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Die Anhörung bei der Kinderkommission vor fünf Jahren
Protokoll der Anhörung bei der Kinderkommission
Henrike Hopp (AktivVerbund e. V.):
Sie sind die Kinderkommission und ich habe gedacht, es wäre klug, Ihnen die Pflegekinder vorzustellen – die Kinder, die in Familien leben, in die sie nicht geboren wurden. Das Pflegekinderwesen ist eine Antwort der Gesellschaft, also unseres Staates, auf Bedürfnisse, insbesondere das Schutzbedürfnis von Kindern.
Was ist die Besonderheit von Pflegekindern und warum brauchen gerade sie die Beachtung ihres Kindeswohls?
Die erste Besonderheit ist die, dass man als Pflegekind nicht geboren wird, sondern dass man dazu gemacht wird. Pflegekinder leben in einer anderen Familie, so sagt es das SGB VIII. Sie leben in einer anderen Familie, die nicht ihre leibliche Familie ist und sie leben nicht mit ihren Eltern zusammen. Pflegekinder sind eine Gruppe von Kindern, die aufgrund ihrer Erlebnisse und Erfahrungen in ihren Ursprungsfamilien dort nicht mehr leben sollen. Pflegekinder haben Erfahrungen von schwerer Vernachlässigung, von Gewalt und sexuellem Missbrauch und von Trennungen gemacht. Studien zeigen, dass etwa 70 Prozent der Kinder durch diese Erfahrungen traumatisiert wurden.
Bevor Kinder in Pflegefamilien untergebracht werden, wurde von den Jugendämtern in der Ursprungsfamilie mindestens eine andere Form der Hilfe zur Erziehung gewährt, meistens die Sozialpädagogische Familienhilfe, die aber nicht den erhofften Erfolg in der Art gezeigt hat, dass das Kind nun weiter von seinen Eltern versorgt werden könnte und es deswegen in eine Pflegefamilie vermittelt wurde. Pflegekinder werden überwiegend als Säuglinge, Kleinkinder oder Kindergartenkinder in Pflegefamilien vermittelt und leben daher in einer für die Entwicklung eines Menschen sehr bedeutsamen Zeit, nämlich der frühen Kindheit, in der Pflegefamilie.
Pflegekinder kommen in Pflegefamilien, weil Familie ihren Bedürfnissen am besten gerecht werden kann – ihren Bedürfnissen nach Nähe, nach Verlässlichkeit, nach Struktur, nach Alltagsnormalität, aber auch nach den Möglichkeiten und dem Angebot, doch Bindungen eingehen zu können, Vertrauen und auch Zugehörigkeit zu entwickeln. Pflegefamilien sind normale Familien, die sich der Aufgabe, ein Pflegekind aufzunehmen, geöffnet haben, so etwas wie eine öffentliche Familie werden und das Kind in ihre Privatheit aufnehmen.
Pflegekinder haben aufgrund ihrer Vorerfahrungen in ihrer Ursprungsfamilie häufig geistige, körperliche und besonders emotionale Beeinträchtigungen und brauchen sichere Lebensumstände und Zeit zur Nachreifung und zur Reifung von Bindung und Vertrauensentwicklung. Darüber hinaus haben viele Pflegekinder noch zusätzliche Beeinträchtigungen, wie z. B. FAS, das fetale Alkoholsyndrom.
Statistisch gesehen leben Pflegekinder über fünf Jahre in einer Pflegefamilie, und Kinder mit Vormündern, also nach Sorgerechtsentzügen, statistisch gesehen etwa sieben Jahre in Pflegefamilien, wobei die Statistik hier die Bereitschaftspflegefamilie, die ja immer sehr viel kürzer ist – paar Monate oder ein Jahr – mit einbezogen hat. Faktisch gesehen bedeutet Pflegekindschaft in Deutschland also eine auf Dauer angelegte Lebensform. Da es überwiegend jüngere Kinder sind, die in Pflegefamilien kommen, ist das für ein Kind eine Chance, in Familie leben zu können.
Die Hälfte aller 65.000 Pflegekinder in Deutschland hat einen Vormund oder einen Pfleger, d. h., dort hat es Sorgerechtsentzüge der leiblichen Eltern gegeben. Etwa 5 bis 10 Prozent aller Pflegekinder, und das ist regional sehr unterschiedlich, leben in einer besonderen Pflegefamilie, die für entwicklungsbeeinträchtigte Kinder geeignet ist – das ist § 33 Satz 2 SGB VIII: Für entwicklungsbeeinträchtigte Kinder sind besondere Formen der Familienpflege zu schaffen.
