Sie sind hier
Leibliche Kinder in Pflegefamilien - Ein Bericht der Fachstelle Bern
Wir freuen uns, dass wir diesen Artikel der Fachstelle Pflegekind Bern veröffentlichen dürfen und danken den MitarbeiterInnen der Fachstelle.
"Man weiss nicht genau, was passiert nach der Aufnahme eines fremden Kindes in die Familie. Ich habe aber begriffen, dass sich auf jeden Fall Vieles verändern wird, für jeden von uns" – das ist die spontane Äusserung einer Teilnehmerin unseres Vorbereitungskurses, nachdem wir in einer praktischen Übung (Familienskulptur) ein Kind in ihre Familie „platziert“ haben.
Was muten wir unseren Kindern zu? Wie werden sie mit der Situation umgehen? Werden sie profitieren oder eher leiden? Wie können wir unsere Kinder in der neuen Situation unterstützen?
Es ist wichtig, dass sich Eltern mit diesen Fragen vor der Aufnahme eines Kindes auseinander setzen. Für die Familienkinder wird es sehr schwierig, wenn die Eltern durch die zahlreichen Besonderheiten, die im Zusammenleben mit einem Pflegekind auftreten, übersehen, dass ihre Kinder die Belastungen mittragen. Die Eltern können ihren Kindern konstruktive Hilfestellungen und emotionale Entlastung bieten, wenn sie unvoreingenommen wahrnehmen wie es ihnen geht und welches ihre Bedürfnisse sind. Es ist sinnvoll, wenn die Situation der leiblichen Kinder in der Supervision und der Fachberatung regelmässig Thema ist. Es darf nicht vorkommen, dass Eltern sich für ein Pflegekind auf Kosten ihrer Kinder einsetzen.
Was sagen Jasmin, Laila, Elisa-Maria, Noah, Jana und Timo dazu?
In den von uns begleiteten Pflegefamilien liegt unser Augenmerk auch immer wieder auf den leiblichen Kindern. Je nach Alter beziehen wir sie in Gespräche mit ein und für ihre Fragen und Anliegen stehen wir ihnen jederzeit zur Verfügung. Im Hinblick auf den Jahresbericht wollten wir es genauer wissen und führten mit einigen ein Interview. Lesen Sie ihre Aussagen, die wir auf den folgenden Seiten in unseren Text eingestreut haben.
Freuen Sie sich mit uns darüber, wie ernsthaft und engagiert sich diese Mädchen und Jungen mit ihrer Situation auseinandersetzen und bereit sind, die Lebensform, welche ihre Eltern für die Familie gewählt haben mitzutragen.
Was brauchen die Familienkinder vor der Aufnahme?
Im Entscheidungsprozess informieren die Eltern ihre Kinder altersgemäss über ihr Vorhaben und ihre Motivation. Sie lassen die Kinder überlegen, was sich für sie und die ganze Familie ändern wird und was aus ihrer Sicht unbedingt erhalten bleiben sollte. Sie thematisieren auch mögliche Enttäuschungen, denn meistens sind die Familienkinder begeistert von der Idee und verbinden damit hohe Erwartungen an eine Geschwisterbeziehung. Wenn das Pflegekind große Vorbelastungen mitbringt, wird es sich aber nicht nach Wunsch verhalten und integrieren.
Die Eltern sollen die Kinder informieren und in ihre Entscheidung einbeziehen.
Die Entscheidung liegt jedoch allein bei den Eltern. Die Kinder müssen von jeglicher Verantwortung entbunden werden, sonst getrauen sie sich später weniger, allfällige negative Gefühle zu äussern und bleiben damit allein.
Jasmin, 12 Jahre
„Bevor L. kam, haben wir aufgeschrieben, was sich mit einem kleinen Kind verändern würde und was wir trotzdem noch machen könnten. Wir können mit L. vieles weiterhin unternehmen: ins Westside gehen, in den Zoo gehen, Minigolf spielen. Einige Sachen sind nun schwieriger, wir können nicht mehr alle zusammen Ski fahren und Schlittschuhlaufen gehen. Manchmal ist Mami mit L. beschäftigt, sie kommt dann später zu uns um uns zu helfen. Ich finde es schön, dass er bei uns in einer Familie leben kann. Mir gefällt es ihm zu helfen, schön ist, wenn er uns zum Spielen holt. Weniger toll finde ich, wenn er zu laut schreit und «göisset». Manchmal wird es mir zu viel, wenn er mir dauernd anhängt. Ich lese auch gerne etwas für mich und will manchmal meine Ruhe haben. Eventuell wäre es schwieriger, wenn wir kleinere Kinder wären. Eventuell würde ich dann einiges nicht verstehen, ich wäre vielleicht eifersüchtig, wenn ich etwas weniger Aufmerksamkeit bekommen würde. Der Vorteil wäre, dass wir dann ähnlichere Spielinteressen hätten“.
