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06.08.2019

Kindeswohl und digitalisierte Gesellschaft: Chancen wahrnehmen – Risiken bannen

Mit dieser Stellungnahme vom 26. Juni 2019 will die Kinderkommission vor dem Hintergrund der Risiken der Digitalisierung Hinweise für eine angemessene Prävention und Regulierung geben, damit sich Kinder und Jugendliche sicher und erfolgreich in der digitalen Welt bewegen können. Denn die eigentlichen Ziele der Digitalen Agenda werden weniger durch passiven Konsum der Angebote erreicht, denn vielmehr durch Phantasie und kreative Nutzung der neuen technischen Möglichkeiten.

Nachdem die Kinderkommission in ihrer Stellungnahme Hintergrund und Entwicklung des Kinderschutzes in den Digitalen Medien beschrieben hat, erläutert sie in Absatz D ihre  Empfehlungen.

D Empfehlungen der Kommission

1. Regulierung verbessern

 Bei der Novellierung des Jugendmedienschutzrechts sollen die Erkenntnisse von Entwicklungspsychologie, Kriminologie, Suchtforschung und des UBSKM einbezogen werden.

 Durch eine bundeseinheitliche Regelung sollen Jugendschutz und Jugendmedienschutz in gemeinsamer Verantwortung von Bund und Ländern harmonisiert werden. Dazu gehört eine vom Verbreitungsweg unabhängige Alterskennzeichnung entsprechend des Gefährdungspotentials.

 Betreiber von Webseiten und Anbieter von OnlineSpielen sollen auf der Start- und den Folgeseiten sichtbar das zum Betrachten und Nutzen der Seite zugelassene bzw. empfohlene Mindestalter angeben. Eine Zertifizierung nach USK oder IARC soll einen Qualitätsausweis darstellen.

 Content- und Host-Provider sollen verpflichtet werden, Missbrauchsdarstellungen, die auf ihren Seiten auftauchen, nach Bekanntwerden sofort zu löschen bzw. löschen zu lassen und die Strafverfolgungsbehörden über den Upload- und den Löschvorgang zu unterrichten.

 Anbieter von sozialen Netzwerken, Kommunikationsmitteln und Online-Spielen sollen verpflichtet werden,

  • - Altersgrenzen in der Nutzerschaft durch wirksame Zugangskontrollen durchzusetzen, z. B. über hinterlegte Zertifikate,
  • - Informationen und Hinweise für kindliche und jugendliche Nutzer wie auch deren Eltern gut sichtbar und übersichtlich bereitzustellen,
  • - verbindliche Kooperationen für den digitalen Kinderund Jugendschutz einzugehen,
  • - kinderfreundliche Beschwerdeverfahren zu installieren und geeignetes Personal vorzuhalten,
  • - bei allen Angeboten standardmäßig den maximalen Schutz einzustellen (Privacy und Safety by Default),
  • - Nutzungsbedingungen leicht zugänglich und transparent darzustellen.

 Die Kinderkommission erwartet die zügige Beratung des Referentenentwurfs der Bundesregierung und setzt sich insgesamt dafür ein, dass Cybergrooming wirkungsvoller als bisher strafrechtlich verfolgt werden kann.

 Bundesregierung und Länder werden aufgefordert, Eltern und Kinder in geeigneter Form darüber zu unterrichten, dass der Verkauf und die Weiterverarbeitung von Daten ohne aktive Zustimmung des Nutzers bzw. des Vertretungsberechtigten ein Verstoß gegen die DSGVO ist.

 Bundesregierung und Bundesländer werden aufgefordert, bei der Novellierung des Jugend (medien-) schutzes für die Beurteilung und Festlegung der Altersfreigabe von Computerspielen und Apps ein zusätzliches Kriterium „Suchtpotenzial“ einzuführen.

 Voraussetzung für entsprechende Altersfreigaben von Onlinespielen mit Chatfunktionen soll auch der Nachweis des Einsatzes von qualifizierten Moderatoren sein.

2. Mittel zur Forschung und Förderung gezielter unter Kinderschutzgesichtspunkten einsetzen

 Die Bundesregierung wird aufgefordert, die unabhängige Erforschung und Entwicklung von Sicherheitssystemen für jugendfreie Webseiten zu fördern. Insbesondere sollen verlässliche Kennzeichnungen von gefährdenden Websites oder Inhalten sowie effektive Systeme zur Strafverfolgung entwickelt werden. Es soll auch geprüft werden, ob Altersfilter ein sinnvolles Schutzsystem bewirken können.