Wir erleben in der Praxis, dass Pflegekinder und ihre Pflegefamilien in Rahmenbedingungen leben, die in ihrer Qualität von Beratung und Betreuung und in ihrer Art, wie sie die Rechtslage interpretieren, sehr, sehr unterschiedlich sind, da die Jugendämter als eigenständige kommunale Träger – ich sage jetzt mal – „ihr“ Pflegekinderwesen entwickeln können. Die Arbeit im Rahmen der Pflegekinderhilfe, im Rahmen des Pflegekinderwesens ist überwiegend ein Bereich sozialpädagogischen Handelns, der Respekt, Empathie, Fingerspitzengefühl, Können und Wissen in hohem Maße verlangt. Das ist ein hochemotionales Feld, welches Haltung und oft Mut verlangt, wenn es gelingen soll, dass die Beteiligten – das ist das Pflegekind, das sind die Herkunftseltern, die Pflegeeltern, Vormund, Berater, Therapeuten, Schule und Kindergärten – zum Wohle der Kinder agieren können. Die Fachkräfte der öffentlichen und freien Träger brauchen jedoch, um das leisten zu können, machbare Rahmenbedingungen und überschaubare Betreuungszahlen, die sehr, auch regional extrem unterschiedlich sind. Im Rheinland gibt es z. B. Jugendämter, bei denen eine Vollzeitpflegekraft im Pflegekinderdienst 25, 30 Pflegekinder zu betreuen hat; in anderen, eher östlichenBereichen sind es 80 bis 120. Allein da entscheidet sich schon Qualität.
Im Ablauf einer Pflegekindschaft gibt es kritische Punkte, so habe ich sie genannt, bei denen das Kindeswohl des Pflegekindes in besonderer Weise beachtet werden muss. Das ist nach der Inobhutnahme die Unterbringung in der Bereitschaftspflegefamilie. Die meisten Kinder, kleinere Kinder besonders, kommen in spezielle Pflegefamilien, die geeignet sind, die Kinder im Rahmen einer Klärungsphase für einen bestimmten Zeitraum aufzunehmen. Etwa 50 Prozent dieser Kinder in Bereitschaftspflegefamilien gehen in ihre Herkunftsfamilie zurück. Man hat geprüft, man bietet Hilfen an und hier haben wir das Recht des Kindes auf seine Familie, indem man ihm auch seine Familie wieder geben kann. 50 Prozent der Kinder gehen in Pflegefamilien oder andere Wohnformen, Wohngruppen. Es passiert häufig, dass diese Kinder viel zu lange in der Bereitschaftspflege bleiben, weil Sorgerechtsverfahren oder überlastete Fachkräfte sich nicht in der Lage sehen, eine schnelle Klärung hinzubekommen.
Wenn Sie ins Gesetz sehen, dann wird hier von der befristeten Vollzeitpflege gesprochen – diese findet man in der Praxis eigentlich gar nicht. Befristete Vollzeitpflege würde bedeuten, dass es schon zu Beginn der Unterbringung eine klare Rückkehroption in einem ziemlich bestimmten Zeitraum gibt. Und dies ist nur bei einer positiven und förderlichen Bindung des Kindes an seine Eltern möglich, die erhalten bleiben muss, daher viele Besuchskontakte, viel enge Zusammenarbeit, alles was dazu gehört. Einige Träger haben dafür Projekte und Modelle entwickelt, es ist in der Praxis allerdings noch sehr selten.
Die unbefristete Vollzeitpflege ist das, was wir in der Praxis finden. Wir nennen sie auch Dauerpflege. Aus der Sicht des Kindes muss hier nach einem für das Kind vertretbaren Zeitraum, so heißt es in § 37 SGB VIII, eine klare Perspektive her. Das Kind braucht nach einer gewissen Zeit in der Pflegefamilie Sicherheit und Klarheit. Und als Fachkräfte, als Pflegeeltern erleben wir immer wieder Warteschleifen, in denen Kinder nicht wissen, wo sie hingehören und die die Kinder irre machen. Wenn das Kind die Familie als Familie nutzen soll, also wenn es eine zweite neue Chance bekommen soll, dann muss es auch die Chance bekommen, diese Familie nutzen zu dürfen. Und dazu gehören klare und sicherheitsgebende Entscheidungen der um das Kind sich befindlichen Erwachsene, die dann aber auch an einem Strang ziehen müssen. Hier gehört, und das möchte ich immer wieder betonen, die besondere Begleitung, Betreuung, Unterstützung und Beratung der Herkunftsfamilie unabdingbar dazu. Wir haben einen vielfältigen, in der Qualität extrem unterschiedlichen Standard von Beratung und Betreuung von Pflegekindern in Pflegefamilien. Aber hierzu gehört auch die Begleitung und Beratung der Herkunftsfamilien, die oft, wenn ein Kind in einer Pflegefamilie untergebracht ist, überhaupt nicht mehr gegeben ist.