Die Veränderungen in der Familie nach der Aufnahme sind vielfältig. Sie wirken sich je nach Situation, Alter und Bedürfnissen der Kinder unterschiedlich auf ihr Leben aus. Die Identität der Familie gegen aussen verändert sich, sie wird halböffentlich. Damit ist gemeint, dass externe Personen wie Mitglieder der Herkunftsfamilie des Kindes, Beistände und weitere Beteiligte Einblick in die Familie erhalten und am Alltag der Familie Anteil nehmen.
Laila, 11 Jahre
„Die Wohnung sieht nun etwas anders aus. Wir haben ein Absperrgitter bei unserer Zimmertüre, es hat Babysachen, Kinderkleider und Spielsachen. Meine Schwester und ich sind nun wieder gemeinsam in einem Zimmer. Das ist gut so. Ich finde es wichtig, dass sich die Eltern nicht nur um das Pflegekind kümmern, dass die Kinder gleich behandelt werden, dass alle Geschenke erhalten und dass auch alle Aufmerksamkeit erhalten. Es ist wichtig, dass die Erwachsenen die eigenen Kinder nicht vergessen. Zum Glück war das bei uns nicht so. Ich finde es wichtig, dass die Eltern anständig zu der leiblichen Mutter vom Kind sind. Als die Mutter von L. zu Beginn zu uns kam war das ungewohnt. Heute habe ich mich daran gewöhnt“.
Ein Pflegekind bringt neue Welten und Thematiken in die Familie. Das Klima und die Gesprächsthemen ändern sich, Lebensabläufe und Regeln müssen meist angepasst werden. Das hat Auswirkungen auf die Atmosphäre und die Intimität in der Familie. Aus Sicht der Kinder ändern sich ihre Eltern und sie müssen deren Aufmerksamkeit teilen. Ein Kind wird sehr verunsichert, wenn seine Stellung in der Familie in Frage gestellt wird. Die Familienkinder brauchen die Erfahrung und die Gewissheit, dass ihre Position in der Familie erhalten bleibt.
Zu den Verschiedenheiten der Kinder stehen
Der Status des leiblichen Kindes darf sich im Alltag spiegeln und soll nicht verleugnet werden. Auch die Gefühle der Eltern gegenüber leiblichen Kindern und Pflegekindern dürfen verschieden sein. In der Regel braucht die Kernfamilie Zeiten unter sich, in denen die Bedürfnisse der Familienkinder im Mittelpunkt stehen dürfen. Um den Kindern ihren Status wertfrei zu vermitteln, eignet sich das Modell der vier Elternschaften, welches I. Wiemann aufzeigt:
Die Elternschaft umfasst 4 Aspekte: die leibliche, soziale, rechtliche und finanzielle.
Pflegeeltern können nur für ihre leiblichen Kinder alle Aspekte der Elternschaft übernehmen. Bei einem Adoptivkind wären es alle Aspekte ausser dem leiblichen, für ein Pflegekind jedoch können sie lediglich die soziale Elternschaft übernehmen. Für die andern drei Aspekte gibt es andere Menschen im Leben des Pflegekindes.
Jasmin, 12 Jahre
„Ich finde es wichtig, dass die leiblichen Kinder wissen, wer das Mami vom Pflegekind ist. Ich finde es wichtig, dass das Pflegekind weiss, wer sein richtiges Mami ist, dass es weiss, dass die Pflegemutter nicht sein leibliches Mami ist. Das ist auch für die leiblichen Kinder wichtig zu wissen. Ich finde es wichtig, dass wir zum Teil dabei sein können bei Gesprächen, dass wir auch etwas informiert sind, dass wir zuhören können, dass wir unsere Meinung sagen können, dass wir Fragen stellen können“.