 Die Bundesregierung wird aufgefordert, im Rahmen der Digitalen Agenda einen unabhängigen Forschungsbereich zu Chancen und Risiken neuer Digitaltechnologien aufzubauen, bestehende Einrichtungen und Initiativen diesbezüglich zu vernetzen sowie Forschungsprojekte zu fördern.

 Die Bundesregierung wird aufgefordert, Mittel zur Verfügung zu stellen, damit Softwareinstrumente zur Verfolgung von Straftaten des sexuellen Missbrauchs und des Verstoßes gegen das Recht am eigenen Bild weiterentwickelt werden können. Insbesondere sollen Mittel zur Erprobung des kanadischen Webcrawlers Arachnid bereitgestellt werden.

 Fördergelder für die Games-Branche sollen vorwiegend Unternehmen gewährt werden, die sich in besonderem Maß um wirksamen Kinder-und Jugendschutz bemühen.

 Die Länder werden aufgefordert, die zahlreichen bestehenden Initiativen und Programme zur Verbesserung von Medienkompetenz und Sicherheit im Netz zusammenzuführen bzw. abzustimmen. Schutz im Internet darf nicht vom Wohnort abhängig sein. 

3. Strafverfolgung stärken

 Die Durchsetzung der bestehenden Regelungen ist unbefriedigend. Die Instrumente der Kommission für Jugendmedienschutz sollen im Hinblick auf die Wirksamkeit der Maßnahmen evaluiert werden.

 Die Bundesregierung wird aufgefordert, eine europäische Lösung anzustreben, wie Pornografie und Gewaltdarstellungen im Sinne von § 15 Abs, 2 JuSchG auf frei zugänglichen Webseiten und in Chats einheitlicher und schneller geahndet bzw. verhindert werden können.

 Bund und Länder sollen zusätzlich zu Personalaufstockungen Mittel für eine erweiterte Spezialisierung und Qualifizierung der Verfolgungsbehörden (z.B. Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften, Kompetenzzentren der Kriminalämter) bereitstellen, insbesondere für Ermittlungen bei Kindesmissbrauch.

 Bei der Verfolgung von Cybergrooming und anderen Formen des Missbrauchs im Internet soll die verdeckte Ermittlung ermöglicht werden. Weiter soll die Zusammenarbeit der Behörden, auch auf internationaler Ebene, verbessert werden.

4. Abgestuftes Bildungskonzept für Medienmündigkeit einsetzen

Niemand weiß, welche Anforderungen die künftige digitale Arbeits- und Lebenswelt konkret stellen wird. Anzunehmen ist, dass die Dinge nicht stehen, sondern im Fluss bleiben, die Anforderungen sich also weiter entwickeln. Schule muss daher auch auf die neue digitale Welt im allgemeinen Sinne vorbereiten, Auffassung und Problemanalyse schulen, Denkund Kommunikationsvermögen ausbilden. Sie kann nicht auf die aktuelle Technik fokussieren, sondern muss auf das Verstehen und den aufgeklärten Umgang mit ihren Strukturen und Prinzipien abzielen. Die Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen sind deshalb zu stärken und zu intensivieren. Logisches Denken und ein sich entwickelnder Wortschatz sind Grundvoraussetzungen für gelingende Lernprozesse in allen Fächern und Stadien sowie für einen reflektierten Umgang mit digitalen Medien. Ziel der schulischen Medienbildung ist die allgemeine Medienmündigkeit im Sinne eines kritischen Verständnisses der Medien und der Befähigung zu ihrer souveränen und verantwortungsbewussten Nutzung. Es braucht ein „Gesamtkonzept Medienbildung“, das Schule, Eltern und außerschulische Akteure fachlich und pädagogisch einbezieht und altersangemessen strukturiert ist.

a) Kindergarten- und Vorschulkinder vor ungeeigneten digitalen Erfahrungen schützen

 Pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen oder Tagespflege sollen medienpädagogisch geschult sein. Die Länder werden aufgefordert, Mittel für entsprechende Fortbildungsmaßnahmen der Fachkräfte bereitzustellen und entsprechende Module in die Ausbildung aufzunehmen.

 Eltern sollen beim Eintritt des Kindes in eine Kindertageseinrichtung oder Tagespflege Handreichungen z. B. der BZgA oder des Berufsverbandes der Kinderund Jugendärzte erhalten, die sie auf den altersgerechten Umgang mit digitalen Medien hinweisen.

 Die Länder sollen Mittel bereitstellen, damit Eltern einen pädagogisch sinnvollen Umgang mit digitalen Medien trainieren können.