Als nächsten Punkt möchte ich die Besuchskontakte anführen. Dazu wird nachher Frau Schusch etwas sagen. Ich sage jetzt nur ein paar Worte. § 1684 Bürgerliches Gesetzbuch gibt dem Kind das Recht auf Besuchskontakt zu seinen beiden Elternteilen; er gibt ihm aber nicht die Pflicht. Es ist eine der großen Auseinandersetzungen im Pflegekinderwesen, wo aus der Sicht des Kindes immer wieder geschaut werden muss, ob die Besuchskontakte noch zu seinem Wohle erfolgen. Wenn gute sozialpädagogische Arbeit in der Vorbereitung und Begleitung und sogar auch psychologische Hilfe das Kind nicht vor Angst und Verwirrung schützen können, dann muss es andere kindeswohlorientierte Lösungen geben.
Ich habe noch einige kurze Erklärungen, was wir generell für ein Pflegekind für erforderlich halten, damit es eine Familie, die es sich erobern will, auch wirklich behalten kann – übergreifende Überlegungen zum Wohle des Kindes in einer Pflegefamilie. Das Pflegekind braucht einen unabhängigen Vormund. Einen Vormund, der keine Rücksicht auf irgendein Amt, auf irgendwelche anderen Dinge, als auf den Bedarf eines Pflegekindes nehmen muss.
Und ich möchte noch einmal besonders auf den Bedarf von Kindern mit Behinderungen in Pflegefamilien hinweisen. Wir erleben hier ein ziemliches Durcheinander: Kinder mit seelischen Behinderungen gehören ins SGB VIII, Kinder mit körperlicher und geistiger Behinderung gehören ins SGB XII; manchmal gibt es gegenseitige Ansprüche, und das verwirrt kolossal. Wie ich erfahren habe, wird die Verwirrung durch das neue Bundesteilhabegesetz nicht unbedingt besser werden. Ich weiß nicht, ob es stimmt. Ich habe gehört, das Bundesteilhabegesetz gilt nur für Erwachsene. Da müssen wir natürlich fragen, was wir jetzt mit den behinderten Kindern machen und ob hier die Große Lösung her muss, so wie es in der SPD-Stellungnahme auch gefordert worden ist. ch denke, dass es für die Kinderkommission ganz wichtig ist, darauf zu achten, was mit den behinderten Kindern passiert, wenn das Bundesteilhabegesetz durch sein wird.
Ein Punkt, der uns alle im Pflegekinderwesen sehr beschäftigt, ist der Übergang der Kindheit in die Volljährigkeit. Hilfe für junge Volljährige ist ein großes Thema, weil wir immer wieder Pflegekinder haben, die gerne in ihren Pflegefamilien bleiben würden, dort nachreifen wollen und eigentlich Familie brauchen. Verbindlichkeit und Gleichheit von Rahmenbedingungen der Pflegekindschaft bundesweit hatte ich schon gesprochen.
Was uns auch sehr beschäftigt, ist die Frage der Kontinuitätssicherung des Pflegekindes in seiner Familie, wenn die Pflegefamilie seine Familie geworden ist. Wir sind der Überzeugung, dass § 1630 BGB, nach dem die Pflegefamilie einen Antrag auf Verbleib des Kindes in ihrer Familie stellen kann, dafür nicht ausreicht.
Renate Schusch (AktivVerbund e. V.):
Mein Schwerpunkt ist der Kinderschutz in der Pflegefamilie, angefangen bei der Inobhutnahme. Um in die Pflegefamilie hineinzukommen, braucht es eine absolut wichtige und verlässliche Diagnostik am Anfang und nicht erst einmal nur eine Kurzoder Bereitschaftspflegefamilie, die dann über Gebühr, z. B. sechs, acht, zwölf Monate oder noch länger dauert und das Kind dort überhaupt nicht ankommen kann, keine Perspektive hat und quasi wie im Orbit umherschwirrt. Also dazu brauchen wir eine Diagnostik.