Manche Eltern belasten sich mit der Anforderung an sich selbst, sehr gerecht zu sein und alle Kinder gleich zu behandeln, so dass sich weder das Pflegekind noch das leibliche Kind benachteiligt fühlen. Mit Gleichbehandlung ist dieses Ziel nicht zu erreichen, denn die unterschiedlichen Geschichten und Lebenssituationen der Kinder erzeugen auch unterschiedliche Bedürfnisse und Möglichkeiten. Pflegeeltern dürfen die Kinder nicht vergleichen, sondern müssen ihnen helfen, zu ihrer Unterschiedlichkeit zu stehen.
Die Autorin I. Wiemann sagt dazu: "Für die Kinder sollen unterschiedliche Interessen und Freundeskreise, eigene Lebensbereiche und Hobbies gefördert werden. Nur wenn in der Pflegefamilie jeder dem andern ein Stück Eigenleben, Anderssein und Autonomie zugesteht, kann das Zusammenleben gelingen. Es gehört zu einem Pflegekind, dass es anderswo noch eine Familie hat und dass es nicht leibliches Kind in dieser Familie ist. Das bleibt schwer und die Trauer darüber kann niemand dem Pflegekind ersparen. Pflegeeltern sollten sich selbst und den Kindern gegenüber immer wieder verdeutlichen, dass jedes Kind seine einzigartige Geschichte hat. Die Folgen daraus gilt es immer wieder zu akzeptieren."
I. Wiemann, Leibliche Kinder in Pflegefamilien www.irmelawiemann.de
Je besser Pflegeeltern diese Rahmenbedingungen akzeptieren und die damit verbundenen Gefühle des Pflegekindes, (vom Leben) ungerecht behandelt zu werden, aushalten und mittragen können, desto weniger geraten sie unter Druck, etwas ausgleichen zu müssen, was nicht ausgeglichen werden kann. Damit entlasten sie indirekt auch ihre eigenen Kinder.
Pflegekind in der Familie: Chance oder Zumutung für die Familienkinder?
Eltern dürfen von ihren Kindern verlangen, mit den schwierigen Seiten des Pflegekindes umgehen zu lernen. Sie müssen ihnen aber auch zugestehen, sich ohne schlechtes Gewissen abgrenzen zu dürfen. Auf keinen Fall sollen Familienkinder Verantwortung für die Pflegekinder übernehmen müssen, weder innerhalb der Familie noch in Aussenräumen wie z.B. in der Schule. Das heisst nicht, dass ältere Familienkinder, die es gerne machen und dazu geeignet sind, sich nicht für das Pflegekind engagieren sollen. Vielleicht übernehmen sie Hütedienste oder Aufgabenhilfe.
Wenn das regelmässig geschieht sollen sie von ihren Eltern oder von der Fachbegleitung einen definierten Auftrag und eine Entschädigung erhalten. Aus diesem Auftrag sollen sie auch wieder aussteigen dürfen.
Neben den eher schwierigen Seiten und Anforderungen, welche die Aufnahme eines Pflegekindes für die leiblichen Kinder mit sich bringt, gibt es auch Chancen und positive Auswirkungen. Die obenerwähnte Möglichkeit, das Taschengeld mit einer spannenden, befriedigenden Tätigkeit aufbessern zu können, ist nur ein Punkt. Die Kinder lernen andere Familiensituationen und Schicksale kennen, sie erweitern ihre Sicht auf die Welt. Sie erleben, dass es nicht selbstverständlich ist, in einer funktionierenden Familie aufwachsen zu dürfen und erfahren dadurch die familiären Beziehungen zu Eltern und Geschwistern und ihre Zugehörigkeit tiefer und bewusster.
Noah, 15 Jahre
„Vorteile sehe ich für mich, dass wir viel Spass zusammen haben. Ich spiele gerne mit ihnen, vor allem tschutten. Es ist nie langweilig. Und ich kann mein Taschengeld aufbessern, indem ich sie regelmässig hüte. Das mache ich gerne, ich mache gute Erfahrungen für mich. Ich gebe mich mit ihnen auch ab, wenn ich nicht am Hüten bin. Wenn die Zwillinge nicht da wären wäre es einfach ruhiger bei uns, sonst würde wohl nicht viel ändern. Ich bekomme genug Zeit von meinen Eltern, für mich stimmt es. Wichtig ist für mich, dass ich ab und zu meine Ruhe und Zeit für mich habe, vor allem am Wochenende und am Abend“.
