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Herkunft - Vergangenheit - Gegenwart
Adoptiv- und Pflegekinder und ihre Familien
Themen:
In einer Familie lebten eine Pflegetochter und eine Adoptivtochter. Sie waren sich als Geschwister sehr verbunden – es gab jedoch einen permanenten Diskussionspunkt: Während die Pflegetochter etwas genervt über ihren Status als Pflegekind war und die Besuchskontakte mit ihrer leiblichen Mutter so hinnahm wurde sie gerade deswegen von ihrer Schwester schwerstens beneidet: denn sie kannte ihre leibliche Mutter, wusste über ihre Herkunft bescheid – welch ein Glück.
In den letzten Jahren/Jahrzehnten hat sich die Sichtweise über die Frage der Bedeutung der Herkunft für Adoptiv- und Pflegekinder verändert. Während man vor vielen Jahren noch fest an die allein selig machende und allein wirkungsvolle Prägung durch Erziehung glaubte, wissen wir heute, wie deutlich wir durch die Gene unserer Eltern geprägt werden und wie bedeutsam die Art des Aufwachsens in den ersten Lebensjahren ist.
Genforschung und Hirnforschung haben unseren Blick geweitet auf die Generationen vor uns, ihn aber auch andererseits gebündelt auf die Bedeutung der Erfahrungen unseres frühen Lebens.
Wissen um die eigene Herkunft
Jeder Mensch hat ein Recht auf Wissen um seine Herkunft. Dieses Recht leitet sich ab aus dem Artikel 2 Grundgesetz, dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, wie es das Bundesver-fassungsgericht in seinem Urteil vom 31.1.1989 beschlossen hat.
Kinder, die in neue Familien „umziehen“ brauchen dringend die Akzeptanz ihrer bisherigen Geschichte. Eine tragfähige Bindung oder Beziehung an die neuen Eltern kann sich nur ergeben, wenn sie sich mit all ihren bisherigen Lebensschritten voll angenommen fühlen. Das Wissen um die Herkunft bedeutet bei manchen Kindern nicht nur das Wissen um die Geburtsfamilie, sondern auch das Wissen um andere Unterbringungen z.B. bei Verwandten, Bereitschaftspflegefamilie, Heim bevor sie in die dauerhafte Familie gekommen sind. Zu allen wichtigen positiv besetzen Menschen sollte das Kind Beziehungen und gute Gefühle erhalten dürfen.
Bei der Kindschaftsrechtsreform hat sich der Gesetzgeber dieses Gedankenganges angenommen und im § 1685 BGB ein entsprechendes Gesetz geschaffen, welches dem Kind einen weiteren Zugang zu den für es bedeutsame Menschen ermöglicht.
§ 1685
Umgang des Kindes mit anderen Bezugspersonen
(1) Großeltern und Geschwister haben ein Recht auf Umgang mit dem Kind, wenn dieser dem Wohl des Kindes dient.
(2) Gleiches gilt für enge Bezugspersonen des Kindes, wenn diese für das Kind tatsächliche Verantwortung tragen oder getragen haben (sozial-familiäre Beziehung). Eine Übernahme tatsächlicher Verantwortung ist in der Regel anzunehmen, wenn die Person mit dem Kind längere Zeit in häuslicher Gemeinschaft zusammengelebt hat.
(3) § 1684 Abs. 2 bis 4 gilt entsprechend.
Dadurch sollen für das Kind unverständliche Brüche in seiner Biografie vermieden werden.
Durch Interviews erwachsener Pflegekinder wurde deutlich, wie wesentlich es zum Gelingen eines Adoptiv- oder Pflegeverhältnisses beiträgt, wenn die Kinder Klarheit über den Wechsel von einer Familie zur anderen hatten. Warum musste ich gehen? Was passierte dann mit den Eltern? Was mit den Geschwistern? Konnten Kinder sich das Geschehen erklären, wussten sie was passierte, sprachen Beteiligte mit ihnen darüber und ließ man sie nicht im Dunkeln stehen, dann konnten sie sich auf das Neue einlassen.
Wo komme ich her?
Die Familie von der ich abstamme ist wichtig. Für manche Kinder und auch Erwachsene ist dies so bestimmend, dass sie von den Gedanken an diese Familie fast überwältigt werden und wie in einen Sog geraten. Ich denke dabei besonders an einen jungen Mann, der von einem Fernsehteam auf seiner Suche nach seiner leiblichen Familie begleitet wurde. Er fuhr in sein Ursprungsland Indien und versuchte dort - trotz minimalstem Wissen über seine Herkunft und seine Adoptionsvermittlung- seine Mutter zu finden. Es gelang ihm nicht. Er kam zurück nach Deutschland, besessen davon, wieder los zu ziehen und andere Wege auszuprobieren. Er konnte an nichts anderes mehr denken – war total befangen in seiner Suche.
Wir Menschen wollen es wissen – wollen wissen, was mit uns warum passierte. Unser Leben ist in uns, wir tragen es in uns – aber oft „wissen“ wir es nicht bewusst und deutlich. Dann werden Gefühle und Handlungen bestimmt durch etwas, was wir uns nicht erklären, vielleicht erahnen aber oft angstvoll nicht zubilligen können.
Das Wissen um unsere Herkunft setzt wesentliche Puzzlestücke unserer Persönlichkeit zusammen. Angenommene Kinder bestehen nicht nur aus Herkunft und bestehen nicht nur aus der neuen Familie. Ihre Persönlichkeit, ihre Identität setzt sich aus beidem zusammen und wird ebenso ergänzt durch ihre Lebenserfahrungen.