Das Kind ist am Anfang, wenn es in die Familie kommt, total regelkonform und einfach. Es muss sich orientieren und ist ganz friedlich. Die Schwierigkeiten kommen erst dann, wenn das Kind angekommen ist. Und dann sind die Pflegeeltern in der Regel heillos überfordert, wenn die Kinder durch Misshandlung, Missbrauch oder „nur“ Vernachlässigung Traumatisierung erlitten haben, die in der Entwicklungsphase nachgewiesenermaßen bis zu 20 Prozent Hirnverlust erzeugen kann. Sie sind nicht darauf vorbereitet und die Mitarbeiter im Jugendamt sind eigentlich nicht ausreichend geschult, was neurobiologisch oder traumatologisch mit den Kindern überhaupt passiert, um die Pflegeeltern auch entsprechend begleiten zu können. Ich denke, dass wir da einen ganz großen Handlungsbedarf haben, damit nicht wieder Bindungsabbrüche erfolgen, wenn die Kinder zwei, drei Jahre irgendwo gelandet sind und wieder eine unsägliche Rückführung unter dem Motto folgt, „wir versuchen es noch einmal“ – wissend, dass das Kind z. B. durch Drogen, Alkohol oder Missbrauch in der Herkunftsfamilie geschädigt worden ist. Ich rede jetzt von den Kindern, die Misshandlungs- oder Gewalterlebnisse haben – nicht von denen, bei denen die Mutti ins Krankenhaus muss oder sonstigen normalen Situationen. Es kann nicht sein, dass ein Kind in die Herkunftsfamilie zurückgebracht wird, wenn man weiß, dass es schief gehen muss, und dann kommt es wieder in eine andere Pflegefamilie. Dies sollte sehr, sehr gründlich überdacht werden, damit es nicht weiter passiert, dass die Kinder in diesem ständigen Wechsel kaputtgemacht werden und sie nicht die Chance haben, irgendwo ankommen zu dürfen. Das war das eine.
Das andere habe ich seit zwei Jahren im Fonds sexueller Missbrauch im Familienministerium in der Clearingstelle, wo die Anträge hereinkommen, festgestellt, nämlich dass 85 Prozent der frühkindlich traumatisierten Kinder schon im Alter zwischen 20 und 35 Jahren in der Erwerbsminderung-oder Erwerbslosenrente sind. Wenn wir also früh anfingen, frühe Hilfen wirklich gezielt einzusetzen und nicht noch einmal eine Familienhilfe ein bisschen hier und ein bisschen da ausprobierten, sondern wirklich gezielt auf die Traumatisierung eingehen könnten, dann könnten wir diese unglaubliche Lawine der Kosten und auch der Schmerzen des jungen Erwachsenen darüber, nicht mehr im Arbeitsleben brauchbar zu sein, mit Sicherheit auffangen und verhindern.
Vorsitzende der Kinderkommission:
Vielen Dank. Ich freue mich jetzt auf den Austausch. Ich schaue in die Runde, ob es Wünsche und Nachfragen gibt. Ich habe direkt eine ganz praktische Frage.
Frau Hopp, Sie sagten, dass die meisten Kinder sehr früh, als Säugling, als Kindergartenkind und Grundschulkind aus der Ursprungsfamilie herauskommen und die Verweildauer statistisch gesehen im Schnitt fünf bis sieben Jahre beträgt. Das heißt ja, dass ein sehr großer Teil der Kinder nicht dauerhaft da bleibt, sondern dann schon wieder im Grundschulalter in die Herkunftsfamilie zurückgeht. An welchen Kriterien entscheidet sich, dass nach diesen fünf Jahren das ja immer noch Kind seiende Kind irgendwo anders hinkommt? Wer hat in diesem Prozess das Kindeswohl eigentlich tatsächlich im Auge? Sie zählten ja auf, wer alles beteiligt ist. Wer achtet darauf, was mit dem Kind passiert, wenn es wieder woanders hingebracht wird? Auf welche Familie bezieht sich denn das Recht auf Familie, oder vielleicht auch, auf welche Familie sollte es sich beziehen?
Henrike Hopp (AktivVerbund e. V.):
Ich bin ganz felsenfest der Überzeugung, dass das Kind erstmal ein Recht auf seine leibliche, eigene Familie hat. Wenn dafür alle Hilfen gebraucht werden, dann müssen sie auch erbracht werden, dann müssen sie den leiblichen Eltern angeboten werden, damit sich diese Eltern in die Lage versetzt sehen, ihrem Kind eine und „seine“ Familie geben zu können. Die Pflegekinder haben andere Eltern, die Hilfen bekommen haben – vielleicht auch nicht genug. Kinder werden heutzutage zu fast 90 Prozent – möchte ich mal sagen – nach einer Kindeswohlgefährdung in Pflegefamilien entweder durch Inobhutnahme oder durch Absprache mit den sorgeberechtigten leiblichen Eltern untergebracht. Ich sagte eben schon, als ich das mit den fünf Jahren vortrug, dass dies ein statistisches Mittel ist und dazu auch die verhältnismäßig kurzen Zeiten in den Bereitschaftspflegefamilien, die ja manchmal nur drei, vier, fünf, sechs Monate betragen, gehören. Also dann kommen Sie schon wieder auf andere Daten.