Sie lernen Rücksicht nehmen, sich einfühlen, sich abgrenzen und ihre Bedürfnisse anmelden und aufschieben. Sie entwickeln Frustrationstoleranz, Verständnis für Fremdes und Fähigkeiten für das Bewältigen von Konflikten und unbekannten Herausforderungen. Ihre Familie ist etwas Besonderes, das Beziehungsnetz ist erweitert, die Kinder stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit von mehreren Erwachsenen und meist sind nicht nur die Pflegemütter, sondern auch die Pflegeväter besonders präsente und engagierte Eltern.
Jana , 15 Jahre
„Ich finde es etwas besonderes, mit Pflegekindern aufzuwachsen, ich lerne viel fürs Leben. Pflegekinder sind wie neue Geschwister. Durch Hüten kann ich mein Sackgeld aufbessern. Die Eltern sollen Familienregeln, Einschränkungen nicht vom Pflegekind ableiten. Wenn die Kinder manchmal eine Krise haben, denke ich, sie könnten dankbar sein, dass sie bei uns sein können, würde sie dann am liebsten vor die Türe stellen. Die friedliche Atmosphäre der Familie wird manchmal gestört. Ich finde es wichtig, zwischendurch mal als Kernfamilie etwas zu unternehmen wie Ferien etc. Wenn es schwierig ist, möchte ich Verantwortung übernehmen und meine Eltern unterstützen. Ich glaub ich hab eine starke Psyche“
Es kann auch sein, dass das leibliche Kind Freiräume gewinnt, dadurch dass sich die Aufmerksamkeit der Eltern auf das Pflegekind konzentriert. Es wird sich seiner Leistungsfähigkeit und Kompetenzen mehr bewusst und erfährt dafür mehr Wertschätzung durch die Eltern oder von aussen.
Was können Eltern tun, damit es "gut kommt"?
Es ist hilfreich für Eltern zu wissen, dass die Entscheidung, ein Pflegekind in die Familie aufzunehmen, mehrere Seiten hat. Sie muten ihren Kindern viel zu. Es ist wichtig, dass die Eltern ganz hinter der Entscheidung stehen und die Verantwortung dafür übernehmen können. Es wird kaum für alle Kinder gleich sein. Das Eine wird vielleicht begeistert mitmachen und profitieren, ein Anderes würde sich eher ein ruhigeres Familienleben wünschen.
Timo, 12 Jahre
„Ich liebe es, eine grosse Familie zu sein, ich fühle mich dadurch wohler zuhause. Wenn ich mit einem Familienmitglied Streit habe, kann ich auf eine andere Person zugehen, ich habe so mehr Wahlmöglichkeiten in der Familie. Je nach Situation nerven mich die Kinder auch, z.B. wenn sie sich einschmeicheln. Es darf sich niemand vernachlässigt fühlen“.
Für die meisten Kinder wird es beides geben: sie werden sich wohl fühlen und es cool finden, dass es nie langweilig ist, sie werden sich ärgern und an ihre Grenzen kommen. Die Eltern sollten in ihrer Wahrnehmung offen bleiben und sich nicht durch Erwartungen oder Befürchtungen blockieren lassen. Sie müssen bereit sein, Konflikte, Disharmonien und Unzufriedenheit zu ertragen. Die Zuversicht der Eltern, auch in schwierigen Situationen einen Weg zu finden und sich wo nötig Unterstützung zu holen, vermittelt den Kindern Sicherheit. Sie fühlen sich nicht unter Druck und müssen nicht Verantwortung übernehmen, die nicht zu ihnen gehört. Sie dürfen ihre Bedürfnisse und auch ihren Unmut äussern, ohne die Befürchtung, die Eltern zu stark zu belasten. Dieser Freiraum ist massgebend, dass sich die Kinder wahrgenommen, wichtig und gut fühlen.
Elisa-Maria, 8 Jahre
„Manchmal ist es nicht schön mit den Zwillingen, nämlich wenn sie miteinander streiten und sich Sachen an den Kopf werfen, das tun sie ziemlich oft. Auch wenn sie mir Sachen aus meinem Zimmer verschleppen oder kaputt machen, das habe ich gar nicht gern. Manchmal sind sie aber auch nett, helfen z.B. Sachen tragen, schöne Zeichnungen machen, wir spielen zusammen Lego oder mit den Kuscheltieren. Manchmal lassen sie mich auch mit einem neuen Auto von ihnen spielen. Es muss für mich nichts ändern“.
Aus dem PAB-Jahresbericht 2010 der Fachstelle Pflegekind Bern