Die Selbsthilfegruppen der erwachsenen Adoptierten nannten sich zu Beginn „Wurzel und Flügel“ und oft wurde dieser Name so interpretiert, dass die Wurzel die Herkunft und die Flügel die Adoptiv- oder Pflegefamilie war.
Ich konnte diese Interpretation so nie nachvollziehen – denn wie deutlich können wir erkennen, dass sich angenommene Kinder bei einer vollen Integration in ihre neue Familien auch deren Werte, Überzeugungen, familiäre Eigenarten und Sichtweisen zu Eigen machen. Diese werden - wie das, was sie von ihrer Herkunftsfamilie mitbekommen haben- Wurzeln ihres Lebensbaums. Ein dürftiger Baum wird nach der Umpflanzung neue Wurzeln treiben – es kommen neue Wurzeln zu den alten, beide gedeihen und ernähren ihn und treiben ihn zu umfassender Blüte.
In jedem Vorbereitungsseminar für Adoptiveltern und Pflegeeltern werden diese Gedanken den Bewerbern ans Herz gelegt. Für viele dieser Eltern werden sie selbstverständliche Denk- und Handlungsmuster. Jedoch nicht für alle. Auch heute noch ziehen Adoptiveltern nach vollzogener Adoption an einen anderen Wohnort um dort als „richtige“ Familie neu anfangen zu können.
In früheren Jahren war das Verschweigen der Adoption üblich. Viele adoptierte Kinder fanden selbst heraus, dass sie adoptiert waren oder man informierte sie so nebenbei - gezwungenermaßen, damit sie es nicht von anderen erfahren. Meist waren die Kinder dann schon älter oder sogar schon erwachsen. Manche erfuhren es, wenn sie ihre Abstammungsurkunde brauchten. Für die meisten dieser Adoptierten bedeutete dies ein großer Schock – nicht weil sie adoptiert waren, sondern weil sie es nicht gewusst haben. Sie fühlten sich verraten, betrogen, nicht ernst genommen. Gleichzeitig waren sie erleichtert – denn hatten sie nicht immer gemerkt, dass irgendetwas anders war?
Manche der Adoptierten gingen auf Suche, viele jedoch zögerten, glaubten ihre Adoptiveltern zu verletzen und zu kränken wenn sie es täten und warteten daher oft bis zu deren Tod. Manche trauten sich auch dann nicht, glaubten so klar zu kommen und trugen die nicht begonnene Suchen und das Nichtwissen wie einen Stein in sich.
Anrufe nach einer Fernsehsendung
Vor einigen Jahren wurde ich vom ZDF als Expertin in eine „Frühstückssendung“ eingeladen. Es ging um das Thema der Herkunft für Adoptiv- und Pflegekinder. Im Anschluss an diese Sendungen gab es dann für die Zuschauer eine Stunde lang die Möglichkeit, der Expertin Fragen zu stellen.
So geschah es auch an diesem Tag. In dieser Stunde kamen 17 Anrufe. Manche Anrufer bat ich, mich am nächsten Tag noch einmal anzurufen, weil dieses lange Gespräch zu werden schienen.
Die überwiegende Mehrzahl der Anrufer waren ältere Leute (eigentlich klar, wenn man die Tageszeit des Sendung beachtet). Es waren Männer und Frauen, die selbst adoptiert wurden oder ältere Mütter, die zur Adoption freigegeben hatten. Viele aus der ehemaligen DDR.
Um was ging es bei den Anrufen, was haben die Anrufer gefragt und besprechen wollen?
- eine fast 80jährige Adoptivmutter, war ganz anderer Meinung war als ich und bedauerte sehr, dass überhaupt die Adoptierten über die Adoption aufgeklärt werden sollten. Sie habe zwei mal den Versuch gemacht mit ihrem Adoptivsohn darüber zu sprechen, der habe dann immer geantwortet: ach Mutter, lass das mal – und dann habe sie es dankbar gelassen
- eine 82jährige abgebende Mutter suchte ihren Sohn, da sie nun keinen mehr habe, der sich um sie kümmere
eine Adoptierte fragte, ob sie von ihrer leiblichen Mutter wieder adoptiert werden könne
- eine Adoptierte wollte nun auf Suche gehen, da ihre inzwischen erwachsenen Kinder über ihre Herkunft mehr wissen wollten
- eine abgebende Mutter schilderte, dass das Jugendamt ihrer suchenden Tochter von Kontakten abgeraten habe, da sie – die leibliche Mutter- Alkoholikerin sein und sich überhaupt nur Söhne gewünscht habe, was alles gar nicht stimme. Die Tochter habe andere Wege der Suche eingeschlagen, man habe sich gefunden und sei glücklich darüber
- eine Tante einer Adoptierten fragte nach, ob die Adoptierten denn noch bei der Herkunftsfamilie erbberechtigt seien.
- Für einige Adoptierten riefen die EhepartnerInnen an und erkundigten sich nach Wegen der Suche, da die Frage für die Adoptierten immer wieder Thema seien, gerade jetzt, wo sie älter würden
- Für andere Adoptierten fragten Schwester, Brüder oder Schwägerinnen nach.