Viele Kinder erfahren sehr früh eine schwere Vernachlässigung – das ist ein ganz gravierendes Erleben sehr junger Kinder, wenn Säuglinge schwere Vernachlässigung wegstecken müssen. Ich bin schon seit 25 Jahren ehrenamtlicher Einzelvormund von Pflegekindern und habe Mündel, mit denen ich zu Psychotherapeuten und Kliniken gehen musste. Die Psychotherapeuten und die Psychologen sagen, das sind ganz oft Zerstörungen des menschlichen „Innen“, also des menschlichen Seins. Die Kinder haben keinen Mut mehr, Vertrauen einzugehen, sie wollen sich nicht mehr binden, sie sind extrem hilflos als Säugling und auf die Versorgung, die passende Fürsorge der Eltern angewiesen.
Wir haben manchmal oder häufiger Pflegekinder, die schon sehr früh traumatisiert worden sind, die einige Jahre in Pflegefamilien leben und das gut hinkriegen – und wenn sie dann älter werden und in die Pubertät kommen, können sie Familie eigentlich nicht mehr aushalten, weil sie ihnen dann zu nahe ist. Dann können sie oft nicht bis zum 18. Lebensjahr bleiben. Ich hatte zwei, drei Mündel, die mit 12, 13, 14 Jahren in eine Wohngruppe gekommen sind; das ist etwas anderes, da gibt es nicht so die Nähe der Familie, da sind andere Menschen, da ist mehr Getümmel. Dann ist es besonders wichtig, dass die Kinder trotzdem ihre Pflegeeltern noch als Eltern haben dürfen. Das haben auch Interviews mit erwachsenen Pflegekindern immer wieder gezeigt, dass Pflegeeltern, auch wenn sie es nicht dauerhaft miteinander aushalten, doch von großer Bedeutung sind und dass ihnen diese Familie erhalten bleiben soll, auch wenn sie dort nicht mehr im Alltag leben können.
Vorsitzende:
Dann gehe ich weiter mit den Fragen.
Es gibt ja diverse Familienberatungsstrukturen. Ich kenne bisher nur eine Beratungsstruktur z. B. für Regenbogenfamilien, die hier in Berlin die Familienberatung für Menschen macht, die eben nicht „Mama, Papa, Kind“ sind. Haben Sie den Eindruck, dass die sonstigen Familienberatungsstellen oder Familienberatungsleistungen Ihre Bereiche mit abdecken oder gibt es da noch einen Handlungsbedarf? Fühlen Sie sich also in der Pflegefamilienschaft ausreichend beraten? Fühlen Sie sich aus der – sagen wir mal – männlichen und Vaterperspektive in dem derzeitigen Stand ausreichend beraten, wenn man das so global sagen kann?
Henrike Hopp (AktivVerbund e. V.):
Wenn Sie bundesweit schauen, dann kann man nur mit „Ja“ oder „Nein“ antworten, denn da haben wir genau wieder diese Situation: Wir haben einige sehr, sehr gute, sehr aktive Jugendämter, die es z. B. schaffen, an ihren städtischen Beratungsstellen einen Zweig speziell für Pflegeeltern anzubauen, die dort wirklich auch gut beraten werden. Wir haben in einigen Jugendämtern sehr gute Pflegekinderdienste, die beraten können. Wir haben Träger, die das wundervoll können – und wir haben andere, da sitzen die Pflegeeltern in der Diaspora, da kommt einmal im Jahr jemand, und das ist es dann. Wir wünschten uns, und das ist wirklich unser großes Anliegen, dass es eine bundesweit angeglichene Form von guter Beratung und Betreuung für die Kinder gibt. Denn als Pflegeeltern brauchen wir, dass wir das Verhalten dieser Kinder verstehen. Das sind traumatisierte, sehr verletzbare Kinder, und da ist es sehr wichtig, dass das Verhalten des Kindes verstanden wird. Sie reden ja nicht mit dem Mund, sie reden durch ihr Verhalten, und es wäre toll, wenn Hilfe da wäre, um das richtig zu interpretieren.
