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Basiswissen

Vernachlässigung

Alltäglicher Überlebenskampf. Vernachlässigung prägt Empfindungen und Entwicklungen und veranlasst das Kind, entsprechend seiner Lebenssituation Strategien des Überlebens zu entwickeln.

fotohilfeplanJunge Kinder sind im extremen Maße auf die Verlässlichkeit und Verständigkeit der sie versorgenden Erwachsenen angewiesen. Der Säugling kann sich nicht selbst helfen. Er kann nicht aufstehen, sich nicht selbst versorgen. Er ist völlig hilflos seinen Eltern "ausgeliefert".

Säuglinge und junge Kinder haben ein sehr begrenztes Zeitempfinden. Sie können noch nicht warten. Eine vergessene Mahlzeit, ein vergessenes Kümmern bringt ihnen tiefe Ängste, immer wieder vergessen versetzt ein Kind in Überlebensangst. Das schwer vernachlässigte Kind empfindet eine existenzielle Bedrohung, es empfindet Todesangst.

Die Erfahrungen der Praxis zeigen, dass etwa zwei Drittel aller Unterbringungen von Kindern durch Vernachlässigung begründet wurde.

Aus der Sicht der Kinder werden vernachlässigende Eltern allen ihren Elternfunktionen nicht gerecht. Vernachlässigende Eltern sind Eltern, die aufgrund eigener Problematik das Kind nicht oder nicht mehr sehen können. Das Kind lebt ohne Regeln, ohne Strukturen, ohne Rituale, ohne Haltepunke in den Tag hinein. Dadurch empfindet es tiefgreifende Verunsicherung und Verlassenheitsgefühle - nichts geschieht immer wieder so, dass es für das Kind vertraulich wird. Es kann sich auf nichts verlassen.

Alltäglicher Überlebenskampf

Fünf bis zehn Prozent aller in Deutschland lebenden Kinder sind von Vernachlässigung betroffen (vgl. Aktueller Begriff der Wissenschaflichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 13.11.07)

Vernachlässigte Kinder sind Kämpfer, sie kämpfen um ihr Leben, um die Bewältigung eines jeden Tages. Sie erleben ihre Mutter, ihren Vater als schwach, unzuverlässig, nicht vertrauenswürdig. Solche Eltern haben wenig Bindung an ihre Kinder, und ihre Kinder haben wenig Bindung an sie. Vernachlässigte Kinder haben keine Veranlassung, Erwachsenen zu vertrauen.

Vernachlässigung prägt Empfindungen und Entwicklungen und veranlasst das Kind, entsprechend seiner Lebenssituation Strategien des Überlebens zu entwickeln.

Bei vernachlässigten Kindern finden wir daher:

  • problematischen Umgang mit Essen: Essen horten; sich Essen beschaffen, auch durch klauen; sich über"fressen"; Essen verweigern; Essen erbetteln bei Nachbarn, Schulkameraden; kein Maß finden usw.
  • ein Grundmangelgefühl - das Kind hat nie das Gefühl genug zu bekommen
  • Wahrnehmungsprobleme mit Zeit und Raum
  • Wahrnehmungsprobleme der Gefühle (auch der Gefühle anderer)
  • Wahrnehmungsprobleme der Sinne (heiß und kalt, Schmerzempfinden)
  • Beziehungsprobleme (kein Vertrauen, eher Misstrauen)
  • Negative Selbsteinschätzung (Selbstwertgefühl)
  • Gefühl: Leben ist Kampf und Erwachsene sind kein Schutz
  • Gefühl, schnell überfordert und den Erwartungen nicht gewachsen zu sein
  • Unfähigkeit an die Veränderbarkeit durch eigenes Handeln zu glauben
  • kein Gefühl für Nähe und Distanz

In Familien, in denen Eltern vernachlässigen, übernimmt meist das älteste Kind die "Versorger-Rolle" und versucht die jüngeren Geschwister - oft auch die Mutter - und sich über Wasser zu halten. Dieses Kind verliert sein eigenes Kindsein und fühlt sich verantwortlich für seine Familie.

Häufig ist Vernachlässigung auch mit vielen Trennungen verbunden. Wenn Mutter den Alltag mit dem Kind nicht geregelt bekommt, wird das Kind innerhalb der Familie "weitergereicht". Oma, Tanten, Freunde versorgen es eine Weile, bis dies letztendlich auch nicht mehr so weitergeht und das Jugendamt sich des Kindes annehmen muss. Aus der Sicht und dem Zeitverständnis des jungen Kindes können in solchen mehrwöchigen oder monatelangen Aufenthalte jedoch schon Bindungen entstanden sein, so dass es durchaus bei Trennungen das Gefühl des Verlassenwerdens erlebt.

Letzte Aktualisierung am: 
15.05.2008