- Eine Adoptierte suchte nach ihrem leiblichen Vater und fragte nach, ob es keinen Weg gäbe, die leibliche Mutter, die sie inzwischen kenne, zu zwingen, den Vater preis zu geben
- Ein Mann meldete sich, erklärte, dass er Transsexueller und eigentlich die leibliche Mutter seiner Kinder sei. Er habe seine Kinder im Pubertätsalter inzwischen kennen gelernt, die wollten zur Zeit jedoch nichts von ihm wissen – aber er habe doch so großes Interesse an ihnen.
Wie hilfreich doch wohl ein Leben, das wie ein Buch vor einem liegt und dessen Seiten wir betrachten und verstehen können.
Ein Weg: Biografiearbeit
Erfahrungsbericht:
Vor vielen Jahren lernte ich den 9jährigen Peter kennen, der in einer Pflegefamilie war. Er lebte dort seit gut 3Jahren, war also mit 6 in die Familie gekommen. Er war angepasst in der Familie, bekam jedoch hin und wieder aggressive Ausfälle die er gegen Dinge richtete. Das war wie Luft ablassen, dann ging es wieder eine zeitlang.
Die Pflegeeltern befürchteten, dass die Aggressionen sich steigern und sich eventuell auch mal gegen Personen richten würden und so bekam ich den Auftrag, Peter eine zeitlang zu begleiten.
Peter war erfreut, er nahm mich sofort in Beschlag. Er hatte klare Vorstellungen, was er von mir wollte und sein erster sofort geäußerter Wunsch war:
„Kannst Du mir ein Bild von meiner Mutter oder meiner Familie besorgen?“Es stellte sich heraus, dass seine Pflegeeltern sehr wenig von ihm wussten. Das zuständige Jugendamt wusste auch wenig, die Übergabeakte des damals vermittelnden Jugendamtes für das nun zuständige Amt war sehr dünn. Magere Sätze beschrieben einen Sorgerechtsentzug wegen ständiger Streitigkeiten und Gewalt der Eltern, eine Unterbringung in einem Heim und nach einem Jahr in der Pflegefamilie. Es hatte in all den Jahren keinerlei auch nur irgendwie gearteten Kontakt von Peter zur Herkunftsfamilie gegeben.
Biografiearbeit war damals noch nicht in aller Munde. Es waren Kinder wie Peter, die uns lehrten wie wichtig diese Arbeit werden würde.
Peter machte mir deutlich, dass in ihm ein Loch sei – schwarz, leer. Er fühlte sich einsam, verlassen. Er lebte in der Pflegefamilie, und es war o.k., dass er dort war, er fühlte sich aber dort nicht wirklich zu Hause. Wenn der Druck zu groß wurde, schlug er um sich – wurde großspurig, arrogant, bedrohlich.
Wir machten uns auf den Weg. Es drängte ihn, mir von sich zu erzählen – nichts von der Pflegefamilie, sondern von vorher. Er berichtete von einer Familie, die es so nicht gegeben haben konnte – das war sogar den mageren Blättern der Akte zu entnehmen. Er erinnere sich genau, sagte er, und erfand Hoffnungen. Ich hörte ihm zu und nach einer Weile brachte ich uns in die Gegenwart zurück, in dem ich ihm berichtete, was ich alles unternommen hatte, um endlich an ein Bild seiner Mutter oder Familie zu kommen. Es war ein mühseliges Unterfangen – und es interessierte ihn brennend. Jeder Schritt wurde vermerkt, jede neue Möglichkeit mehrfach hin und her gewogen. Das Bild wurde fast unerreichbar.
Aber er brauchte etwas, dass es begreifen konnte, anfassen konnte. Er sehnte sich nach Realem – er wollte seine Geschichte nicht mehr erfinden.
In den mageren Unterlagen fand ich auch seinen Geburtsort. Es war ein kleiner Ort und wir beschlossen ihn aufzusuchen. Wir spazierten durch den Ort und kamen an das einzige Krankenhaus. Es war davon auszugehen, dass er hier geboren war. Das beglückte ihn. Ich hatte einen Fotoapparat mitgebracht und er fotografierte das Krankenhaus von allen Seiten, er fotografierte den Eingang, den Parkplatz, alles.Als die Fotos entwickelt waren, klebten wir sie auf Blätter und hefteten sie in einen Ordner. Es war ein Anfang, der Anfang SEINES Buches.
Dann wurde er erfinderisch. Beim nächsten Mal erklärte er, dass er sich an die Wohnung erinnern könne, in der er damals mit seinen Eltern gewohnt hätte und er begann einen Wohnungsplan zu malen. Erst klein, dann auf mehreren Blättern großzügig verteilt malte er die Wohnung mit Diele, Bad, Schlafzimmer, Kinderzimmer und Wohnzimmer auf. Ich muss wohl etwas ungläubig ausgesehen haben, denn er versicherte mir, dass dies so war und erklärte mir jeden Raum und manchmal auch Details in den Räumen.
Ich muss gestehen, dass mich Zweifel packten, ob dies wirklich so war in der Wohnung – aber spielte dies eine Rolle? War er nicht dabei nach besten Kräften seine Lebenslücken zu füllen und begann mit dem, was ihm jetzt möglich war?
Natürlich kamen die Wohnungszeichnungen in seinen Ordner.
Dann malte er einen kleinen Bär – das sei sein Kuscheltier gewesen. Auch in den Ordner.