Renate Schusch (AktivVerbund e. V.):
Zum letzten Punkt würde ich sagen, wir brauchen auch weitere Schulungen für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in den Jugendämtern und in den freien Trägern, die ganz spezifisch für die Problematik von Traumatisierungen geschult werden; zum Beispiel bei Umgangsbegleitungen, wenn die Herkunftseltern die Kinder gerne wieder sehen würden, damit sie evtl. wieder zurückgeführt werden können, und die Kinder schwerst traumatisiert sind. Da heißt es, „es passiert ihnen ja nichts“, wenn sie in begleiteten Umgängen in irgendeinem Kinderschutzzentrum oder bei einem freien Träger die Umgangskontakte wahrnehmen. Was da aber mit der kleinen Seele passiert ist, interessiert keinen. Das sieht auch keiner. Ein gebrochener Arm oder eine Beule am Kopf von einer Misshandlung ist sichtbar. Aber was ein Kind bei einem begleiteten Umgang in dieser Retraumatisierung, erlebt oder erdulden muss, sieht keiner – da braucht z. B. der missbrauchende Elternteil oder der Schläger oder der Trinker oder die Trinkerin nicht einmal irgendwie körperlich zu werden, sie brauchen nicht zu sprechen – die Kinder brauchen sie nur zu riechen und reagieren sofort – die kleinsten Kinder, die noch gar keine Verbalisierung haben – über den Körper. Und da wünschte ich mir, dass das wirklich beschult wird, damit man versteht, warum die Kinder einen ganzen Nachmittag z. B. unterm Puppenhaus sitzen; die begleitende Pädagogin sagt dann, „ach, haben wir aber toll gespielt, sie hat Verstecken gespielt“ – und die nächsten vier Wochen haben die Kinder zuhause die Panik, und wir haben vier Wochen die Möglichkeit, die Kinder wieder halbwegs zu stabilisieren – und dann kommt der nächste Umgang und es geht wieder von vorne los. Diese Kinder können nicht heile werden.
Vorsitzende:
Vielen Dank. Ich spreche noch ein Konfliktfeld an, das unsere Büros und uns hier als Abgeordnete schon häufiger beschäftigt hat und zu dem auch Menschen an uns herantreten; das sind genau die Konfliktfälle, die in Ihrem Themenbereich angesiedelt werden: Wird das Kinderrecht ausreichend gewahrt, wenn sich die Herkunftsfamilie und die Pflegefamilie nicht einig sind – das ist vielleicht die falsche Ausdrucksweise –, aber wenn es Konflikte darüber gibt, wo das Kind jetzt eigentlich hingehört, und z. B. die biologischen Eltern ihr Recht an ihrem Kind – Sie betonten ja auch, dass es dort eigentlich hingehört – durchsetzen. Ein anderes Konfliktfeld, das uns immer mal wieder auf den Tisch gelegt wird, ist das Kinderrecht, wenn sich Väter und Mütter streiten. Welche Regelungsformen sind da sinnvoll? Wie bewerten Sie in diesen Streitfällen oder Konfliktfällen das Recht des Kindes auf seine Familie? Sehen Sie in diesen Konfliktfällen auch Regelungs- oder Handlungsbedarfe?
Henrike Hopp (AktivVerbund e. V.):
Ich glaube, hier wäre ganz wichtig, die Unterschiedlichkeit zwischen Scheidungs- und Pflegekind deutlich zu machen. Beim Scheidungskind haben wir fürsorgliche und sorgevolle Eltern, die sich beide um das Kind kümmern wollen. Das Pflegekind ist immer ein Kind mit einer Vorgeschichte. Und da, glaube ich, haben wir sehr unterschiedliche Lösungen. Ich glaube, in den Kindern geht vieles gleichartig vor: Sie haben Loyalitätskonflikte, sie fühlen oft, dass sie den einen oder den anderen beruhigen müssen, wie Kinder, die mit Eltern zu tun haben, die nicht mehr zusammenleben. Dort, wo es den Fachkräften im Pflegekinderwesen gelingt, Herkunftseltern wirklich so zu begleiten, dass sie die Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie akzeptieren können, ohne zu sagen, „das ist nicht mehr mein Kind“ oder „ich hab damit nix mehr zu tun“, erleben wir eine gute Lösung und ein gutes Wohlbefinden des Kindes – wenn demnach das Ziel ist, zu sagen, das Kind lebt dort, aber Vater und Mutter sind die leiblichen Eltern, und diese bleiben für das Kind weiter wichtig und es damit nicht in diese Loyalitätskonflikte gerät. Wir also Begleiter von beiden Familien haben, die sowohl vor den Pflegeeltern als auch vor der Herkunftsfamilie ganz besonders Achtung und Respekt haben. Da, wo das gelingt, können auch Besuchskontakte gelingen.
