenn die leiblichen Eltern oder ein Elternteil wieder selbst die Pflege des Kindes übernehmen wollen. Eine andere Ausgangslage aber ist dann gegeben, wenn das Kind nicht in den Haushalt von Vater und Mutter aufgenommen werden soll, sondern lediglich seine Unterbringung in einer neuen Pflegefamilie bezweckt wird, ohne das dafür wichtige, das Wohl des Kindes betreffende Gründe sprechen. Die Durchsetzung des Personensorgerechts nach § 1631 I BGB in der form des Aufenthaltsbestimmungsrechts ist in einem solchen Fall mit Art. 2 I i. V. mit Art. 1 I GG nur vereinbar, wenn mit hinreichender Sicherheit auszuschliessen ist, das die Trennung des Kindes von seinen Pflegeeltern mit psychischen oder physischen Schädigungen verbunden sein kann.3. Diese Auslegung des § 1632 IV BGB, die sich aus Art. 2 I i. V mit Art 1 I GG ergibt, steht die Entstehungsgeschichte der Vorschrift, die durch Art. 1 Nr. 8 des Gesetztes zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge v. 18.7.1979 ( BGBl I 1061) -SorgeRG- in das Bürgerliche Gesetzbuch eingefügt wurde, nicht entgegen. Mit der Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge sollte den Forderungen von Fachverbänden und Fachleuten Rechnung getragen und eine stärkere rechtliche Stellung des Kindes in der Familie erreicht werden. Dazu gehörte auch die Verbesserung des Schutzes der Pflegekinder ( vgl BverfG ! BvR 284/84C 1 a)). Im Gesetzgebungsverfahren wurde unter Bezugnahme auf die Rechtssprechung des BVerfG betont, im Rahmen der elterlichen Erziehungsverantwortung müsse berücksichtigt werden, dass jedes Kind ein Wesen mit eigener Menschenwürde und dem eigenen Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit sei. Dem entspricht eine Auslegung des § 1632 IV BGB, dass in den Fällen, in denen die Geltendmachung des Aufenthaltsbestimmungsrechts durch den Sorgeberechtigten nicht zur Zusammenführung des Kindes mit seinen Eltern oder einem Elternteil führen soll, die Trennung des Kindes von seinen Pflegeeltern nur dann erfolgen darf, wenn eine Gefährdung seines Wohls nicht zu befürchten ist.
Bezüge:
GG.Art1I
2I
6II
6III
103I
BGB§§1631
1632IV
1666