Immer wieder schaute er sich die Wohnungszeichnungen an und eines Tages erzählte er, dass Papa und Mama ganz laut geschrieen hätten und er im Kinderzimmer dann große Angst hatte. Manchmal sei er aufgestanden, um Mama zu helfen, die geschrieen habe und dann hat Papa auch ihn verprügelt. „Weißt du, es war wirklich so“ sagte er mit erstickter Stimme. Ich erzählte ihm von den mageren Akten und das genau dies auch dort vermerkt sei. Er wirkte einerseits sehr erleichtert, andererseits aber sehr bedrückt - wollte aber nicht weiter sprechen.
Beim nächsten Treffen saß er schweigsam und verkrampft da. Mürrisch sah er mich an und meinte, er wäre zuhause wieder ausgerastet.
Da machte ich mit ihm einen Spaziergang. Ich wohne dicht an einem Wald und so konnten wir uns nach einer Weile auf einen Baumstamm setzen und ich erzählte ihm, dass ich auch andere Pflegekinder kennen würde, die ebenfalls von ihren leiblichen Eltern geschlagen worden waren und deswegen nun in einer Pflegefamilie leben würden. Von diesen Kindern wüsste ich, dass sie glaubten, dass sie schuld an dem ganzen seien. Sie seien so böse gewesen - glaubten sie - , dass den Eltern nichts anderes übrig geblieben sei als sie immer wieder zu schlagen und es nur recht und billig sei, dass sie nun nicht mehr bei ihnen wären.
Peter saß ganz starr, dann meinte er leise: „Ich muss ja ganz schrecklich gewesen sein, denn sie wollen noch nicht mal mehr was von mir wissen und mir auch noch nicht mal ein Bild von sich geben“.
Natürlich versuchte ich ihm zu erklären, dass nicht Kinder schuld sind und das Erwachsene so etwas doch nicht mit Kindern machen dürfen – aber es glitt an ihm ab. Worte waren nicht das war er brauchte – er brauchte einen Beweis – er brauchte das Bild.
Inzwischen hatten wir den Ordner etwas aufgefüllt. Es gab ein Bild des Heimes, es gab ein Bild und einen kleinen Bericht der Sozialarbeiterin, die ihn in die Pflegefamilie gebracht hatte, es gab Kopien der Zeugnisse, es gab Bilder der Pflegefamilie – aber das Wesentliche fehlte, das wussten wir beide.Peter war inzwischen 10 Jahre alt geworden. Über 6 Monate trafen wir uns schon. Da kam eines Tages der erlösende Brief mit zwei Fotos. Einem Babyfoto von Peter und einem Foto seiner Mutter. Dazu ein Brief der Sozialarbeiterin am Wohnort der Mutter, dass die Mutter nicht bereit gewesen sei etwas zu schreiben, aber wenigstens die Fotos gegeben hätte.
Welch eine Stunde, als Peter die Fotos in Empfang nahm. Ich hatte jedes Foto noch zweimal kopiert. Die Originalfotos klebten wir – endlich – in seinen Ordner. „Das Baby, das bin ich – ich!“ Sagte er immer wieder, er streichelte das Bild. „ Sie haben mir die Fotos gegeben, sie kennen mich noch, sie wollen noch was mit mir zu tun haben“ so fasste er all seine Erleichterung zusammen.
Peter stimmte dann einer Therapie bei einer Kinderpsychologin zu und meine Zeit mit ihm war zu Ende.
Was ist Biografiearbeit:
Alice Ebel schreibt in ihrem Buch „Praxisbuch Pflegekind“ auf Seite 199/299:
Biografiearbeit ist ein kontinuierlicher Prozess, in dem es darum geht, das Bild des eigenen Lebens zunächst zu komplettieren und dann neu- oder umzukonstruieren, d.h. einzelnen Erlebnissen eine neue Bedeutung zu geben oder sie in einen anderen Sinnzusammenhang zu stellen.
Birgit Lattschar schreibt in ihrem Artikel „Biografiearbeit in der Erziehungshilfe“ 2004 :
Biografiearbeit ist ein (in Deutschland relativ neuer) Ansatz in der psychosozialen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Es ist eine Methode, die Lebensgeschichte eines Menschen zu thematisieren und so die Verarbeitung lebensgeschichtlicher Ereignisse zu fördern. Diese „biografische Selbstreflexion“ (Gudjons u.a., 41996) stellt eine Möglichkeit der Identitätsfindung dar. Durch das Verstehen der eigenen Lebensgeschichte kann ein Annehmen der eigenen Person gelingen, was wiederum Möglichkeiten zur Weiterentwicklung und zum persönlichen Wachstum bietet. Biografiearbeit kann in allen Lebensphasen eingesetzt werden.“
Die Biografiearbeit ist besonders durch das Buch „Wo gehöre ich hin“ von Tony Ryan und Roger Walker populär geworden. Hier werden Erfahrungen aus Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen zusammengetragen und Wege der Biografiearbeit beschrieben.
Tony Ryan, Rodger Walter
„Wo gehöre ich hin? – Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen“
Juventaverlag ISBN-Nr 9783779920311
In Deutschland ist die Biografiearbeit in hohem Maße durch Veröffentlichungen von Irmela Wiemann und Birgit Lattschar voran getrieben worden. Ihr Buch:
Mädchen und Jungen entdecken ihre Geschichte: Grundlagen und Praxis der Biografiearbeit
„Wer bin ich? Wo komme ich her? Wem gleiche ich? Wer ist meine leibliche Familie? Warum musste ich fort? Warum lebe ich hier? Was wird aus mir? So lauten Fragen von Kindern und Jugendlichen, die von Eltern oder Elternteilen getrennt leben. Durch Biografiearbeit erhalten sie die Chance, ihre Geschichte und ihre aktuelle Lebenssituation zu verstehen und aufzuarbeiten.
