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WDR-Umfrage zu sexuellem Kindesmissbrauch und den Arbeitsmöglichkeiten bei Jugendämtern
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'Westpol', die regelmäßige Sendung des WDR, hatte am 19. Mai 2019 in einem Film über 12 Minuten das Thema: Sexuallisierte Gewalt und die Arbeit der Jugendämter. Der WDR hat nicht nur diesen Film in seiner Mediathek sondern darüber hinaus noch umfassende Informationen zur Arbeit der Jugendämter auf seiner Website. Das, was am deutichsten hervorsticht (und was uns Praktiker wenig überrascht) ist die Feststellung der großen Unterschiedlichkeit jugendamtlichen Handelns. Trotz entsprechnder Empfehlungen der Landesjugendämter und anderer Institutionen obliegt es jeder Kommune selbst, Standards und Rahmenbedingungen für ihre Arbeit zu setzen - oder besser gesagt: setzen zu können. Sind Rösrath (mit 101 Fällen pro MitarbeiterIn im ASD) und Schwerte( mit 16 Fällen) so extrem unteschiedliche Städte? Liegt die Wertigkeit einer guten Jugendhilfe nur am Geld oder nicht auch am politischen Willen einer Kommune? Obwohl es hier nur um ein Bundesland - Nordrhein-Westfalen - geht, erleben wir jugendamtliches Arbeiten wie von unterschiedlichen Sternen. Diese Arbeit des WDR macht das mehr als deutlich. Sogar der Begriff der "Fallzahlen" wird unterschiedlich definiert, weil es nicht klar ist, wann denn eigentlich ein "Fall" beginnt. Schon beim ersten Telefonat oder wenn es eine dicke Akte geworden ist?
Wo werden die Kinder, die wegen sexueller Gefährdung in Obhut genommen wurden, untergebracht? Auch hier extrem unterschiedliche Zahlen zwischen Heim/Wohngruppe/Kinderdorf und Pflegefamilie. Interviews mit dem Leiter des Bethanienkinderdorfs in Mönchengladbach, der Geschäftsführerin von Löwenzahn Erziehungshilfe in Oberhausen und einer Pflegefamilie zeigen auf, was eigentlich von jugendamtlichem Handeln erwartet wird.
Es ist mir wichtig deutlich zu machen, dass es hier nicht um die Beurteilung der Arbeit und des Engagements einzelner SozialarbeiterInnen geht, sondern um die Frage, ob diese unter den Gegebenheiten ihrer Arbeitsbedingungen in vielen Jugendämtern überhaupt noch Luft bekommen zur Arbeit und erst recht zum Engagement - oder ob sie nicht lieber zur Erhaltung ihrer Selbst einen anderen Arbeitsplatz suchen müssten.
Die Politik - hier speziell der zuständige NRW-Familienminister - will im Juli "eigene Maßnahmen zur besseren Arbeit bei Jugendämtern" vorlegen. Wir werden darüber berichten.
Familienminister Stamp: mehr Expertise bei sexualisierter Gewalt nötig
Anders als in der Polizeilichen Kriminalstatistik NRW wird in den Jugendämtern sexuelle Gewalt nicht einheitlich erfasst und bearbeitet. 37 Kommunen haben zu Verdachtsmeldungen bei dieser Form der Kindeswohlgefährdung keine Angaben gemacht, da sie diese statistisch nicht oder anders erfassen. Familien- und Jugendminister Joachim Stamp (FDP) wünscht sich im "Westpol"-Interview daher auch bei den Jugendämtern mehr Klarheit in solchen Fällen. Er wolle dafür sorgen, dass "in jedem kleinen Jugendamt" die entsprechende Expertise "nicht nur bei Kindeswohlgefährdungen, sondern speziell bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder" vorhanden sei.
Viele Fälle pro Mitarbeiter - trotz mehr Personals
Einige Kommunen klagen über massive Überlastung. "Irgendwann ist auch der Ofen aus. Wenn uns nicht geholfen wird, dann wird irgendwann dieses System zwangsläufig implodieren", so Alfred Sonders (SPD). Der Bürgermeister von Alsdorf sagt, er könne aufgrund einer Haushaltssperre keine neuen Jugendamtsmitarbeiter einstellen und warnt: Wenn die Kommunen nicht mehr Mittel von Bund und Land bekämen, werde es "Probleme geben, und das wollen wir alle nicht hoffen".
Bei der Arbeit im allgemeinen sozialen Dienst der Jugendämter zeigt die WDR-Erhebung große regionale Unterschiede. 40 Prozent der teilnehmenden Ämter haben dazu Angaben gemacht - und in diversen Kommunen müssen sich einzelne Mitarbeiter um sehr viele Fälle kümmern. In Rösrath beispielsweise kamen demnach durchschnittlich 101 Fälle auf eine Planstelle, im Kreis Siegen-Wittgenstein 97 und in Gelsenkirchen 79. Eine niedrige Fallrelation gaben Goch (23), Erkelenz (18) und Schwerte (16) an. Im Durchschnitt liegt die Fallrelation in der WDR-Umfrage bei 39. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Allgemeiner Sozialer Dienst hatte sich bereits vor einigen Jahren für eine Fallzahlobergrenze von 35 pro Stelle ausgesprochen.
Die Ämter sind personell sehr unterschiedlich ausgestattet. Vier etwa gleich große Städte mit etwa 100.000 Einwohnern hatten 2018 unterschiedlich viele Planstellen im Allgemeinen Sozialen Dienst: Vergleichsweise wenige Planstellen meldeten Bottrop (11) und Düren (14), etwa doppelt so viele Recklinghausen (29) und Remscheid (26,5). Im Trend hat die Zahl dieser Stellen in diesem Bereich der Jugendämter seit 2015 aber landesweit zugenommen.
Unterbringung in Pflegefamilien oder in Heimen
Ob die Kinder im Heim oder in Pflegefamilien betreut wurden, war von Kommune zu Kommune sehr unterschiedlich: Bergisch Gladbach hat mit 76 Prozent einen hohen Heimanteil. Im Kreis Wesel dagegen wurden 83 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Pflegefamilien untergebracht. Landesweit 53 Prozent der Kinder wurden in Pflegefamilien und 47 Prozent in Heimen vermittelt. Bei den 139 an der Umfrage teilnehmenden Jugendämtern wurden im vergangenen Jahr 9.176 Schutzmaßnahmen zu Kindeswohlgefährdungen ergriffen (ausgenommen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge).
Nach den Missbrauchsfällen von Lügde fragte der WDR auch nach Verbesserungsvorschlägen.
Diverse Kommunen wünschen sich eine bessere Vernetzung mit Polizei und anderen Behörden. Auch mehr Fortbildungen zu sexueller Gewalt werden gefordert - sowie die Einführung von landeseinheitlichen Standards und landesweit definierte Fallgrößen pro Vollzeitstelle. Anfang Juli will Familienminister Joachim Stamp eigene Maßnahmen zu besseren Arbeit bei Jugendämtern vorlegen.
Presseerklärung des WDR zum Thema in der Sendung 'Westpol' vom 19. Mai 2019