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12.10.2022
Politik

Experten uneins über Abschaffung der Kosten­heran­ziehung in der Jugendhilfe

Bei einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am Montag, 10. Oktober 2022, wurde das Vorhaben, die Kostenheranziehung junger Menschen in der Jugendhilfe abzuschaffen, mehrheitlich als richtiger Schritt bezeichnet. Kritisiert wurde jedoch, dass davon aber nicht jene junge Menschen profitierten, die eine Berufsausbildung für Menschen mit Behinderung oder eine geförderte Ausbildung über das Arbeitsamt beziehungsweise das Jobcenter absolvieren oder in einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme sind.

Zusammenfassung der Anhörung 

Die von der Bundesregierung geplante Abschaffung der Kostenheranziehung von jungen Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe (20/3439) wird von Sachverständigen unterschiedlich beurteilt. Bei einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend am Montag, 10. Oktober 2022, wurde das Vorhaben mehrheitlich als richtiger Schritt bezeichnet, von dem aber jene junge Menschen nicht profitierten, die eine Berufsausbildung für Menschen mit Behinderung oder eine geförderte Ausbildung über das Arbeitsamt beziehungsweise das Jobcenter absolvieren oder in einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme sind. Die Kritik anderer Sachverständiger an dem Entwurf zielte darauf ab, dass damit eine Verselbständigung der Jugendlichen erschwert werde und sie teils bessergestellt würden, als Jugendliche, die eine Ausbildung machen und im Elternhaus leben.

Der Gesetzentwurf sieht vor, die Kostenheranziehung bei jungen Menschen und Leistungsberechtigten nach Paragraf 19 SGB VIII sowie für ihre Ehegatten und Lebenspartner aufzuheben. Bislang werden junge Menschen, die in einer Pflegefamilie oder einer Einrichtung oder sonstigen Wohnform der Kinder- und Jugendhilfe leben und die ein eigenes Einkommen haben, mit bis zu 25 Prozent davon zu den Kosten der Leistung der Kinder- und Jugendhilfe herangezogen.

„Benachteiligungen für alle abschaffen“

Maike Brummelman vom Christlichen Jugenddorfwerk Deutschlands (CJD) sprach von einem wichtigen Schritt auf dem Weg zur gleichberechtigten Teilhabe „des betroffenen Personenkreises“. Um dem Gedanken der Inklusion gerecht zu werden, sei es aber geboten, „für alle jungen Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe Benachteiligungen abzuschaffen“.

Ähnlich argumentierte Juliane Meinhold vom Paritätischen Gesamtverband. Für alle jungen Menschen, die eine Ausbildung auf dem ersten Arbeitsmarkt machen, verbessere sich die Situation deutlich, „weil keine Kostenheranziehung in Bezug auf die Ausbildungsvergütung erfolgt“. Wer aber eine Berufsausbildung für Menschen mit Behinderung oder eine geförderte Ausbildung über das Arbeitsamt oder Jobcenter absolviert oder in einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme sei, erhalte keine sozialversicherungspflichtige Ausbildungsvergütung, sondern eine Netto-Unterhaltszahlung. Diese werde als Ausbildungsgeld bezeichnet und zur Finanzierung der Kinder- und Jugendhilfeleistung herangezogen.

Entbürokratisierung der Kinder- und Jugendhilfe

Die Möglichkeit, finanzielle Rücklagen für den Übergang in ein eigenständiges Leben und eine sichere Existenz zu bilden, müsse für alle jungen Menschen und für jede Form von Einkommen gelten, forderte Sebastian Hainski vom Deutschen Berufsverband für Soziale Arbeit. Es brauche eine Entbürokratisierung der Kinder- und Jugendhilfe, „sodass benötigte Hilfe auch wirklich bedingungslos und bedürfnisorientiert bei allen jungen Menschen in unserer Gesellschaft ankommt“.

Aus Sicht von Marie Hesse vom Bayerischen Landesjugendamt kann die Abschaffung der Kostenheranziehung durchaus eine Motivation der jungen Menschen zur Aufnahme von Erwerbstätigkeiten darstellen. Für die Jugendämter sei damit auch eine Verwaltungsvereinfachung verbunden. Allerdings, so Hesse weiter, sei die Kostenheranziehung geeignet, um junge Menschen darauf vorzubereiten, ihr Einkommen im Hinblick auf Ausgaben für Unterkunft und Verpflegung einzuteilen. Falle dies künftig weg, müsse von einem zusätzlichen pädagogischen Bedarf ausgegangen werden. Darüber hinaus sehe sie eine Besserstellung junger Menschen in stationären Einrichtungen beziehungsweise Pflegefamilien im Vergleich zu jungen Menschen, die im Haushalt ihrer Eltern leben und einen Beitrag zur Lebenshaltung abführen müssten.

Kostenheranziehung als Hürde

Josef Koch von der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen stimmte dem Gesetzentwurf und seinen Zielsetzungen voll umfänglich zu. Die Heranziehung bestrafe Jugendliche und junge Erwachsene dafür, in der Jugendhilfe zu sein, befand er. Koch verwies zugleich darauf, dass die Hauptgründe für eine Unterbringung Jugendlicher und junger Erwachsener in einem Heim oder bei einer Pflegefamilie eine Gefährdung des Kindeswohls sowie eine Unterversorgtheit der jungen Menschen sei. Davon zu reden, dass die Unterbringung wie in einem Ferienhaus bei freier Kost und Logis erfolge, sei angesichts der massiven Belastungen und Benachteiligungen dieser jungen Menschen falsch.