Mädchen und Jungen entdecken ihre Geschichte vermittelt lebendig und umfassend die theoretischen Grundlagen und die Praxis der Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen und beschreibt bis ins Detail, was Eltern, Pflegeeltern und Adoptiveltern, Bezugspersonen in Heimen oder Tagesgruppen, Beraterinnen und Berater bei der Durchführung von Biografiearbeit alles wissen müssen.
Mädchen und Jungen entdecken ihre Geschichte bietet eine Fülle von Anregungen, Vorlagen und Übungen: niedrig dosiert bis sehr tief gehend. Die praktische Ausgestaltung eines Lebensbuches wird ebenso vermittelt wie der Umgang mit sensiblen Informationen, mit Trauer und Verlust oder traumatischen Erfahrungen. Konkrete kindgerechte Formulierungsvorschläge für schwere Themen, wie z.B. psychische Erkrankung der Eltern, Gewalt oder Misshandlung in der Familie oder der Umgang mit fehlenden Informationen (unbekannter Vater, Findelkind) geben Orientierung für alle, die mit Kindern biografisch arbeiten. Berichte aus der Praxis runden den Band ab und überzeugen einmal mehr, dass Biografiearbeit ein viel versprechender Weg ist, seelisch verletzten Kindern und Jugendlichen Orientierung und Klarheit über ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu geben.“
Biografiearbeit hat eine zentrale Bedeutung für die angenommenen Kinder.
Zur Biografiearbeit gibt es keine festen, allgemeingültigen Regeln. Tony Ryan schreibt dazu:
Es gibt keine Gebrauchsanweisungen für die Biografiearbeit. Die Vorgehensweise, die wir (die Autoren) benutzen, mag nicht für jeden passend sein und man wird seinen eigenen Ansatz finden müssen. Das Ziel ist nicht unbedingt ein Buch oder ein Video herzustellen. Man kann Sitzungen auf verschiedene Art festhalten, aber was immer auch hergestellt wird, es gehört dem Kind“.
Lebensbücher
Von einigen Verlagen werden schön hergestellte LEBENSBÜCHER angeboten, die dann von demjenigen, der mit dem Kind die Biografiearbeit macht und dem Kind ausgefüllt werden können.
Ich persönlich bin ein Fan der selbst hergestellten Ordner. Sie erscheinen mir einmaliger, kindgerichteter und haben den besonderen Vorteil, dass sie jederzeit durch neue Seiten (auch mitten im Buch) erweitert werden können. Vielleicht braucht man hier etwas mehr Fantasie. Ich erinnere mich an eine 13Jährige, die mir voller Stolz bei meinem ersten Besuch IHREN Ordner zeigte. Dies war ein einfacher Ordner, in dem Seiten mit Fotos, Gemaltes, Geschriebenes eingeheftet waren aber auch Kopien von wichtigen Unterlagen, die das Kind für sich als bedeutsam ansah. So zeigte sie mir als erstes eine Kopie der Namensänderung mitten im Ordner, dann alles weitere.
Selbstverständlich sind auch die „fertigen“ Lebensbücher wunderschön und helfen, Wichtiges nicht zu vergessen.
Das Ergebnis LEBENSBUCH ist ein Teil der Biografiearbeit. Sie zeigt letztendlich ein vorzeigbares Ergebnis, welches aber nur zustande kommen konnte, weil hier ein Prozess des Kindes stattfand.
Biografiearbeit als Prozess:
Die Biografiearbeit ist ein Prozess nicht nur für das Kind sondern auch für denjenigen, der mit dem Kind diese Arbeit macht.
Tony Ryan und Roger Walker schreiben in ihrem Buch: Wo gehöre ich hin? Auf Seiten 18/19 unter der Überschrift:
Was verlangt die Biografiearbeit von dem Erwachsenen?
Wer mit einem Kind Biografiearbeit macht, benötigt Wachsamkeit und Geduld für die Hinweise, die das Kind geben könnte. Besonders während der Sitzungen, in denen nicht viel passiert, weil das Kind nicht in der Stimmung ist oder testen will, ob man vertrauenswürdig ist. Die Person muss dem Kind gegenüber auch einfühlsam sein. Es gibt keine Gebrauchsan-weisung für die Biografiearbeit, das Kind ist jedoch immer der Schlüssel dafür. Es liegt in der Verantwortung des Erwachsenen, Weg zu finden, die es dem Kind ermöglichen, über sein Leben zu sprechen; man sollte es vermeiden, die eigene Betrachtungsweise aufzudrängen. Genauso, wie man es nicht zulassen sollte, offensichtlich falsche Informationen aufzu-zeichnen, gilt es ebenso zu vermeiden, das Ruder zu übernehmen und somit die „beeinflusste Version“ vom Leben eines Kindes zu produzieren. Es ist immer noch die Lebensgeschichte des Kindes und wichtig ist seine Sichtweise.
Es ist auch wichtig dem Kind zu vermitteln, dass die Aufzeichnung geändert werden kann. Manche Kinder werden zu einem späteren Zeitpunkt wichtige Informationen offenbaren, welche sie gerne zur ihrer Lebensgeschichte hinzufügen möchten.