 Werbung für interaktive digitale Medienprodukte soll nicht in Bildschirmmedien für Kinder erscheinen, wenn sie sich an Kinder unterhalb der für das Produkt zugelassenen Altersgrenze richtet.

b) Altersgerechte Medienbildung in der Primarstufe

 In der Primarstufe soll der pädagogische Schwerpunkt weiterhin auf dem Erlernen der analogen Kulturtechniken liegen. Sie bilden auch eine wichtige Voraussetzung für Medienkompetenz und einen mündigen Umgang mit digitalen Medien. Sprache, Mathematik, Musik und manuelles Gestalten sind die Grundlage für erfolgreiche Bildungsbiografien.  Online-freie Aktivitäten und Schulbereiche sollen erhalten und gefördert werden.

 Im Rahmen der pädagogischen Verantwortung der Lehrkräfte sollten Kinder an digitale Medien herangeführt werden und in konkreten Unterrichtssituationen damit arbeiten. Voraussetzung ist ein Schutzkonzept, das den Einsatz der Geräte definiert und die Kinder zuverlässig vor Datenzugriffen von außen schützt.

 Für die Medienbildung in der Primarstufe sollen die Länder ein System aus zentralen Schulservern und sicheren Webseiten etablieren. Zusätzlich soll sichergestellt und periodisch nachgewiesen werden, dass Anbieter von Lernsoftware zeitnah zertifiziert sind, dass Schülerdaten anonymisiert eingehen und dass diese Daten nicht außerhalb der für die Nutzung der Lernprogramme zwingend unmittelbar erforderlichen Form übertragen, gespeichert oder verwertet werden.

 Die Förderung von Medienmündigkeit soll in der Aus- /Fortbildung von pädagogischen Fachkräften und Lehrkräften, Bildungsplänen und pädagogischen Konzepten verankert werden. Dazu gehört die Schulung in analogen und digitalen Medientechniken wie die Vermittlung von aktuellem Jugendmedienschutzwissen.

 Die pädagogischen Medienbildungskonzepte sollen bereits in der Primarstufe altersgerecht die Themen Schutz vor Missbrauch, Sucht und Attacken berücksichtigen und dabei die Eltern einbeziehen.

c) Bildungsziel Medienmündigkeit in der Sekundarstufe

 Die Länder werden aufgefordert, das technische Verständnis digitaler Systeme zu fördern sowie Medienund Datenschutzkompetenz zu vermitteln. Neben der Möglichkeit, dies als Querschnittsaufgabe in die Lehrpläne zu integrieren, sollen sie prüfen, ob mittels eines integrierten Schulfachs Medienkunde die klassischen Unterrichtsfächer von diesen notwendigen Grundlagen entlastet werden können.

 Die Schulen sollen entscheiden, bei welchen Unterrichtsprojekten sie den Einsatz privater Geräte zulassen. 

5. Jugendmedienschutz unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen laufend weiterentwickeln

 Neue Medien, ihre Weiterentwicklung und die sich verändernde Nutzung soll in einem regelmäßigen Monitoringprozess unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen erfasst und im Hinblick auf ggf. anzupassende Regeln beurteilt werden.

 Jugendliche sollen an der Entwicklung von Schutzkonzepten und am Coaching jüngerer Kinder beteiligt werden. Es soll die Möglichkeit geprüft werden, dies als ehrenamtliche Tätigkeit anzuerkennen.

 In der offenen Kinder- und Jugendarbeit sollen Projekte zur Vermittlung von Medienmündigkeit gefördert werden. Die Länder und Kommunen werden aufgefordert, entsprechende Mittel bereitzustellen.

6. Eltern stärken, Öffentlichkeit aufklären

 Gesetzliche Regeln und Empfehlungen sollen sowohl über klassische Printmedien, leicht verständliche Broschüren etc. als auch über ein bundesweites Online-Portal der breiten Bevölkerung vermittelt werden.

 In einer bundesweiten Kampagne sollen größere Neuerungen dieser Regeln und Empfehlungen bekanntgemacht werden.

 Sowohl bei den Vorsorgeuntersuchungen ab U6 als auch im Rahmen der vorschulischen Kinderbetreuung in Kindertageseinrichtungen oder -tagespflege sollen die dortigen Fachkräfte auf den Kinder- und Jugendschutz im Zusammenhang mit der Nutzung digitaler Medien hinweisen. Der Bund soll Mittel bereitstellen, damit ein abgestuftes Informationspaket, das die wesentlichen Risiken sowie Regeln für den Umgang mit Bildschirmmedien benennt, entwickelt und im Rahmen der Gesundheitsprävention flächendeckend verbreitet werden kann.