Vor dem Hintergrund der besonderen Biografien und der Lebensbedingungen, die ursächlich für das Aufwachsen in stationärer Jugendhilfe waren, sei die Kostenheranziehung eine weitere Hürde und keine Unterstützung zur selbständigen und eigenverantwortlichen Lebensführung, befand Laurette Rasch vom Verein Careleaver. Kostenheranziehung in jeder Form widerspräche auch dem im Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG) verankerten Inklusionsgedanken, demzufolge die Regelungen der Kinder- und Jugendhilfe gleichermaßen für junge Menschen mit und ohne Behinderungen gelten und diese unterstützen sollen.

Sachverständige kritisiert Regelungslücken

Lob für den Gesetzentwurf gab es von der Fachanwältin für Sozialrecht Gila Schindler, die zugleich Regelungslücken ansprach. So bleibe die Situation der besonders belasteten jungen Menschen, die von einer Behinderung betroffen sind, in einem wesentlichen Aspekt ungeregelt. Diese Personen könnten gegenüber der Bundesagentur für Arbeit Teilhabeleistungen zur beruflichen Eingliederung beanspruchen, so Schindler.

Ob und in welcher Höhe das gewährte „Ausbildungsgeld“ angerechnet wird, werde von den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe unterschiedlich bewertet. Die Betroffenen seien so einem Gefühl der behördlichen Willkür ausgesetzt, dass für junge Menschen regelmäßig noch viel schwerer zu ertragen sei, als für lebenserfahrenere Personen.

„Kompromiss war gut und sinnvoll“

Michael Wagner, Jugendamtsleiter in Memmingen (Bayern), steht der Abschaffung der Kostenheranziehung kritisch gegenüber, „weil es die Verselbständigung der jungen Menschen erschwert“. Erst wenn sie aus der stationären Jugendhilfe hinaus und in die erste eigene Wohnung ziehen, würden sie lernen müssen, dass das verdiente Geld zur Sicherstellung des eigenen Lebensunterhaltes verwendet werden müsse. Auch könne der Anreiz, den Schritt in ein selbstständiges Leben zu wagen, damit reduziert werden, gab er zu bedenken.

Jörg Freese vom Deutschen Landkreistag bezeichnete den erst 2021 im KJSG aufgenommenen Kompromiss, die Kostenheranziehung von jungen Menschen in der Kinder- und Jugendhilfe mit eigenem Einkommen von 75 Prozent auf 25 Prozent zu senken, als „gut und sinnvoll“. Als Vertreter der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände räumte Freese ein, dass die Haltung in den Kommunen zu dieser Fragestellung nicht einheitlich sei. „Weit überwiegend“ werde aber die Komplettabschaffung abgelehnt. Der nicht zu leugnenden insgesamt schwierigen Lebenssituation der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der stationären Jugendhilfe oder in Pflegefamilien werde bereits durch die Absenkung der Kostenheranziehung auf 25 Prozent ausreichend Rechnung getragen.

Bisherige Rechtslage

Bisher gilt: In der Kinder- und Jugendhilfe werden junge Menschen, die in einer Pflegefamilie oder einer Einrichtung oder sonstigen Wohnform der Kinder- und Jugendhilfe leben und die ein eigenes Einkommen haben, zu den Kosten der Leistung der Kinder- und Jugendhilfe aus ihrem Einkommen herangezogen. Dies gilt auch für alleinerziehende Mütter oder Väter mit ihrem Kind, die in einer gemeinsamen Wohnform untergebracht sind. Dabei handelt es sich um sogenannte Leistungsberechtigte nach Paragraf 19 des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII).

Der Kostenbetrag kann bis zu 25 Prozent des Einkommens betragen. Auch die Ehegatten und Lebenspartner der jungen Menschen und Leistungsberechtigten nach Paragraf 19 des SGB VIII werden abhängig von der Höhe ihres Einkommens zu den Kosten aus ihrem Einkommen herangezogen.

Vorgesehene Änderungen

Das will die Bundesregierung nun ändern. Der Gesetzentwurf sieht vor, die Kostenheranziehung bei jungen Menschen und Leistungsberechtigten nach Paragraf 19 SGB VIII sowie für ihre Ehegatten und Lebenspartner aufzuheben. Dadurch könnten die jungen Menschen und Leistungsberechtigten sowie ihre Ehegatten und Lebenspartner vollständig über das Einkommen, das sie erzielen, verfügen, heißt es im Entwurf.

Zur Begründung schreibt die Regierung, dass die Kostenheranziehung dem Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe widerspricht. „Wachsen junge Menschen außerhalb ihrer Herkunftsfamilie auf, haben sie bereits mit zusätzlichen Herausforderungen umzugehen und dadurch einen schwierigeren Start in ein eigenständiges Leben. Dieser Start wird nochmal erschwert, wenn sie einen Teil ihres Einkommens, das sie zum Beispiel im Rahmen eines Schüler- oder Ferienjobs oder ihrer Ausbildung verdienen, abgeben müssen.“ Durch die Abschaffung der Kostenheranziehung verringern sich laut Regierung die Einnahmen der Kommunen um jährlich rund 18,3 Millionen Euro.

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