Es gibt Fehler, die weniger erfahrene Personen manchmal machen, mit gesundem Menschenverstand können diese aber leicht vermieden werden:
1. Niemals das Vertrauen verraten, dass das Kind einem schenkt.
2. Nicht vermeiden über Sachen zu sprechen, über die das Kind sprechen will, weil sie einem selbst unangenehm sind.
3. Dem Kind keine Wörter in den Mund legen.
4. Sobald man die Aufgabe übernommen hat, Biografiearbeit zu machen, darf man nicht das Kind auf halber Strecke damit allein lassen und hoffen, dass jemand anderes die Arbeit beendet. Man sollte damit so lange fortfahren, bis man sich mit dem Kind einig ist, dass es Zeit ist, die regelmäßigen Sitzungen zu beenden.
5. Weder das Endprodukt noch die durchgeführte Biografiearbeit als Belohnung oder als Druckmittel benutzen, sondern lediglich als einen normalen Teil des gemeinsamen Lebens.
6. In der Geschwindigkeit des Kindes vorgehen, nicht in der eigenen – es geht auf diese Art und Weise sogar schneller! Ein Kind zu hetzen bringt es nur dazu, langsamer zu werden oder an Details hängen zu bleiben.
7. Beständigkeit – das Kind muss wissen, wann man kommt. Nicht die Arbeit anfangen und dann sagen, man kommt wieder, wenn man Zeit hat. Das führt dazu, dass das Kind einem nicht länger vertraut und sich verletzt fühlt.
Biografiearbeit bedeutet, sich mit der Vorgeschichte des Kindes auseinander zu setzen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Frage, wie ich als Erwachsener diese Vorgeschichte aushalten kann und wie ich sie dem Kind vermitteln kann.
Wie mit dem Kind über die eine schlimme Vorgeschichte sprechen?
Besonders für die neuen Eltern ist es oft sehr schwierig, mit ihrem Kind über eine dramatische Lebensgeschichte zu sprechen. Zu sehen, wie das Kind durch Vernachlässigung, Misshandlung, Missbrauch traumatisiert wurde und nun mit diesem Trauma fertig werden muss, beeindruckt und beeinflusst natürlich auch die Gefühle der neuen Eltern. Sie sind dann nicht gut auf die Herkunftseltern zu sprechen, wirklich nicht. Es bedarf eigener harte Arbeit für die neuen Eltern, einen Weg der Akzeptanz der leiblichen Eltern einerseits, und der Verurteilung der Handlungen andererseits hinzukriegen.
Es ist hilfreich, hier zwischen Tat und Täter zu unterscheiden.
Alice Ebel schrieb, dass Eltern traumatisierter Kinder zu 95 % selber traumatisierte Kinder waren, die wiederum von ihren Eltern -….. usw. usw.
Gelingt es uns jetzt, Verständnis aufzubringen? Nicht für die Tat, aber für den Täter?
Die Tat jedoch ist deutlich zu verurteilen. Es ist darauf zu beharren, dass der Täter erkennen lernt, was er dem Kind angetan hat. Die Tat darf nicht ignoriert oder verleugnet werden.
Adoptiv- und Pflegeeltern, aber auch andere Personen müssen sich daher erst einmal selbst zur Geschichte des Kindes positionieren, damit sie mit dem Kind klar und wahrheitsgemäß aber ohne störende Untertöne über sein Leben sprechen können.
Gelingt das den neuen Eltern (noch) nicht, dann sollten sie eine andere Person ansprechen, die mit dem Kind die Biografiearbeit durchführt.
In dem Buch: Wo gehöre ich hin? wird auf Seite 45 das Gespräch mit einem Kind über die Vernachlässigung der Mutter beschrieben:
David wurde aus der Obhut seiner Mutter genommen, weil festgestellt wurde, dass sie ihn vernachlässigte. Sie war weder gemein, noch böse, mehr ein Opfer der Umstände. Bevor mit David darüber sprachen, hatten wir von ihr einen Stammbaum erhalten. Dadurch kam ihre eigene unglückliche Kindheit ans Licht. Sie erzählte von dem Kampf allein mit David in einem möblierten Zimmer, eine Siebzehnjährige ohne Unterstützung und wenig Geld.
Als wir das verstanden erzählten wir David:
„ Monika, deine leibliche Mutter, hatte eine unglückliche Kindheit; sie verbrachte selbst einige Zeit in einem Kinderheim. Als du geboren wurdest, lebte sie eine Zeit lang mit ihrer Mutter, entschied sich aber zu versuchen, mit dir allein in einem möblierten Zimmer zu wohnen. Sie war ganz auf sich gestellt, ohne jede Hilfe. Manchmal, wenn sie einsam war, ging sie aus und ließ die allein zurück. Andere Male, wenn du schriest – wie es ja alle kleinen Kinder tun – schlug sie dich zu fest und fügte dir blaue Flecken zu. Sie war kein böser Mensch, aber sie wusste nicht, wie man kleine Kinder versorgt.
In dem Buch heißt es anschließend:
Wenn Kinder wissen, dass sie während ihrer Kindheit ungehindert Fragen über die Vergangenheit stellen können, wird man eine große Quelle potenzieller Schwierigkeiten beseitigt haben. Die Vergangenheit wird nicht länger ein Mysterium sein, worüber nicht geredet wird.
