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27.03.2019
Politik

Care Leaver - Berliner Erklärung

Eine gemeinsame Erklärung der Universität Hildesheim, der IGFH und der Careleaver e.V.: Care Leaver in Deutschland brauchen – wie in anderen Ländern – einen eigenen Rechtsanspruch „Leaving Care“, damit ihre Rechtsposition im Übergang ins Erwachsenenleben in der Jugendhilfe gestärkt und die Übergangsbegleitung auf breiter Basis weiterentwickelt wird -

1 Rechtsanspruch  „Leaving Care“!

  • § 41 Hilfen nach 18 – vom Soll zum Muss!
  • § 36 Zuständig bleiben!
  • § 8 / 9 Beteiligung & Selbstorganisation stärken!
  • § 44 / 45 Übergangskonzepte & Coming back verankern!
  • § 92 Kostenheranziehung abschaffen!
  • Begleitung, Ausbildung und Wohnraum absichern!
§ 41 SGB VIII – Hilfen nach 18: vom Soll zum Muss! Die Leistungen für junge Volljährige –

§ 41 SGB VIII – sind von einem Regelrechtsanspruch („Soll“) zu einer verpflichtenden Leistung („Muss“) der Kinder- und Jugendhilfe zu stärken. Viele junge Erwachsene ziehen heute erst spät aus ihrem Elternhaus aus (im Durchschnitt im 24. Lebensjahr) und erhalten im Übergang ins Erwachsenenleben vielfältige emotionale und materielle Unterstützung. Care Leavern muss diese Unterstützung auch gewährt werden! Um die Situation von jungen Menschen im Übergang aus der stationären Erziehungshilfe zu verbessern, ist eine rechtliche Absicherung von materieller, sozialer sowie (aus)bildungsbezogener und beruflicher Unterstützung zu schaffen. Die bisherige Regelung zur Nachbetreuung (vgl. § 41 Abs. 3 SGB VIII) für junge Volljährige ist in eine rechtliche Verpflichtung zur Gestaltung von niedrigschwelligen Infrastrukturen und verlässlichen, flexiblen und individuellen Hilfen auszubauen.

§ 36 SGB VIII – Zuständig bleiben!

Das Aufwachsen in Heimerziehung und Pflegefamilien stellt für Kinder und Jugendliche eine der intensivsten Interventionen unseres Sozialstaats dar. Das Hilfeende ist ebenso ein zentraler biografischer Einschnitt. Diese Übernahme der öffentlichen Erziehungsverantwortung kann die Kinder- und Jugendhilfe mit Hilfeende nicht einfach zurückziehen. Auch mit Erreichen der Volljährigkeit bleibt die Verantwortung für junge Menschen, die in stationären Erziehungshilfen aufwachsen, bestehen. Care Leaver brauchen auch nach Hilfeende verlässliche Ansprechpartner*innen im Jugendamt sowie bei freien Trägern der Jugendhilfe, die in ihrem Alltag und in Krisen immer wieder erreichbar sind. Dies ist durch die Hilfeplanung abzusichern: Das Jugendamt hat die Aufgabe, die Schritte des Übergangs durch eine koordinierte Übergangsplanung und Einbeziehung anderer Leistungsträger zu begleiten. Zudem muss es den jungen Menschen immer wieder sein Interesse daran zeigen, was aus ihnen wird. Es hat die Verantwortung, dass Care Leaver im jungen Erwachsenenalter nicht wohnungslos sind, keine existenziellen Sicherungslücken entstehen und sie in ihrer schulischen und beruflichen Ausbildung unterstützt werden. Das Jugendamt muss die soziale Teilhabe stärken!

§ 8 / 9 SGB VIII – Beteiligung und Selbstorganisation stärken!

Bisher besteht kein eigener Rechtsanspruch auf Selbstorganisation von Betroffenen in der Kinder- und Jugendhilfe. Zur Verwirklichung des Anspruchs auf Beteiligung sind jedoch auch Formen kollektiver Partizipation von Betroffenen in der Kinder- und Jugendhilfe rechtlich zu verankern. Zudem sind die Rechte auf Beteiligung und Selbstorganisation von jungen Menschen in der Hilfeplanung und im Alltag der Hilfen durchzusetzen und zu stärken. Es müssen die Beratung und unabhängige Beschwerdemöglichkeiten für junge Menschen (= Ombudswesen) rechtlich etabliert werden.

§ 44 / 45 SGB VIII – Übergangskonzepte & Coming back verankern!

Die stationären Erziehungshilfen sind gegenwärtig von einer Kultur geprägt, die den Abschied aus der Hilfe als endgültige Beendigung, auch von Beziehungen, ansieht. Übergangskonzepte, die ein längerfristiges In-Kontakt-Bleiben beinhalten oder auch die Möglichkeit vorsehen, in die Jugendhilfe zurückzukehren – eine sogenannte „Coming Back-Option“ – werden bisher nicht zum Gegenstand von Leistungsvereinbarungen zwischen öffentlichen und freien Trägern gemacht.

Für die Ehemaligenarbeit und die Förderung von Peer-to-Peer-Unterstützung nach der stationären Erziehungshilfe sind bisher ebenfalls keine Regelstrukturen vorhanden. Es obliegt daher häufig Einzelpersonen bei freien und öffentlichen Trägern oder auch den Pflegeeltern, ob sie sich nach der stationären Maßnahme für ehemals betreute junge Menschen engagieren und weiterhin mit Care Leavern in Kontakt bleiben. Übergangskonzepte und die Ausgestaltung von Ehemaligenarbeit sind zu einem verpflichtenden Bestandteil in Einrichtungen und der Vollzeitpflege weiterzuentwickeln und von den Jugendämtern zu finanzieren.

§ 92 SGB VIII - Kostenheranziehung abschaffen!

Für viele junge Menschen mit eigenem Einkommen aus einer Ausbildungsvergütung oder einem Job ist es eine unzumutbare Verpflichtung, für die Kosten der stationären Hilfe aufzukommen – schließlich wird ihnen damit auch eine Verantwortung für die Hilfeleistung zugeschrieben. Die Regelung demotiviert Care Leaver, überhaupt eine Ausbildung aufzunehmen. Sie verhindert auch, Rücklagen zu bilden, um z. B. die Kaution für die erste eigene Wohnung bezahlen zu können. Deswegen verlassen aktuell viele Care Leaver die stationäre Hilfe bereits mit Schulden. Es ist nicht hinnehmbar, dass durch diese Regelung die Gewährung und Inanspruchnahme von Hilfen in Frage stehen, sogar Ausbildungs- und Arbeitsverhältnisse durch diesen Umstand in Gefahr geraten. Die Kostenheranziehung von jungen Menschen ist abzuschaffen!

→ Care Leaver brauchen verlässliche Übergangsstrukturen, d. h. es müssen überall vor Ort niedrigschwellige Infrastrukturen sowie Lotsen und Beratungsangebote vorhanden sein.

→ Alle Care Leaver haben das Recht auf Wohnraum, Ausbildung und Begleitung im Übergang!

 

  • Careleaver e. V.
  • Institut Sozial- und Organisationspädagogik, Stiftung Universität Hildesheim
  • Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH), Frankfurt

Berlin im März 2019 

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