Im Pflegekinderwesen gibt es über Besuchskontakte häufig so etwas wie einen Streit über die Frage, wo das Kind hingehört –„ich besuche das Kind, damit ich es wieder zu mir nehmen kann.“ Wenn diese Grundstreitigkeiten für ein Kind ausgehandelt werden können oder wenn – ich sagte ja, jedes zweite Pflegekind hat einen Vormund – der Vormund hier eine Entscheidung trifft, dann hat das Kind Sicherheit und Klarheit, und dann kann es sich auch wieder seinen Eltern öffnen, die für seine Identität, für sein Leben ganz wichtig sind – aber es lebt in der Pflegefamilie, und das sind „Mama und Papa“, die emotionalen Eltern für viele Kinder. Das hat sehr viel mit guter fachlicher Arbeit von Sozialpädagogen, Psychologen und solchen Stellen, wie Sie sie eben angefragt haben, zu tun.
Vorsitzende:
Am Ende ist es aber dann ja doch manchmal eine rechtliche Frage. Ich beziehe mich jetzt auf Aussagen u. a. der Familienministerin; wenn die biologischen Eltern das Recht an ihren Kindern zugesprochen bekommen, dann kann das zulasten der Pflegefamilie bzw. des Kindes gehen, das sich eigentlich in der Pflegefamilie schon angekommen fühlte. Das ist natürlich ein Spannungsfeld, denn wer ist wirklich derjenige, der bewertet, wer das höhere Recht an dem Kind hat, wenn es nicht am Ende das Kind auch selbst ist? Wie bekomme ich diese Kinderperspektive in dieses juristische Verfahren hinein? Das halte ich für einen entscheidenden Knackpunkt – das ist auch so ein Knackpunkt bei Fragen im Scheidungsrecht. Da möchte sich das Kind wahrscheinlich am liebsten zerreißen, um bei beiden Eltern zu sein. Wie kann es der Gesetzgeber überhaupt darstellen, dass dieses Kinderrecht gewahrt bleibt und gestärkt ist?
Renate Schusch (AktivVerbund e. V.):
Da fällt mir situativ eine Geschichte aus dem Gerichtsgebäude ein. Es geht um ein Verfahren zur Pflegekindrückführung usw. vor Gericht und der Richter hat einen Verfahrensbeistand eingesetzt. Da gibt es ein ganz großes Potential, wenn sie denn empathisch und gut vorgebildet sind und wirklich auch das Recht des Kindes zu ermitteln versuchen und sich nicht wie der Verfahrensbeistand verhalten, der bei Papi oder bei Mami zuhause sitzt und ein Käffchen trinkt und das Kind überhaupt nicht trifft. Das geht natürlich nicht. Die Richter sind ja autonom, aber vielleicht könnten Sie von der gesetzgebenden Seite her darauf einwirken, dass es wirklich zwei verschiedene Ansätze sind: einmal die Scheidungskinder und einmal die Pflegekinder. Leider Gottes ist es in den Gerichten immer noch nicht angekommen, dass ein Scheidungskind kein Pflegekind ist oder umgekehrt. Diese werden zusammengewürfelt, und da kommen wir nicht zu einem Konsens.
Henrike Hopp (AktivVerbund e. V.):
Vielleicht darf ich ergänzen. Ich glaube, wenn es in irgendeiner Form besser gelingen würde, die Kinder zu hören, würde das weiterhelfen. Ich meine, der Verfahrensbeistand ist ja schon ein guter Schritt, das muss man schon sagen. Anhörungen von Kindern halte ich auch für einen guten Schritt, und sie werden auch gemacht, das erlebe ich auch. Ich bin auch beeindruckt, wenn sich Richter durch die Äußerung eines Sechs- oder Siebenjährigen bei ihrem Urteil sehr beeinflussen lassen. Es ist hoch beeindruckend zu erleben, mit welch einer Ernsthaftigkeit und welch einer Idee Kinder, wenn sie gut vorbereitet sind und wissen, was sie wollen, sich einbringen. Das verändert die ganze Situation. Da streiten sich nicht Eltern. Da heißt es dann auch nicht, wer hat mehr Recht, die Eltern oder die Eltern, sondern was ist mit dem Kind, was gehört in sein Leben und was kann es sich selbst für sich vorstellen. Das wäre so meine, unsere Vorstellung.