Irmela Wieman beschreibt in ihrem Buch: „Wie viel Wahrheit braucht mein Kind“ unter dem Kapitel Große Lasten des Lebens – Beispiele behutsamer Vermittlung:
Zehn Schritte, die Kindern helfen, schwere Ereignisse zu bearbeiten:
- . Klärungsprozess mit den Erwachsenen, die von dem Geschehen dicht betroffen sind
- . Annahme der Trauer und Verzweiflung durch die Erwachsenen – Gefühle zeigen
- . Keine Isolierten Fakten aussprechen, sondern Geschehen in Zusammenhänge einbetten
- . Den Hergang konkret schildern
- . Die vermutlichen Gefühle des Kindes aussprechen
- . Das Alter des Kindes berücksichtigen
- . Auf Grenzen achten: Den Kindern keine Verantwortlichkeit übertragen
- . Ambivalenzen zulassen
- . Themen von sich aus ansprechen – nicht warten, bis das Kind fragt
- . Thema nicht wieder verschwinden lassen.
In diesem Buch weist Frau Wiemann auch darauf hin, dass es hilfreich und sinnvoll sein kann, dem Kind einen Brief zu schreiben, in dem unter Beachtung der o.a. Punkte Geschehenes aufgeschrieben wurde. Dieser Brief kann nach Erhalt besprochen werden und gibt dem Kind die Möglichkeit, immer wieder nachzuschauen.
Kinder wollen wissen und fühlen sich immer wieder verantwortlich
Immer wieder habe ich erlebt, dass Pflegekinder und Adoptivkinder sich selbst in Verantwortung gegenüber ihrer Herkunftsfamilie brachten. Sie sahen sich demnach deutlich als Teil dieser Familie und empfanden familiäre Verantwortung für Personen aus dieser Familie, besonders gegenüber der Mutter und den Geschwistern.
Hier einige Beispiele:
Sven
Sven lebte in einer Pflegefamilie. Nachdem er nach einem Jahr Aufenthalt von der Mutter wieder zu sich genommen worden war, gab diese ihn nach 10 Monaten wieder dorthin zurück. Als ihm erneut eine Herausnahme durch seine Mutter drohte, wurde sein Verbleib mit einer Verbleibensanordnung durch das Gericht gesichert. Damals war er 8 Jahre alt. Die Mutter akzeptierte die Anordnung und erklärte, dass Sven so lange in der Pflegefamilie leben könne, solange er dies wolle.
Es gab nach der Anordnung geplante Kontakte, dann als Sven 10 Jahre alt war, ging er zur Mutter, wann er es wünschte. Spontan konnte er dort auch übernachten. Es gab darüber Einvernehmen zwischen den Pflegeeltern und der leiblichen Mutter, die inzwischen gut miteinander auskamen.
Als Sven 12 Jahre alt war, heiratete seine Mutter erneut und brachte bald darauf einen kleinen Jungen zur Welt. Sven besuchte die Familie nun intensiv, übernachtete alle 14 Tage und ging auch in der Woche nachmittags öfter hin. Als der kleine Junge 4 Monate alt war, erklärte Sven plötzlich, dass er zu seiner Mutter ziehen wolle.
Alle Beteiligten waren überrascht. Weder Pflegeeltern, noch leibliche Mutter, auch nicht die Sozialarbeiterin des Jugendamtes verstanden was in ihm vorging und waren vom Donner gerührt. Es hatte keinerlei Probleme in der Pflegefamilie oder sonst wo gegeben. Er blieb bei seinem Wunsch, auch wenn er bei seinen Äußerungen hin und wieder weinen musste.
Alle Erwachsenen waren verwirrt und sahen sich nicht in der Lage, eine Entscheidung zu treffen, den Sven gab keine Erklärung zu seinem Wunsch ab
.
Bei einem ersten Treffen von Sven mit einer unabhängigen Fachkraft, die ihm daraufhin vom Jugendamt zur Seite gestellt wurde, erläuterte er seine Entscheidung:
Er habe das Gefühl, dass er auf den kleinen Bruder aufpassen müsse. Seine Mutter hat das mit ihm früher auch nicht geregelt bekommen und er wolle nicht, dass dem Kleinen irgendetwas passieren würde. „Mama und Papa, (Pflegeeltern) kriegen das hin wenn ich gehe, die können mich gehen lassen, die können auch ohne mich leben, die schaffen das, aber B (Name der Mutter) kann das nicht, die kann das nicht allein mit dem Baby, da muss ich da sein.“
Alle Erläuterungen, dass das Baby ja auch noch einen Papa habe und B. ja nun älter sei, konnten ihn nicht beruhigen. Er wolle und müsse jetzt dorthin.
Sven erlaubte der Sozialarbeiterin, zwar den Pflegeeltern seine Gedanken zu erzählen, aber nicht der leiblichen Mutter.
Beim nächsten bald erfolgenden Hilfeplangespräch wurde vereinbart, dass Sven vorerst zur leiblichen Mutter umzieht, jederzeit die Pflegeeltern besuchen kann und dass die Fachkraft für ein halbes Jahr als Erziehungsbeistand die Aktion begleiten sollte. Am Ende des halben Jahres sollte dann ein erneutes Hilfeplangespräch stattfinden, mit der Klärung, wo Sven dann wohnen werde.
Sven und seine Mutter empfanden die Umstellung als schwer und immer wieder dachte seine Mutter, er würde wieder zur Pflegefamilie gehen. Nach 5 Monaten wurde das nächste Hilfeplangespräch zwischen Sven und der ihn in dieser Zeit intensiv begleitenden Fachkraft vorbereitet. Diese besprach dann seine Überlegungen mit der Pflegefamilie und der Mutter.
Sven wollte bei der Mutter bleiben, aber in beiden Familien zuhause sein. Er wollte in beiden Familien Familienfeste feiern, regelmäßig Ferien verbringen - er wollte in beiden Familien der Sohn bleiben.
So wurde es gemacht. Seinen Pflegeeltern ist er weiterhin ein Sohn, er nennt sie weiterhin Mama und Papa und ist ihnen auch jetzt, da er ein junger Erwachsener ist eng verbunden und kommt mit Sorgen, Nöten und Freuden zu ihnen. Sein kleiner Bruder ist nun schon in der Schule. Zu seiner Mutter hat er wenig Kontakt.
Angela
Angelas Mutter kriegte nichts geregelt. Sie trank zu viel und war mit allem überfordert. Ihre Tochter Angela war 4 Jahre alt und versorgte sich und die Mutter nach ihren Möglichkeiten.
Nachbarn wurden aufmerksam. Angela kam in eine Pflegefamilie. Die Mutter stimmte dem zu. Es ging Angela gut, sie war gern in der Pflegefamilie und doch - --. Öfter war die Mutter zu den vereinbarten Besuchskontakten nicht gekommen – und auch wenn sie kam, war Angela hinterher beunruhigt und verwirrt.
Die Pflegeeltern merkten, dass Angela sich ihnen mehr anschloss, die Beziehung enger wurde – und dann ging sie wieder Schritte zurück und entfremdete sich.
Der betreuenden Sozialarbeiterin öffnete sich Angela nach einigen Monaten und erklärte ihr, dass sie sich doch so große Sorgen um ihre Mutter mache. Wer kümmere sich jetzt um diese, wo sie Angela dies doch nicht mehr tat? Wo wohne sie jetzt, was war passiert, als die Mutter nicht zum Besuchskontakt kam? Sie müsse soviel daran denken. Sie könne die Mama doch nicht allein lassen, und genau das täte sie doch.
Die Sozialarbeiterin informierte sich, ging die Mutter besuchen und konnte Angela nun genaueres erzählen:
Die Mutter sei in einer Klinik, dort habe sie gesehen, dass man sich um die Mutter kümmern würde und dass es der Mutter nicht schlecht ginge. Die Mutter wüsste jedoch nicht, was sie nach dem Klinikaufenthalt machen würde und ob sie evtl. umziehen würde. Sie würde aber über die Besuchskontakte nachdenken.
Angela war gar nicht so sehr daran interessiert, die Mutter zu sehen, sie wollte einfach für sich wissen, ob es ihr gut ginge und ob die Mutter nun durch andere versorgt würde. Auf eindringliches Bitten hin versprach die Sozialarbeiterin ihr, dass sie die Mutter im Blick behalten werde, dass sie immer schauen würde, wo diese nun sei und wie es ihr gehe und dass sie ihr über die Mutter Informationen geben würde. Sie würde in Erfahrung bringen, wenn es der Mutter nicht gut ginge, und wie ihr dann geholfen würde und würde ihr dies dann erzählen, so dass sie Bescheid wissen würde.
Angela vertraute der Sozialarbeiterin, konnte die Verantwortung für die Mutter loslassen – obwohl sie diese im tiefen Inneren immer noch empfand und daher die Zustandsberichte der Sozialarbeiterin brauchte – und konnte sich nun intensiver an die Pflegeeltern binden.
Doris
Doris lebt schon seit vielen Jahren in der Pflegefamilie. Es gibt – auch auf Wunsch des Kindes – keine Besuchskontakte. Einmal im Jahr treffen sich jedoch die Pflegemutter und die leibliche Mutter um miteinander zu sprechen. Die Pflegemutter ist besonders darum bemüht, herauszufinden, was die Mutter zur Zeit macht – denn, wenn sie nach Hause kommt wird sie von Doris erwartet, die dann sofort alles wissen möchte. Sie möchte die Mutter nicht sehen, aber sie möchte wissen, wie es ihr geht. Und auch hier – wenn sie erfährt, dass es ihr gut geht, dann ist sie zufrieden, erfährt sie etwas anderes, dann muss die Pflegemutter mit ihr darüber nachdenken, wer denn in welcher Form der Mutter nun hilft oder helfen kann.
Wie oft erleben wir, dass Pflegekinder sich wünschen, dass die leibliche Mutter doch auch mit in die Pflegefamilie ziehen würde. Dieser Vorschlag begründet sich nicht nur in dem Wunsch, die vertraute Mutter bei sich zu haben, sondern auch in der Sicherheit, dann zu wissen, dass die Mutter gut versorgt ist und zu sehen wie es ihr geht.
Gerade bei Kindern, die bei vernachlässigenden Eltern ihre Geschwister und oft auch die Mutter versorgten, haben wir immer wieder eine große Sorge um das Befinden der Mutter gefunden. So sehr wir einem „Versorgerkind“ auch wünschen, diese Verantwortlichkeit aufgeben und wieder nur Kind werden zu können, so sehr müssen wir auch akzeptieren, dass das Kind sich in dieser Rolle sieht. Wenn wir das Kind hier nicht ernst nehmen und ihm nicht versuchen, seine Verantwortung für seine Familie dadurch abzunehmen, dass wir ihm glaubhaft zeigen können, dass es dieser Familie auch ohne seine Versorgung gut geht, so sehr wird das Kind dieser Rolle verhaftet bleiben und sich nicht neu einlassen können.