Abg. Beate Walter-Rosenheimer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vielen Dank. Ich wollte mich zunächst nicht einmischen, da ich später gekommen bin.
Zu dem, was Sie sagen: Ich weiß nicht genau, warum wir hier Pflegekinder und Trennungskinder quasi zusammen mischen. Da fehlt mir wahrscheinlich der Beginn der Sitzung, denn das ist ja schon eine sehr unterschiedliche Ausgangssituation. Ich denke, das kann man nicht wirklich vergleichen. Ich hab sehr viel zu dem Thema Elternlosigkeit geforscht und für meine Diplomarbeit auch lange erwachsene Menschen, die ohne Vater, ohne Mutter oder ganz ohne Eltern in Pflegefamilien oder adoptiert aufgewachsen sind, befragt. Das ist ja ein großes Thema, auch wie wichtig es ist, die biologischen Eltern zu kennen, in irgendeiner Weise Kontakt zu beiden Eltern haben zu können. Das gilt natürlich auch für Trennungskinder. Wenn man Kinder entscheiden lassen würde, würden die das natürlich so aussuchen. Sie sagen, dass immer noch der Mutteraspekt besonders gewertet wird – da hat sich aber in der Gesellschaft, finde ich, schon einiges verändert. Ich glaube, wir haben in über 90 Prozent der Fälle nach der Trennung ein gemeinsames Sorgerecht. Da geht es – und wir hatten vorher das Thema Wechselmodell –, dass die Kinder bei beiden Eltern leben. Da hat sich, glaube ich, schon etwas bewegt, dass man anerkennt, dass die Väter für die Kinder sehr wichtig sind –dass beide Eltern wichtig sind. Da geht es auf jeden Fall schon mal in die richtige Richtung, obwohl rechtlich auch noch vieles zu klären ist.
Zum Thema Pflegekinder habe ich leider Ihren Beginn nicht mitbekommen. Es ist sicher eine ganz andere Lage, ob da zu den biologischen Eltern überhaupt ein Kontakt bestehen kann. Ich bin selbst Psychologin und für die Frage, ob das für die Kinder möglich ist, spielen sehr viele Faktoren eine Rolle. Es ist sicher auch sehr unterschiedlich, je nachdem warum die Kinder aus dieser Familie herausgenommen wurden. So tragisch ich es finde, wenn sie keinen Kontakt haben können – aber wir haben durchaus Untersuchungen, dass es manchmal besser sein kann. Manche Erwachsene sagen später, „ich hab das nicht vermisst, ich war froh, dass ich da weg war“, und sind ganz gut damit klargekommen, dass sie keinen Kontakt mehr hatten, wenn es sich einfach als nicht machbar herausgestellt hat. Da sehe ich jetzt auch von Gesetzgeberseite wenig Möglichkeit, denn manche Menschen sind dazu einfach nicht in der Lage, vor allem wenn sie diese Traumatisierungen haben, die dann aufbrechen. Das ist eine sehr, sehr schwierige Sache.
Vorsitzende:
Kurz zur Einordnung: Es ging mir nicht darum, diese Konflikte gleichzustellen, sondern zu schauen, wie das Recht des Kindes an seiner Familie aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wird, und dafür sind diese Expertinnen und Experten heute bei uns.
Henrike Hopp (AktivVerbund e. V.):
Das Recht des Pflegekindes auf das Wissen über seine Herkunftsfamilie ist wie bei Adoptivkindern überhaupt nicht infrage zu stellen, das ist völlig klar. Neuere Studien und Untersuchungen haben sich sehr intensiv mit erwachsenen Pflegekindern beschäftigt. Davon haben wir eine ganze Menge gelernt, auch wie wichtig für sie die Herkunftsfamilie ist und wann sie wichtig ist und dass man sich lieber erst einmal an Geschwister wendet, bevor man sich an die leiblichen Eltern wendet, weil das so ein großer Sprung ist. Aber wir haben eben auch gelernt, dass es für Kinder absolut notwendig ist, erst einmal in Sicherheit und Ruhe leben zu dürfen. Und wenn das dann in einer Pflegefamilie sein soll, dann ist das in einer Pflegefamilie auch wichtig. Und wenn sie sich dann in Sicherheit und Ruhe und mit Vertrauen zu Erwachsenen wieder anderen zuwenden können, dann kommt für sie die Frage, „was ist mit meiner Herkunft und wie kriege ich die hin?“ Das genau ist der Schritt.
Vom 4. März 2015